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25.01.2006 | NZZ am Sonntag

Tödliche Liebe im Nordirak

Wenn junge Kurden voreheliche Beziehungen eingehen, droht der Ehrenmord

In der Kleinstadt Kalak wurde im November ein junges, unverheiratetes Paar ermordet, weil es mit seiner Liebe gegen Stammesrecht verstossen hatte. Aber niemand verurteilt die Morde.

Inga Rogg, Kalak

Kein Stein. Keine Inschrift. Kein Bild. Nichts erinnert in Kalak an das Schicksal von Nahlan Hassan Mohammed und Arselan Ismail Selim. Am 17. November wurden die beiden Jugendlichen, sie 15 und er 18 Jahre alt, von einem Onkel Nahlans erschossen. Auf das Mädchen feuerte der Täter so oft, dass ihr Gesicht völlig zerfetzt war. Als Nahlan starb, war sie im fünften Monat schwanger - von Arselan. «Hätte er sie bloss geheiratet», sagt der örtliche Polizeichef Azwar Dizaei. «Dann hätte er der Familie die Schande erspart.»

Doch Arselan blieb stur. Wie Hohn und Spott muss es für Nahlan geklungen haben, dass er ihr dabei auch noch vorwarf, sie sei ja jetzt keine Jungfrau mehr. In der kleinen Welt von Kalak, wo jeder jeden kennt und die Strassen selbst an Werktagen säuberlich gekehrt sind, war Nahlan nach Bekanntwerden der Schwangerschaft eine Aussätzige. Sie hatte nicht nur ihren Ruf, sondern auch den der Familie und des Stammes ruiniert. Darum musste sie sterben.

Obwohl der Mord an den Jugendlichen fast schon einer Hinrichtung glich, würde Ahmed Mohammed Arab den Täter nie einen Mörder nennen. «Er war im Recht», sagt Arab. «Hier ging es um die Ehre, das ist kein Kavaliersdelikt.» Wie der Todesschütze ist auch der 51-jährige ehemalige Peschmerga, wie die Unabhängigkeitskämpfer genannt werden, ein Onkel von Nahlan. Die Häuser der beiden Familien liegen nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Doch obwohl Arab selbst Vater von vier Töchtern ist, hat er für seine getötete Nichte wenig Mitgefühl. «Sie war ein dummes Ding», pflichtet ihm seine Frau bei. Viel mehr wird sie an diesem Tag nicht sagen. Die meiste Zeit sitzen sie, Arabs Zweitfrau und die Töchter, nur schweigend da.

Ein Telefon bringt den Tod

So wie Arab nimmt in Kalak kaum jemand Anstoss an dem Doppelmord. Dabei kam es anschliessend zu einer Schiesserei zwischen den Familien, bei der mehrere Personen verletzt wurden. Die Polizei brachte die Lage erst unter Kontrolle, als sie mit amerikanischen Luftangriffen drohte.

Das Schicksal von Nahlan ist kein Einzelfall. Oft reicht schon ein falscher Blick oder ein verdächtiges Telefongespräch, um die Mörder auf den Plan zu rufen. Seit Jahren machen sich kurdische Frauenrechtlerinnen gegen die sogenannten Ehrenmorde stark. Dabei konnten sie erste Erfolge erzielen: Das ehemalige Saddam-Recht, das Tätern bei sogenannten Ehrenmorden weitgehende Straffreiheit gewährte, wurde reformiert. In Suleimaniya und Erbil entstanden die ersten Frauenhäuser im Irak, die sich nicht zuletzt dank der Unterstützung ausländischer Hilfsorganisationen wie des Frankfurter Vereins WADI oder Norwegian People's Aid bis heute halten können. Die Zahl der Ehrenmorde sank von mehreren Hundert in den neunziger Jahren auf einige Dutzend in den letzten Jahren.

Immer wieder entdecken Sozialarbeiterinnen Frauen, die halb verhungert von ihren Familien in Ketten gelegt wurden. Gross ist weiterhin die Anzahl der Frauen, die sich in ihrer Verzweiflung selbst verbrennen. «Wir stehen erst ganz am Anfang», sagt Chilura Hardi. Vor fünf Jahren kehrte sie aus England, wo sie 13 Jahre als Sekundarlehrerin arbeitete, nach Kurdistan zurück. In Erbil leitet sie heute das Frauenzentrum Khatuzin. Mit einer fahrenden Bibliothek, einer eigenen Zeitschrift und neuerdings einem eigenen Radiosender will Khatuzin die Gleichberechtigung in Kurdistan vorantreiben. Sie setze auf den langsamen Umbau von unten, sagt die 49-Jährige. Deshalb lägen ihr die Diskussionsrunden mit Schülern, die sie kürzlich gestartet hat, auch besonders am Herzen.

Obwohl Kurdistan für Frauen im heutigen Irak, wo die Fundamentalisten den Ton angeben, geradezu als Oase der Liberalität erscheint, müsse mehr für die Verankerung von Frauenrechten getan werden, sagt Hardi. Ihr schwebt dabei die Aufnahme eines Frauen-Grundrechte-Katalogs in die künftige Landesverfassung vor. «So weit wird es wohl nicht kommen», sagt sie mit einem Schmunzeln.

In Kalak, keine 20 Kilometer westlich der Hauptstadt Erbil, klingen Hardis Reden beinahe wie aus einer fremden Welt. Sie wäre froh, wenn es in Kalak eine Einrichtung wie Khatuzin gäbe, sagt Chinar Said Sabri. Die Offizierin ist die erste und bisher einzige Polizistin am Ort. «Vielleicht hätten Nahlan und Arselan dann nicht sterben müssen», erklärt sie. Gegen das ungeschriebene Gesetz der Stämme haben es die Ordnungshüter freilich schwer.

Zahlen oder heiraten

Deshalb bleibt der Mord an den beiden Jugendlichen trotz der kurdischen Strafrechtsreform voraussichtlich ungesühnt. Gemäss einem Beschluss der Stammesältesten haben die Familien von Arselan, Nahlan und ihrem Onkel bis zum Frühjahr Zeit, den Konflikt gütlich beizulegen. Neben Geldzahlungen kann dies für Mädchen aus der Familie des Mörders bedeuten, dass sie mit einem Mann aus dem Clan seiner Gegner verheiratet werden.

Ahmed Mohammed Arab kann daran nichts Verwerfliches finden. Wenn in seiner Familie so etwas vorkäme, würde er nicht anders handeln. Dabei nimmt er einen kräftigen Schluck von dem süssen Schwarztee, den seine Frau serviert hat. Verschämt richten seine halbwüchsigen Töchter ihren Blick auf den Boden. Keine wagt es, dem Vater zu widersprechen.


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