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Vier Interviews über "Female Genitale Mutilation"

Genitalverstümmelung an Frauen im Nordirak
"Ist es denn möglich, dass wir all die Jahre für ein freies Kurdistan gekämpft haben und jetzt sind wir Frauen nicht frei? Was für eine Freiheit ist das?" - ein Interview mit Runak Faraj (Aug. 2005)

"Bildung und Aufklärung sind der einzige Weg"
Interview mit Trifa Ali (Aug. 2005)

"FGM is killing a woman"
Interview mit Nias M. (Juli 2005)

Warum ist ein groß angelegtes Research zum Thema FGM im Nordirak dringend notwendig?
Ein Interview mit Awat Mohammad (Juli 2005)

"FGM is killing a woman"

Interview mit Nias M.

Nias M. wurde 1979 in Suleymaniah / Nordirak geboren. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Grundschullehrerin. Seit 3 Jahren ist sie am College of sociology der Universität Suleymaniah tätig und gab eine Studie zum Thema Selbstverbrennung von Frauen im Nordirak heraus.

Sie gehört damit zu der Schicht junger Frauen, die alten Traditionen kritisch gegenüber stehen und die für eine weit reichende Emanzipation der Frauen kämpfen.

Als ehemalige Studentin der Universität Suleymaniah gehört sie gleichzeitig zur der Gruppe junger Frauen, die am ehesten die Möglichkeit haben, sich kritisch mit diesem Thema auseinander zu setzen. Suleymaniah hat den Ruf, eine fortschrittliche und westlich beeinflusste Stadt zu sein, in der Frauen mehr Freiheiten haben als in anderen nordirakischen Städten. Dies hängt eng damit zusammen, dass in der ehemalige „ Intellektuellenstadt“ Suleymaniah die meisten Großfamilien Verwandte in Europa oder Amerika haben. Im Sommer sind in Suleymaniah vereinzelt junge Frauen in knielangen Röcken anzutreffen und ein Schwimmbad bietet neuerdings 2 Stunden täglich Frauenschwimmen an. So verhältnismäßig modern Suleymaniah auch auf den ersten Blick wirken mag, so traditionell und diskriminierend bleibt die Situation für viele Frauen und Mädchen. FGM existiert auch in Suleymaniah und weiterhin müssen 4-12-jährige Mädchen diese extrem schmerzhafte, gefährliche und menschenverachtende Verstümmelung über sich ergehen lassen. Bisher gibt es sehr wenige Studien zum Thema FGM. Runak Faraj, Leiterin der Frauenzeitung REWAN gibt in ihrer Stichprobenuntersuchung an, dass im Jahre 2002 in den einfacheren und ärmeren Vierteln der Stadt Suleymaniah 20 % der 4- 10-jährigen Mädchen Opfer der Klitoris-und Schamlippenamputation geworden waren, während es in den Mittelklassevierteln etwa 5 % waren. Diese Ziffern beziehen sich ausschließlich Neufälle bei Mädchen zwischen 4-11 Jahren, die im Jahr 2002 Opfer von FGM wurden. In der nordirakischen Hauptstadt Erbil betrug die Rate bei 4-10-jährigen Mädchen in den gebildeten Vierteln

25 %. FGM bleibt weiterhin ein Thema, über das in der kurdischen Gesellschaft nicht gesprochen wird. Und doch ist der Gesprächsbedarf bei vielen jungen Frauen inzwischen groß.

Wadi: Wie würdest Du FGM definieren?

N.M: „ It is killing a woman“

Wadi: Die Folgen von FGM sind sehr gefährlich und führen häufig zum Tod oder zu lebenslangen psychischen und körperlichen Beschwerden. Warum wird FGM deiner Meinung nach weiterhin in Irakisch–Kurdistan durchgeführt?

N.M.: Unser größtes Problem ist die Unwissenheit. Viele Menschen hier sind Analphabeten und waren nur sehr kurz oder überhaupt nicht in der Schule. Außerdem ist Sexualität in unserer Gesellschaft ein absolutes Tabuthema. Wir sprechen nicht darüber. Ich denke, FGM kommt ursprünglich vor allem daher, dass die Männer die Frauen kontrollieren möchten.

Verschiedene Gründe sind anzuführen, wobei man zwischen den Städten und den ländlichen Gebieten unterscheiden muss.

