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Ehrverbrechen im kurdischen Nordirak


»Hätte ich sie nicht getötet, so würde ich ständig darauf angesprochen werden, dass ich meine Ehre nicht verteidige und beleidigt werden. Männer umzubringen ist unehrenhaft, Frauen umzubringen ist respektiert.«

Diese Sätze gab ein Mann der Mitarbeiterin eines irakisch-kurdischen Frauenzentrums zu Protokoll nachdem er seine Schwiegertochter ermordet hatte. Gemeinsam mit anderen Männern des Dorfes hatte er sein Opfer, Gulstan, die gerade das Teenageralter überschritten hatte, in die Felder getrieben und ihr dort aus nächster Nähe mit seinem Gewehr ins Gesicht geschossen. Das Gespräch wurde nicht in Untersuchungshaft, sondern im Haus des Mörders aufgezeichnet – denn obwohl er seine Tat nicht zu leugnen sucht, ist er bis heute straffrei geblieben. Der Grund: Gulstan hatte die Familie »entehrt«, weil sie ihrer Zwangsehe zu entfliehen suchte. Angeblich hatte sie auch ein Verhältnis mit einem anderen Mann.


Fälle wie dieser sind nicht selten im Nordirak. Und auch, dass der Täter unbestraft blieb, stellt keine Ausnahme dar, obwohl sogenannte »Verbrechen der Ehre« bereits seit einigen Jahren als illegal betrachtet und im Regelfall auch verfolgt werden.
Etwa 200 Fälle von Morden an Frauen aus Gründen der »Ehre« hat das Frauenzentrum Rewan binnen dreier Jahre alleine für den Großraum Suleymaniah dokumentiert. Frauen und Mädchen wurden erschossen, erdrosselt oder ertränkt, meist, weil ihnen nachgesagt wurde, sexuelle Beziehungen zu Männern unterhalten oder - bspw. durch die Weigerung, eine Zwangsehe einzugehen - die Familienehre verletzt zu haben. Die Dunkelziffer liegt vermutlich wesentlich höher.
Vor allem auf dem Land, wo Stammesbeziehungen und familiäre Abstammung nach wie vor auch eine zentrale ökonomische Bedeutung haben, gelten »Ehrtötungen« als notwendig, um den sozialen Fortbestand der Familie zu sichern. »Gewalt der Ehre« bestraft Frauen und Mädchen nicht nur für selbstgewählte sexuelle Kontakte, sondern sanktioniert eigenständige und unabhängig von der männlich dominierten Familie getroffene Entscheidungen. Typischerweise entspringen die sexuellen Handlungen, derer die Frauen bezichtigt werden, größtenteils der Phantasie der männlichen Täter. Im Zentrum der Konflikte steht daher oft lediglich der Anspruch auf Selbstbestimmung der Opfer, der mit einem engen Moral- und Sittenkodex innerhalb der Familie nicht in Einklang zu bringen ist. Vielfach sind die Opfer Frauen, die sich einer von der Familie arrangierten Ehe verweigern oder aber aus einer Zwangsehe zu fliehen versuchen. Immer wieder erscheint ihnen der Suizid als einzig gangbarer Ausweg aus einem unerträglichen Leben.

18.05.2005 | Iraqi Crisis Report
Killing for Honour

Eine der Hauptursachen der Gewalt liegt in einem gesellschaftlich tief verankerten patriarchalen Ehrenkodex. »Hinter diesem Ehrenkodex steht die in patriarchalischen Gesellschaften verbreitete Auffassung, dass Männer über den Frauen stehen und Frauen als Besitz betrachtet werden. Wird dieser Besitz in irgendeiner Weise 'beschädigt', trifft dies den Besitzer. Der Besitz ist damit wertlos und man muss sich seiner entledigen.« Gleichwohl ist das Phänomen der »Ehrtötungen« nicht einzig kulturell oder rein traditional bedingt. Verelendung, allgemein schlechte Lebensbedingungen und mangelnde Bildung sind wesentliche Faktoren. Hinzu kommt im Irak die vielfältige Erfahrung der Familien mit Gewalt. Zumal im kurdischen Nordirak ist ein hoher Anteil der Familien mit extremen Formen staatlicher Gewalt konfrontiert worden. Krieg, das »Verschwinden« von Angehörigen und Flucht haben den überlebensnotwendigen Zusammenhalt familiärer Bindungen nicht nur gestärkt, sondern diese in gleichem Maße auch zerrüttet. Die Erfahrung einer durch und durch gewalttätigen Gesellschaft unter der Diktatur Saddam Husseins wird regelhaft an die Frauen und Mädchen innerhalb der Familie weitergeleitet. Im Vorfeld der Gewalttaten gegen Frauen stehen daher oft schwere familiäre und psychische Krisen, für deren Bewältigung meist keinerlei Hilfe zur Verfügung steht. Psychische Probleme, zumal bei Frauen, gelten selbst als »unehrenhaft« und werden von der Familie geheimgehalten.


