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"Die Forderung, die Illusion über einen Zustand aufzugeben,
ist die Forderung,einen Zustand aufzugeben,
der Illusionen bedarf"

Karl Marx

Rundbrief 2/ 98

Sehr geehrte Spenderinnen und Spender,
liebe Freundinnen und Freunde,

 

es scheint, als habe sich knapp zehn Jahre nach dem Ende der Nachkriegsordnung die alltägliche Realität den Begriffen angepaßt, die den Wandel kennzeichneten, der mit dem Verschwinden der Sowjetunion aus der Weltpolitik einsetzen sollte. Das Wort vom "Ende der Geschichte", dem eine Neue Weltordnung folgen werde, hat inzwischen sich als Inbegriff lähmender Stagnation weltweit Gültigkeit verschafft. Denn mit dem Wegfall der grundsätzlichen Systemalternative scheinen auch jene Akteure verschwunden zu sein, die Geschichte als eine von Menschen gemachte und zu machende zu begreifen versuchten. Als wäre der Beschluß gefaßt worden, alle Anstrengungen, die Welt zu verändern, sein zu lassen, wird mit resignativer Gleichgültigkeit aufgenommen, was zu Zeiten des Kalten Krieges noch eine beinahe subversive Erkenntnis war: Daß die Zahl der Länder und Regionen, deren Bevölkerung unter Armut, Hunger, Krieg und Diktatur leiden, jährlich neu einen historischen Höhepunkt erreicht, während der weltweit geschöpfte Reichtum so groß ist wie niemals zuvor. Eine Erkenntnis, die der im Oktober veröffentlichte Bericht der UN-Entwicklungsbehörde UNDP für 1998 in nüchternen Zahlen wiedergibt: 1,5 Milliarden Menschen verdienen weltweit täglich wenger als 1$, in Südasien ist die Hälfte aller Kinder chronisch unterernährt, 70% aller Frauen in der "Dritten Welt" werden als Analphabeten eingestuft. So muß am Ende des 20.Jahrhunderts mehr als zwei Dritteln der Menschheit noch die einzige wirklich sichere Allgemeinaussage über Geschichte mehr als Drohung denn als Trost erscheinen, nämlich jene, daß sie, solange es die Menschheit gibt, weitergehen wird..

Die Illusionen, die in Ost und West schon aus Gründen des psychischen Selbsterhalts erzeugt wurden, gaben jenen wenigstens Hoffnung, denen nichts anderes blieb: Eines Tages - für die nachfolgenden Generationen wenigstens - würde sich die gesellschaftliche Ordnung zu ihren Gunsten verändern. In den 90er Jahren nun geht Marx Diktum, es gelte, nicht die Illusionen, sondern die Zustände, die ihrer bedürfen, abzuschaffen, scheinbar als ein auf den Kopf gestelltes auf: Der weltweite Zustand, den die UN einmal im Jahr in Zahlen ausdrückt, bleibt bestehen; liquidiert allerdings wurden die von ihm genährten Illusionen, die - nach Marx - konstitutiv aus ihm, dem falschen Ganzen, erzeugt wurden. Zu ihnen rechnen sicherlich sich auch alle Appelle an Humanität und zumindest partielle In-Recht-Setzung jener, die qua Geburt nicht zu den Happy Few gehörten. Dennoch bleibt wenig mehr, als an jenen Illusionen festzuhalten, die, wenn auch verzerrt, die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft widerspiegelten und, wenn auch ohne praktische Konsequenz, die Idee am Leben erhielten, die Menschheit könne als freie und gleiche sich konstituieren.