Auf dem Land, wo Mädchen in der Regel überhaupt nicht zur Schule gehen und die Jungen höchstens bis zur 5. Klasse, ist die Unwissenheit das größte Problem. Die Menschen leben nach Traditionen und Religion. Unsere Vorfahren haben außerdem den Islam falsch ausgelegt. Sie haben FGM einfach übernommen ohne das zu hinterfragen oder nachzufragen, wo das eigentlich steht. Im Koran steht nämlich nicht, dass Frauen beschnitten werden sollen. Aber das wissen die Leute auf dem Land nicht. Für sie ist FGM Tradition geworden. Daher sagt man dort, - und auch teilweise in der Stadt-, dass die Klitoris haram ist ( haram wird im Islam alles bezeichnet, dass schmutzig, schlecht und gegen die Religion ist). Man sagt, Frauen, die ihre Klitoris besitzen, haben einen schlechten Charakter. Man sagt, sie würden fremdgehen und sie würden ihre Ehemänner mit einem nymphomanen Sextrieb ermüden. Und die Männer hier haben sehr viel Angst davor, von ihren Frauen betrogen zu werden. Außerdem sagt man, unbeschnittene Frauen könnten nicht kochen. In der Tat dürfen sie auch nicht kochen und noch nicht einmal Wasser reichen, da sie als schmutzig betrachtet werden.

Das alles hängt mit dem Bildungsniveau zusammen.

Auch in Suleymaniah gibt es FGM, denn es wird als Tradition betrachtet und Traditionen dürfen nicht in Frage gestellt werden. Tradition ist sehr wichtig für die kurdische Identität, denn wir haben unter Saddam sehr gelitten.

Wadi: Der Mufti von Suleymaniah hat kürzlich eine Fatwa gegen FGM erlassen. Denkst Du, dass dies dazu beiträgt, FGM zu verringern?

N.M.: Wer hat eine Fatwa erlassen? Diese Fatwa kennt hier niemand. Ich kenne sie auch nicht und ich wohne in Suleymaniah. Ich glaube das erst, wenn ich sie gesehen habe.

Wadi: Lass uns über die Verantwortlichen von FGM sprechen. Du hast gesagt, FGM käme daher, dass Männer ihre Frauen kontrollieren wollen. Es sind aber die Frauen, die FGM an ihren eigenen Töchtern und Nichten durchführen. Warum tun sie ihren Töchtern dasselbe an, das sie selbst durchmachen mussten und dessen schwerwiegende Folgen sie kennen?

N.M.: Ja, es sind die Frauen aus der eigenen Familie, die FGM durchführen, aber erstens wissen sie meist gar nicht, dass die Schmerzen und Eheprobleme, die sie haben, von FGM kommen und zweitens machen die Frauen das nur wegen den Männern. Sie möchten einen Konflikt in der Familie vermeiden.

Es stimmt nicht, dass kurdische Frauen frei sind. Frauen haben in dieser Gesellschaft überhaupt keine Freiheiten. Außerdem kann man sowieso nicht sagen, dass es „ die kurdischen Frauen“ gibt, denn eine Frau im Dorf ist in ihren Möglichkeiten noch viel beschränkter wie eine Frau in Suleymaniah.

Alle Frauen wissen, dass es eine rote Linie gibt, die nicht überschritten werden darf. Freiheit kann es, wenn überhaupt, nur innerhalb dieser Linie geben. Die Frauen wissen ganz genau, dass es gewisse Traditionen und Regeln gibt, die sie einhalten müssen, ohne das ihr Ehemann sie ausspricht. Frauen sind in der kurdischen Gesellschaft dafür verantwortlich, Traditionen an ihre Kinder weiterzugeben. Sie wissen ganz genau, dass von ihnen erwartet wird, ihre Töchter zu beschneiden. Leider zeigen die Frauen oft selbst genau die Schwäche, die die Gesellschaft ihnen unterstellt, indem sie sich dm gesellschaftlichen Druck bedingungslos fügen.

Wadi: Aber wollen das die jungen Männer von heute wirklich?

N.M.: Die zukünftigen Männer der Mädchen, die heute noch verstümmelt werden, wissen das meistens überhaupt nicht und werde es erst bei ihrer eigenen Hochzeit erfahren.

Die Männer, die heute in meinem Alter sind, haben Angst, die Kontrolle zu verlieren. Sie denken, dass sie die Kontrolle völlig verlieren würden, wenn sie den Frauen eine Chance geben würden. Die Männer von hier sagen: „Frauen haben ihr Gehirn zwischen den Beinen.“

Wadi: Was denkt deiner Meinung nach die Generation der jungen Frauen in deinem Alter in Suleymaniah heute darüber?

N.M.: Ich bin sicher, in Suleymaniah sind alle dagegen. In der Vergangenheit ließen sich die Mädchen noch überzeugen, dass es gut für sie sei, sich auf diese Art und Weise kalt stellen zulassen. Aber ich bin sicher, dass heute alle, die das durchmachen mussten gegen FGM sind.