Keine Privatangelegenheit


Männliche Gewalttaten gegen Frauen aus Gründen der »Ehre« sind keine Privatangelegenheit. Wie sehr die scheinbar »privaten« Vorstellungen von Familienehre und Geschlechterrollen von den sozialen und politischen Lebensbedingungen abhängen, zeigt die gravierende Zunahme der »Ehrtötungen« im Irak während der Neunziger Jahre. Mehr als 4.000 Frauen und Mädchen, schätzt UNIFEM, sind während dieser Zeit Ehrtötungen zum Opfer gefallen. Vorausgegangen war ein vom irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein 1990 erlassenes Dekret, das Gewalttaten gegenüber Frauen straffrei stellte, sofern diese zur »Wiederherstellung der persönlichen Ehre« verübt wurden. Die Rolle, die den irakischen Frauen unter dem Ba’thstaat zukam, beschrieb 1991 die staatseigene Zeitung »Al-Jumhurriyah« folgendermaßen: »Jede irakische Mutter muss ihrem Säugling beibringen, wie man schießt, kämpft und heldenhaft stirbt.« In der alltäglichen Praxis hatten Frauen praktisch keinerlei Möglichkeiten, an politischen Entscheidungen zu partizipieren. Im Gegenteil: Obwohl der irakische Staat gerne damit warb, Schutz und Gleichberechtigung von Frauen rechtlich zu garantieren, wurden die Rechte irakischer Frauen stark eingeschränkt. Frauen durften nicht ohne männliche Begleitung das Land verlassen; Vergewaltigungen und Folter weiblicher Angehöriger wurden regelhaft eingesetzt, um Aussagen Inhaftierter zu erpressen; Frauen, der Prostitution beschuldigt, wurden öffentlich enthauptet .
Das Unrechtssystem unter Saddam Hussein hat eine vollständige Verfügungsgewalt der Männer über ihre weiblichen Angehörigen etabliert. Zwangsehen und Genitalverstümmlungen sind in ländlichen Gebieten nach wie vor verbreitet. Frauen werden vielfach daran gehindert, Schulen zu besuchen oder eine Ausbildung zu absolvieren. Über 40 % der irakischen Frauen, schätzt die Weltbank, sind Analphabetinnen. Vor dem Irakkrieg besuchten in den von der Hussein-Regierung kontrollierten Gebieten lediglich 35 % der Mädchen eine Schule. Frauen sind in besonderem Maße auch von der ökonomischen Situation des Landes getroffen. Nur etwa 10 % der Frauen gingen der UN Entwicklungsorganisation UNDP zufolge vor dem Krieg einer »wirtschaftlichen Tätigkeit« nach, während die Zahl der weiblich geführten Haushalte in Folge von Kriegen und Säuberungskampagnen, bei denen Männer verschleppt oder getötet wurden, enorm angestiegen ist (UNDP – Iraq Living Conditions Survey 2004). Der Human Development Report der Vereinten Nationen listete den Irak 2002 auf Platz 126 von insgesamt 174 Staaten ein, was Gleichberechtigung und Frauenrechte betrifft.


Projektarbeit & Erfahrung


WADI

Seit mehr als einem Jahrzehnt arbeitet WADI im Irak in Programmen der solidarischen Entwicklungszusammenarbeit und setzt auf die Förderung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen vor Ort: Mit Projekten für Frauen, Bildungs- und Alphabetisierungsprogrammen, Resozialisierungsprojekten für Strafgefangene, Betreuung von Gewaltopfern, Flüchtlingen und Kindern. Mehr als 5 000 Frauen haben seit Mitte der 90er Jahre die von WADI initiierten Alphabetisierungsklassen im kurdischen Nordirak absolviert. Frauen und Mädchen aus gewalttätigen Familien finden in drei hierfür eingerichteten Zentren Schutz und Betreuung, in ländlichen und traditionell geprägten Regionen werden Frauen darin trainiert, ihre Rechte durchzusetzen.