So war die Nachkriegswelt noch gekennzeichnet vom Einschluß der Menschen in zwei umfassende, für jeweils die Hälfte der Welt geltende Wirtschaftssysteme und Nomenklaturen, deren die eine wirtschaftliche, die andere soziale Befreiung versprach. "Wie der Theologe, der die religiösen Vorstellungen beständig menschlich interpretiert und eben dadurch gegen seine Grundvoraussetzung, die Übermenschlichkeit der Religion, beständig verstößt"(Karl Marx), litten sie unter dem Widerspruch, die geltenden Verhältnisse für menschliche und gültige als von ihnen geschaffene hinzunehmen und sie zugleich mit dem latenten Versprechen ihrer Überwindung zu negieren. So lange der jeweilige Konterpart der weltweiten Umsetzung des Versprechens im Wege stand, schien der Widerspruch erträglich, weil er innerhalb eines Menschenlebens lösbar war: Denn um Reichtum und wirtschaftliche Freiheit zu erlangen, mußte nur der Sozialismus beseitigt, für die soziale Befreiung lediglich Revolution gemacht werden. Seit letztere Möglichkeit vorläufig von der Tagesordnung gestrichen wurde, krankt die erste immer mehr unter der Uneinlösbarkeit ihrer Versprechen. Ein Versuch, dieses Problem zu beseitigen, besteht nun darin, auf die Illusion ihrer weltweiten Umsetzbarkeit zu verzichten. Die Volkswirtschaften der sogenannten Dritte-Welt-Länder werden endgültig vom Markt abgekoppelt und ihre billigen Rohstoffe und Arbeitskräfte in Freihandels- oder Free-Investment Zonen noch billiger ausgeplündert, während sich die wirtschaftlichen Zentren immer wirksamer nach Außen abschotten. Eine andere mögliche Reaktiondie von den Taliban-Milizen umgesetzt wird, erscheint vor diesem Hintergrund kaum wenigerplausibel: Aus der Erkenntnis heraus, daß die Neue Weltordnung wesentlich nichts anderes zu bieten hat, als jene der alten Welt, allerdings ohne eine greifbare Alternative, haben sie Politik wieder gegen Theologie eingetauscht, die Freiheit und Glück im Jenseits wenigstens zu versprechen vermag. Beide belegen nur einmal mehr, daß das Reich der Ideen Spiegel der bestehenden Verhältnisse ist, sie spiegeln einen Zustand so wie die bürgerlichen Freiheitsrechte das liberal-kapitalistische Zeitalter spiegelten, in dem Marx zu schreiben das Glück hatte.

Der Fortfall dieses "schönen Scheins", den zu beklagen heute Teil von Kritik am Bestehenden sein muß, eröffnet zugleich aber den Blick auf die Lebensbedingungen jener, die längst abgekoppelt und -geschrieben, die weder ökonomisch verwertbar noch als exotische Träger von Weltverbessungsideologien nutzbar zu machen sind. Neue Sprachregelungen, wie der in der Entwicklungspolitik geläufige Begriff der Abkopplung von der "Ersten Welt" oder die soziologische Wendung vom Ausschluß (von Wohlstand und Rechten), müssen vor diesem Hintergrund selbst als verzweifelte Versuche scheinen, dem Unveränderten wenigstens die Illusion der Veränderung zu geben. Denn keineswegs setzte mit Ausschluß und Abkoppelung die Freiheit auch vor Einschluß, die Abkoppelung von den Zwängen und Abhängigkeiten wenigstens als Paradies der Narren ein. Im Gegenteil: Die Ausgeschlossenen sind selbst eingeschlossen in immer engere Systeme, in ethnischen Gruppen und Kleinstaaten, in Stämmen und Familienverbänden, in Gefängnissen und Flüchtlingslagern oder, wie die Kurden des Nordiraks, wo die türkische Armee mehr als 15.000 Flüchtlinge alleine in den vergangenen zwei Jahren in den Nord-Irak deportiert hat, militärisch eingeschlossen.
Solchermaßen von Versprechungen und Projektionen befreit, erscheinen ihre Lebensbedingungen illusionslos als das was sie sind: Erträglich nur, wo sie verändert werden.

 


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