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"Die sich leicht anbietende geschichtliche Parallele zu den Barbaren,
die das Imperium der Zivilisation bedrohen, präjudiziert den Tatbestand;
die zweite Periode der Barbarei kann durchaus
das fortbestehende Imperium der Zivilisation selbst sein."

Herbert Marcuse

 

Rundbrief 1999

Sehr geehrte Spenderinnen und Spender,
liebe Freunde,

 

eine etwas sarkastische Kritik am Verhältnis zwischen westlichen Hilfsorganisationen und Staaten besagte einst, die Aufgabe der ersteren sei es, die gröbsten Schäden aufzuräumen, die letztere in der ganzen Welt hinterließen. Krieg und Ausbeutung würden nicht behoben, sondern ethisch und praktisch erträglicher gemacht, wenn im Anschluß Decken und Lebensmittelverteilt werden. In den vergangenen Wochen nun konnte beobachtet werden, wie selbst dieses Verhältnis sich verkehrte: während Nato-Sprecher Shea in Brüssel noch den jüngsten "Kolateralschaden" verteidigte, forderten Nothelfer wie Rupert Neudeck von der jugoslawisch-mazedonischen Grenze aus die Militärs auf, einen "humanitären Korridor" freizukämpfen. Der Bezug auf eine humanitäre Mission, die einerseits ganz den Menschenrechten verpflichtet und andererseits moralische Aufgabe des Abendlandes sei, zog sich wie ein roter Faden durch die Aufrufe von Hilfsorganisationen und Militärs. Und Jürgen Habermas begrüßte in der "Zeit" die aktuelle Tendenz, daß nach "westlicher Interpretation" der Kosovo Krieg "einen Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgerschaft" bedeuten könne.
Der Westen sei nun in einem Zeitalter angekommen, in dem er sich als alleine verbleibende Zivilisation verstehen dürfe, deren Legitimation es sei, als globaler Anwalt von Menschenrechten und Humanität über deren weltweite Einhaltung zu wachen. Ihr gegenüber stehen ein paar unbelehrbare Länder, die als "'Zweite Welt' das machtpolitische Erbe des europäischen Nationalismus angetreten" haben. Als solche versteht Habermas "Staaten wie Libyen, Irak und Serbien", die die globale Durchsetzung der Weltbürgergesellschaft noch verhindern: "Wenn es gar nicht mehr anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen."

