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Kampagne gegen FGM in Irakisch-Kurdistan

Aufklärung und Hilfe für Opfer weiblicher Genitalverstümmelung


Spätsommer 2004: Ein Tabu brechen

Seit 2003 betreuen Mobile Soziale Teams, bestehend aus einer Sozialarbeiterin und einer Ärztin entlegene Dörfer in der Region Germian. Mit dem wachsenden Vertrauen, das zwischen den Dorfbewohnerinnen und den Mitarbeitern des Teams entstand, erfuhren sie in immer mehr Dörfern, dass viele Frauen und Mädchen beschnitten worden sind und wie sie unter der traumatischen Erfahrung leiden. Bei offiziellen Nachfragen wurde dagegen Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genitale Mutilation (FGM) von den Behörden als „in Kurdistan nicht existent“ abgetan. Die Gespräche mit den Dorfbewohnerinnen lehrten die Mitarbeiterinnen der Teams jedoch etwas anderes und sensibilisierten sie für die schwerwiegenden psychischen, physischen und auch sozialen Folgen, die dieses traumatische Erlebnis im Kindesalter für die Frauen hat. Sie beschlossen, das Schweigen zu brechen und entwarfen zusammen mit den Mitarbeitern in Suleymaniah, Arbil und Kifri ein Aufklärungsprogramm gegen FGM.

Oktober 2004-Dezember 2004: Recherche und Aufklärung

Daraufhin begann das Team mit gezielten Nachforschungen. Eine erste Datenerhebung wurde in Garmyan durchgeführt. Am Ende des Untersuchungszeitraums konnte ein erschütterndes Ergebnis festgehalten werden: Von 1544 befragten Frauen und Mädchen waren 907 Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung.
Gleichzeitig wurde mit den Frauen und Mädchen über ihre persönlichen Erfahrungen gesprochen und über die Gefahren und Folgen von FGM aufgeklärt. Für viele Dorfbewohnerinnen war es das erste Mal, dass sie offen ihre Situation schildern konnten. Viele klagten über die Unfähigkeit, Vertrauen zu anderen Menschen zu fassen, Gefühlskälte, besonders ihrem Ehemann gegenüber und auch permanente Schmerzen. Viele Frauen hörten zum ersten Mal, dass nicht jede Muslimin beschnitten ist und dass es in anderen Ländern Kampagnen gegen die Praxis von FGM gibt. Es kam zu heftigen Diskussionen innerhalb der Dorfgemeinschaften, ob FGM trotz alledem eine vom Islam geforderte Handlung sei oder nicht.

Durch das große Interesse und dem Wunsch der Frauen, besser über FGM aufgeklärt zu werden, wurden die Mitarbeiterinnen der Teams ermutigt, dieser Praxis entschiedener entgegenzutreten. Ein eigenes Team, das sich nur mit der Aufklärung über FGM befasst, wurde zusammengestellt.
Dies war ein großer Schritt, der nur durch das unerschrockene Engagement der lokalen Mitarbeiter (entgegen aller Warnungen, lieber nicht das Tabu zu brechen), die tägliche Praxis Weiblicher Genitalverstümmelung öffentlich zu machen, möglich war. Hier wurde einmal mehr deutlich, dass sich trotz aller Schwierigkeiten die Rahmenbedingungen geändert hatten: erst die Befreiung des Nordirak vom Baath-Regime hatte die Entstehung rudimentärer zivilgesellschaftlicher Strukturen und somit auch die Möglichkeit des zivilen Protestes geschaffen.

Frühjahr bis Sommer 2005: Aufklärung und Unterstützung

Immer deutlicher wurde im Verlauf der Arbeit die weite Verbreitung von FGM und die Notwendigkeit darüber aufzuklären und die Opfer zu unterstützen. Mit der Hilfe des Filmemachers Nabaz Ahmad und unter großer Beteiligung der lokalen weiblichen Bevölkerung wurde im Frühjahr ein Aufklärungsfilm über FGM gedreht. In dem Film, der FGM aus der Sicht der betroffenen Frauen behandelt, berichteten Frauen von ihren persönlichen Erfahrungen, den lebenslangen Folgen die die Verstümmelung für die hatte. Eine Ärztin klärt über die allgemeinen medizinischen und psychologischen Folgen auf, zwei Mullahs unterstreichen, dass FGM nur fälschlicherweise mit dem Islam begründet wird und nicht von diesem vorgeschrieben wird.
Der Film wird der weiblichen Bevölkerung in den Dörfern vorgeführt und ermutigt sie, selbst über ihre Erfahrungen und das Thema zu diskutieren. Die Mitarbeiterinnen des mobilen Teams begleiten die Diskussion, informieren die Frauen und ermutigen sie, offen über FGM und die Folgen zu sprechen, da nur so langfristig eine Ächtung der Praxis erreicht werden kann.