Krisenzentren


Die praktische Grundlage bilden Zentren für Frauen in Krisensituationen: Einrichtungen, die dem Schutz bedrohter Frauen, der Betreuung von weiblichen Gewaltopfern, der Unterstützung von Frauen in psychischen und sozialen Krisen und der Versorgung schutzbedürftiger Angehöriger (zumeist Kinder) dienen. Derzeit werden im Nordirak zwei dieser Krisenzentren gefördert, die mit der Hilfe von WADI eingerichtet wurden. In den Krisenzentren werden Frauen, die vor der Gewalt männlicher Angehöriger fliehen, untergebracht. In besonders gravierenden Fällen, in denen mit einer weiteren massiven Verfolgung der Frauen gerechnet werden muss, werden diese in andere Landesteile weitervermittelt, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. In den Zentren erhalten Frauen psychologische und sozialarbeiterische Betreuung, Workshops und Ausbildungskurse werden angeboten. Ein Mediationsprogramm versucht die Konflikte innerhalb der Familien zu schlichten oder nach Alternativen zu suchen (wie bspw. die Aufnahme der Frau durch andere Teile der Familie), um langfristig eine Rückkehr der Frauen in ein normales Leben außerhalb von Schutzhäusern möglich zu machen.

Die Zentren wurden in enger Kooperation mit lokalen Fraueninitiativen eingerichtet und von den lokalen Behörden unterstützt. Die Einrichtungen werden von den Mitarbeiterinnen selbstständig geleitet. Lokale Frauenorganisationen bilden einen Beirat, der die Arbeit begleitet und der die Geschäftsführungen berät. WADI übernimmt neben der finanziellen Förderung das sog. Monitoring, also die Überprüfung der Projektumsetzung, um zu gewährleisten, dass die zur Verfügung gestellten Mittel effektiv eingesetzt werden. Darüber hinaus stellt WADI einen Teil der Gehälter sowie die logistische Infrastruktur (Fahrzeuge, Büros).
In den Krisenzentren »NAWA« (Suleymaniah) – eröffnet 1999 – und »Khanzad-Home« (Arbil) wurden bislang rund 800 Frauen betreut. Seit dem Sturz der Regierung Saddam Husseins sind darunter immer mehr Frauen aus dem arabischen Zentral- und Südirak.


Fälle aus einem der Krisenzentren


F., 22 Jahre alt, stammt aus Qala Dize. Sie war die erste Frau, die Hilfe im Khanzad Home (Arbil) fand. F. hat eine vierjährige Tochter, die mit ihr im Zentrum lebt. Seit fünf Jahren sind die beiden auf der Flucht vor männlichen Angehörigen, die sie ermorden wollen. F.s Leidensgeschichte beginnt 1997. Damals war sie 16 Jahre alt und ihr älterer Bruder heiratete ein Mädchen aus der Nachbarschaft. F. war Teil der Abmachung, die über die Hochzeit getroffen wurde. Sie wurde gezwungen, den beinahe 60jährigen Onkel ihrer neuen Schwägerin zu heiraten. Als ihr Ehemann nach der Geburt einer Tochter (statt eines Sohnes) begann, sie zu prügeln und zu quälen, lief sie davon. Als Vergeltung für diese »Schande« versuchte ihr Bruder sie zu ermorden. F. floh vor ihrem Bruder nach Arbil. Drei Jahre lebte sie mit ihrer Tochter im Gefängnis, wo sie zum Schutz vor Angriffen untergebracht wurde. Seit Sommer 2002 befindet sie sich in der Obhut des Khanzad Home. Khanzad verhandelt seitdem mit der Familie – ohne Erfolg. Der Ehemann weigert sich, in eine Scheidung einzuwilligen, der Bruder hält an seinen Mordplänen fest. Mit Unterstützung einer Anwältin sucht F. jetzt die Scheidung auf dem Klageweg zu erzwingen. Die Chancen stehen gut, dass das Gericht in Arbil ihr Recht geben wird. Danach wird versucht, F. und ihrer Tochter in einem anderen Landesteil ein neues Leben zu ermöglichen.

C. 23 Jahre. Sie wuchs auf in einem Dorf nahe der Stadt Rania. Im Januar 2003 kam C. ins Khanzad Home nachdem sie acht Monate im Gefängnis versteckt wurde. Im Juni 2002 wurde C. zu Hause von einem Bekannten ihres Vaters überfallen, geschlagen und vergewaltigt. C überlebte nur mit knapper Not. In den Augen ihrer männlichen Angehörigen ist C. durch die Vergewaltigung »entehrt«. Um die Familien»ehre« wiederherzustellen, beschlossen Vater und Bruder, sie zu töten. Eine Nachbarin half C. zu fliehen und sorgte dafür, dass sie im Frauengefängnis von Suleymaniah in Schutz gebracht wurde. Im Januar 2003 wurde C. ins Khanzad Home gebracht. Nach langen Verhandlungen mit der Familie hat diese von ihren Morddrohungen abgelassen – bis auf einen Onkel, der sich eine finanzielle Entschädigung für diese »Generosität« verspricht. Mit Hilfe von Khanzad wurde ein Strafverfahren gegen ihren Angreifer eingeleitet. C. bleibt vorerst im Khanzad Home.