Wadi: Heißt das, dass Hoffnung besteht und FGM in einigen Jahren im Nordirak nicht mehr existieren wird?

N.M.: Nein, so einfach ist das nicht. Viele Mädchen auf den Dörfern wissen bis heute nicht, dass FGM etwas Schlechtes ist und dass der Koran FGM nicht vorschreibt. Es wird viel Aufklärung nötig sein, um diese furchtbare Praxis zu vertreiben.

Auch die Frauen in meinem Alter in Suleymaniah sind nicht frei. Wir müssen tun, was die Gesellschaft und die Männer wollen. Nach der Hochzeit muss die Frau ihrem Mann gehorchen. Wenn du verheiratet bist, bist du in einer extrem schwachen Position. Jeglicher Widerstand ist sehr gefährlich und kann tödlich sein.

Meine Freundin von mir war technische Assistentin in Suleymaniah bevor sie heiratete. Sie kommt aus einer gebildeten Mittelschicht und wurde deshalb als kleines Mädchen nicht beschnitten. Ihr Mann, ein Kurde 25-jaehriger aus Suleymaniah, der als Asylbewerber nach Europa gegangen war, war in seine Heimat zurückgekommen, um eine gute Frau auszuwählen, die er nach der Hochzeit mit nach Europa nehmen konnte. Bevor meine Freundin mit ihrem neuen Ehemann nach Europa ging, musste sie seinem Willen gehorchen und sich beschneiden lassen. Sie erklärte mir, dass er sie dazu gezwungen habe, weil er Angst hatte, sie würde in Europa fremdgehen. Diese Meinung ist hier sehr weit verbreitet. Unsere Männer denken nur an sich. Und später beschweren sie sich. Meine Freundin musste sich in einem Krankenhaus im Jahr 2003 in Suleymaniah beschneiden lassen und danach warf ihr Mann ihr vor, dass sie nun so kalt und frigide sei. Ich habe auch von anderen jungen Frauen gehört, die sich auf Wunsch ihres Ehemannes aus Europa beschneiden lassen mussten. Das ist ein neues Problem, das zu dem alten hinzukommt.

Wadi: Welche Möglichkeiten gibt es deiner Meinung nach, um zu verhindern, dass noch mehr Mädchen Opfer von FGM werden?

N. M.: Die einzige Lösung ist Bildung.

Ich denke das Problem beginnt bereits beim Thema Sexualität allgemein. In unserer Gesellschaft wird überhaupt nicht darüber gesprochen, wir Jugendlichen haben sozusagen alle nicht einen blassen Schimmer. Außer an der Universität hat man keine Gelegenheit in irgendeiner Weise überhaupt nur mit dem anderen Geschlecht auch nur im Entferntesten in Kontakt zu kommen. Die Eltern klären ihre Kinder nicht auf. In Suleymaniah kaufen sich die jungen Männer Sexvideos aus Europa. Sie klären dann später ihre Ehefrauen auf. Liebe und Beziehung ist hier ein rein sexuelles, mechanisches Thema. Für Gefühle ist kein Platz. Die jungen Ehefrauen sind ihren Ehemännern sowohl körperlich als auch gesundheitlich und seelisch völlig ausgeliefert.

Ein erster Schritt wäre deshalb, ab der Grundschule Aufklärung in den Unterricht einzuführen. Von da aus kann man dann den Schülern über FGM erzählen.

Ich wünsche mir außerdem Seminare für Frauen UND Männer and der Universität und in den Dörfern. Besonders in den Dörfern sollte man auch die ältere Generation mit in die Aufklärung einbeziehen, denn sie haben gerade dort meist großen Einfluss.

FGM muss in den Medien thematisiert werden. Wenn die Leute darüber im Radio und Fernsehen hören, beginnen sie, darüber nachzudenken. Außerdem sollte es ein großes Forschungsprojekt zu diesem Thema geben.

Wadi: Warum hältst du dieses Forschungsprojekt für so wichtig?

N.M.: Wir brauchen eine groß angelegte Research, um zunächst einmal Daten zu erheben. FGM war bis vor kurzem ein absolutes Tabuthema und ist es im Großteil der kurdischen Bevölkerung immer noch. Man muss zuerst Daten für den Nordirak erheben, denn die regionalen und sozialen Unterschiede sind groß. Man darf dabei nicht pauschal die Ergebnisse aus Afrika auf die kurdische Gesellschaft übertragen. Die Research wird es ermöglichen, gezielt gegen falsche Vorstellungen von FGM vorzugehen. Wir wollen FGM nicht mehr.

Irakisch-Kurdistan, 27. Juli 2005


Das Interview führte Sandra Strobel, Mitarbeiterin von Wadi e. V.


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