Betrachtet man die zivilisatorische Mission des Abendlandes aus der Position derjenigen, denen diese Art Nothilfe im vergangenen Jahrzehnt zuteil wurde, erstaunt zumindest, wie einmütig das ihnen widerfahrene Schicksal als eine Perspektive angenommen wird, die sogar den Einsatz kriegerischer Gewalt rechtfertigt. Denn nicht nur Irakisch-Kurdistan, auch Somalia und Ruanda, an denen das Konzept einer "menschenrechtlichen Domestizierung" zuvor erprobt wurde, wirken weniger als Teil eines "Weltbürgerstaates" denn als abgekoppelte Enklaven ohne Zukunftsperspektive, die, aus sich heraus nicht überlebensfähig, von den schwindenden Hilfsgeldern Dritter abhängen. Ihr politisches Mandat dagegen beschränkt sich weitestgehend darauf, ihre Landsleute von der Flucht in den Westen abzuhalten.
Noch vor zehn Jahren pflegten diejenigen, die heute den missionarischen Auftrag des Westens beschwören, mit ihrer Kritik auf die Zusammenhänge von Wohlstand hier und Armut dort, demokratischen Kanzelreden auf der einen, der Unterstützung diktatorischer Regimes auf der anderen Seite aufmerksam zu machen. Jenseits aller Schwächen reflektierte die damalige Sprache, die in "Erste und Dritte Welt", in "Zentrum und Peripherie" teilte, was vor Ort zumeist verwoben und schwer zu entziffern war, daß nämlich das aktuelle Elend der ungleichen Verteilung des weltweit geschöpften Reichtums geschuldet und somit behebbar ist. Auch der Begriff der Menschenrechte galt als zweifelhafter, nicht nur weil die selben Regierungen, die diese zu verteidigen für sich in Anspruch nehmen, selbst einen festen Platz im Jahrbuch von Amnesty International haben, sondern, weil nicht von ungefähr Vertreter der sogenannten "Dritten Welt" darauf pochten, daß ohne soziale und ökonomische Entwicklung abstrakte Bürgerrechte in ihren Ländern wenig Bedeutung hätten. Eine Vorstellung, die aktueller denn je, heute keine Beachtung mehr findet, obwohl die UN anläßlich der Weltarmutskonferenz Anfang Juli erstmalig konstatieren mußte, daß Ende des Jahrhunderts mehr als die Hälfte der Menschheit in absoluter Armut lebt.
Zugleich hat die Zahl von weltweit geführten Kriegen und bewaffneten Konflikten einen vorläufigen Höhepunkt erreicht und immer mehr Menschen verlieren jede Perspektive auf Veränderung in ihren Teilen der Welt. Während also offensichtlich Zustände herrschen, die getrost als barbarisch bezeichnet werden können, rüstet der Westen zur moralischen Offensive.
Erschrecken müssen an der Karriere des Konzepts der humanitären Intervention nicht nur die Konsequenzen für die Betroffenen, die entweder als sogenannte Kollateralschäden bei der Umsetzung der Nothilfe ums Leben kommen oder als von ihr bedachte in eine pespektivlose Zukunft treiben, sondern das notorisch gute Gewissen der Akteure, das den humanitären Einsatz gegen jede Kritik hermetisch abschirmt. Die ethische Reflexion des eigenen Tuns - die noch im Vietnamkrieg, der schließlich auch für freedom und democracy als Ausdruck westlicher Werte geführt wurde, eine ganze Schüler- und Studentengeneration an der Berechtigung der eigenen Gesellschaften zweifeln ließ - wurde ersetzt durch das narzistische Gefühl, selbstlos zu handeln und nun am Ende des Jahrhunderts ein Mittel gefunden zu haben, das Gute - mit oder ohne Waffengang - global durchsetzen zu können. Der einstige Widerspruch zwischen unerschöpflichem Reichtum und weltweiter Armut, aus dem sich die Dynamik speiste, mit der die Entwicklungspolitik die Welt verändern wollte, ist in der Wahrnehmung einem statischen Zustand gewichen, in dem das letztlich Gute längst erreicht und nur noch gegen ein paar wenige Renitente durchgesetzt werden muß.
Eine Statik, die sich nicht zuletzt in der Begrifflichkeit spiegelt, mit der sich die Weltbürgergesellschaft legitmiert: Anstelle der früheren Akteure sind Völker und Ethnien getreten, deren Geschichte und zu erwartendes Schicksal sich nicht nach der Maßgabe ihres Handelns sondern durch ihre Zugehörigkeit zu einem qua Geburt und Abstammung geformten Kolletiv begründet. Was als Selbstbestimmungsrecht der Völker gegen koloniale Fremdherrschaft antrat, wurde zur ahistorischen Leugnung der Bedingungen, unter denen diese ethnischen Kollektive erst relevant wurden.
So scheint es, als habe die herrschende Ordnung zwar nicht die Möglichkeit gefunden, das Gute am selbstapostrophierten Ende der Geschichte in eine schlechte Welt zu tragen, sondern aus ihr lediglich die Perspektive zu entfernen, wie es besser sein könnte. Ihre Sprache ersetzt die erforderliche Veränderung durch die "Verteidigung des Erreichten" mittels der Nato als "bewaffnetem Arm von Amnesty International" (Ulrich Beck).
"Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden." (Herbert Marcuse)

Solidarität aber läuft dem Diktat zuwider, das den unhaltbaren Status Quo als bestmögliche Ordnung festschreibt. Sie setzt voraus, was die per Gnade erteilte Hilfe leugnet: Sie wendet sich an Gleiche, denen gleiches zusteht. Weil dies Versprechen noch seiner Einlösung harrt, kann sich solidarische Entwicklungspolitik nicht mit der statischen Beschreibung unveränderbar scheinender Verhältnisse begnügen. Ihr Auftrag besteht vielmehr darin, weiterhin auf deren Veränderung zu drängen und sich dem herrschenden Diktat zu verweigern. Die Projekte von WADI versuchen diesem Anspruch gerecht zu werden.

 


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