Herbst 2005 bis Winter 2006: Die Intensivierung der Kampagne

Seitdem die Praxis von FGM in Germian öffentlich wurde, erreichten uns immer mehr Informationen, dass auch in anderen Regionen Kurdistans FGM praktiziert werde. Seit Herbst 2005 unterstützt WADI deshalb weitere FGM-Teams im Raum Erbil, Kirkuk und Suleymania. Sie mussten feststellen, dass FGM auch hier i. A. weit verbreitet ist.
Zugleich wurde mit der wissenschaftlichen Datenerhebung begonnen, denn eines der grundlegenden Probleme beim Kampf gegen FGM ist die bisherige Tabuisierung des Themas und das daraus resultierende Fehlen jeglicher Statistiken und Daten.

Im Februar 2005 eröffnete die Leiterin des Büros WADI Erbil, Cheman Abdullah Rashid, die erste kurdische Konferenz gegen FGM in Erbil. Zum ersten Mal trafen sich Mitglieder lokaler NGOs und kurdische Parlamentsmitglieder, um über FGM in Kurdistan zu sprechen und die Aktivitäten zu vernetzen. Dies wäre noch ein Jahr zuvor völlig undenkbar gewesen.
Eine weitere Konferenz zur Vernetzung von lokalen Frauen- und Menschenrechtsorganisationen zum Thema FGM wurde 2006 abgehalten, u. a. mit dem Ergebnis, eine Expert/innen-Kommission zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs für die Ächtung von FGM ins Leben zu rufen, der im Frühjahr 2007 in Form einer Empfehlung vollendet wurde.

Frühjahr 2007: Stop FGM Kurdistan

In allen großen kurdischen Zeitungen wurden zum internationalen Frauentag 2007 ganzseitige Anzeigen mit einem offenen Brief geschaltet, der binnen kurzer Zeit mehr als 13.000 Unterzeichner/innen fand - unter ihnen viele prominente Künstler/innen, Schauspieler/innen, Schriftsteller/innen und Journalisten/innen der Region. Die Petition und Unterschriftenliste wurden der kurdischen Regionalregierung im April 2007 überreicht. Auf der Internet-Seite der Kampagne „Stop FGM Kurdistan“ findet der Besucher den vollständigen Petitionstext auf kurdisch, arabisch, persisch, türkisch, englisch, französisch, deutsch und holländisch.

Anfang April 2007 fand in Erbil eine weitere Expert/innen-Konferenz zu FGM statt, an der neben lokalen Aktivistinnen, Ärztinnen und Juristinnen auch Vertreter/innen der zuständigen Ministerien der kurdischen Regionalregierung teilnahmen. Die Konferenz hat einen Gesetzentwurf in Form einer Empfehlung ausgearbeitet, der u. a. das Verbot gewerblicher Beschneidungen vorsieht, die Durchführung von FGM generell unter Strafe stellt, einen besonderen Schutz von Kindern und Minderjährigen regelt, eine Meldepflicht für Krankenhäuser und soziale Einrichtungen empfiehlt sowie die Einrichtung einer Sonderstaatsanwaltschaft, die sich generell um Straftaten gegen das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Mädchen kümmern soll, vorsieht.
Eine irakische Expert/innengruppe aus Mitgliedern verschiedener NGOs und Jurist/innen übergab im April 2007 die Empfehlungen für ein Gesetz gegen FGM an die kurdische Regionalregierung.

Zur Sensibilisierung der europäischen Öffentlichkeit für die Problematik von FGM in Irakisch-Kurdistan drehte der Filmemacher Nabaz Ahmad einen Dokumentarfilm, in dem kurdische Frauen eindringlich ihre Erfahrungen schildern. Der Film wird in diesem Jahr auf verschieden Filmfestivals vorgeführt und soll später nach Möglichkeit auch im Fernsehen gezeigt werden.

 


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