Aufsuchende Betreuung


Im direkten Anschluss an den Krieg wurden von WADI sog. »Mobile Teams« ins Leben gerufen, deren Aufgabe war, Frauen, die sich auf der Flucht vor Kampfhandlungen befanden oder von kriegerischer Gewalt direkt betroffen waren, zu unterstützen. Diese Teams mussten mobil sein, um Frauen in der akuten Notsituation zu erreichen. Die Teams, zusammengesetzt aus einer Ärztin und zwei Sozialarbeiterinnen, stellten schnell fest, dass ihre Arbeit auch über die Versorgung geflohener Frauen hinaus wichtig ist.

Angebunden an die Frauenzentren und Schutzhäuser NAWA und Khanzad leisten die Teams medizinische Erste Hilfe und Gesundheitsberatung, eine weibliche Ärztin berät die Frauen und bietet ambulante Untersuchungen an; Sozialarbeiterinnen stehen als Beraterinnen bei familiären Problemen und Problemen der Kindererziehung zur Verfügung und klären Frauen und Kinder über ihre Rechte auf. Frauen, die schwer krank sind werden in die lokalen Krankenhäuser überführt und an besonders bedürftige Familien Milchpulver, Decken, Kinderkleider oder Spielzeug verteilt. Über 15 000 Frauen und Kindern wurde auf diese Weise bereits direkt geholfen.
In vielen völlig abgelegenen Dörfern, die weder über eine Schule noch eine Krankenstation verfügen, sind die Mobilen Teams oft die einzigen, die konkrete Hilfe anbieten. Aber auch in armen Stadtvierteln in Kirkuk und Mosul sind sie zu einer wichtigen Ergänzung der medizinischen und sozialen Infrastruktur geworden.
Über die Mobilen Teams sind die Mitarbeiterinnen von WADI 2004 erstmals auch darauf aufmerksam geworden, dass weibliche Genitalverstümmlungen (FGM) in ländlichen Gebieten des Nordirak praktiziert wird. Gemeinsam mit der Universität Bagdad, der Universität Suleymaniah und amerikanischen Partneruniversitäten führt WADI derzeit eine detaillierte Studie über die praktizierte Genitalverstümmlung in der gesamten nordirakischen Region durch.


Bildung


Eine Verbesserung der Situation von Frauen setzt zugleich voraus, dass der soziale Status von Frauen gehoben und ihnen eine aktive gesellschaftliche Partizipation ermöglicht werden muss. Die Basis dafür ist das grundlegende Recht auf Bildung, ohne das Frauen der Zugang zu allen Bereichen öffentlichen Lebens verwehrt bleibt. Seit zehn Jahren unterstützt WADI deshalb die Alphabetisierung von Frauen. Innerhalb der Frauenzentren, die in verschiedenen Städten entstanden sind, finden Kurse über soziale Fragen, Fragen der Gesundheitsvorsorge und Familienplanung und über die Rechte von Frauen (auch im Islam) statt. Aber auch Trainingskurse, in denen der Umgang mit Computer und Internet erlernt wird. WADI hat Bibliotheken und Internetcafés für Frauen in den Zentren eingerichtet.
In der Region Hauraman unterstützt WADI die Einrichtung eines lokalen Radiosenders, der noch in diesem Frühjahr mit je einem Programm für Frauen und für Jugendliche auf Sendung geht.

Selbstbewusste Frauen und Mädchen, die lesen und schreiben können und ihre Rechte kennen, Kinder und Jugendliche, die Bildung und Fürsorge statt Indoktrination und Frustration erfahren, sind die wirkungsvollste »Waffe« gegen Gewalt und Diskriminierung.

Update:

Alle Frauenschutzhäuser/Krisenzentren sind inzwischen als erfolgreiche Projekte dem Ministerium für Soziales der kurdischen Regionalregierung übergeben worden. Dauerhaft ist es aus Sicherheitsgründen immer angebracht, solche Schutzhäuser unter staatlicher Ägide zu betreiben.

WADI steht mit einigen Häusern noch immer in Kooperation.

 


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