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16.06.2006 | OE1 ORF.at | Peter Pirker und Jutta Sommerbauer

Irakisch-Kurdistan ist anders

Iraks Norden: eine Explosion der anderen Art

von Peter Pirker und Jutta Sommerbauer

Seit 1991 stehen die kurdischen Gebiete unter autonomer Verwaltung. Internationaler Schutz entzog sie weitgehend der Kontrolle der Saddam-Diktatur. Nicht zuletzt deshalb ist das Autonomiegebiet in sozialer, ökonomischer und politischer Hinsicht die weitest entwickelte Region des Irak. Auch die Sicherheitslage ist hier am besten.

Einheitliche kurdische Verwaltung

Die Ansätze echter Demokratie sind im kurdischen Norden Iraks nicht zu übersehen. Seit Ende Jänner 2006 existiert dort nach Jahren getrennter Herrschaftsgebiete der beiden großen Parteien PUK und KDP ein einheitliches kurdisches Parlament. Anfang Mai begann die Koalitionsregierung auch damit, die beiden separaten Verwaltungsgebiete zusammenzulegen. Dennoch regt sich Protest. Viele Kurden haben die Klientelwirtschaft der beiden dominanten Parteien satt. Islamistische Parteien sind im Aufwind.

Ismail Diaf ist nach zwölf Jahren Exil in Deutschland in den kurdischen Nordirak zurückgekehrt. Seine Heimatstadt Suleymaniah erkannte er kaum wieder. Das historisch bedeutende Zentrum des Handels mit dem Iran gleicht einer riesigen Baustelle: "Was hier passiert, ist wie eine Explosion. Unter dem Saddam-Regime ist hier über Jahrzehnte nichts gebaut worden, keine Straße, kein Haus, keine Schule, nichts.“

Eine ganze Stadt als Baustelle

Seit dem Sturz des Diktators schießen neue Wohnviertel, Geschäfts- und Bürogebäude aus dem Boden. Als ausgebildeter Installateur war Diaf ein gefragter Mann in seiner Heimat. Arbeit fand sich schnell, eine eigene Firma war bald gegründet. Aufträge habe er jede Menge, lacht er und zeigt auf die zahlreichen Baustellen in der Straße.

Von Anschlägen und Entführungen blieb die Region bisher fast gänzlich verschont. Naushirwan Mistefa Emin, Vize-Chef der PUK, der Patriotischen Union Kurdistans, sagt nicht ohne Stolz: "Unser Sicherheitsapparat ist gut organisiert. Und die Bevölkerung arbeitet eng mit der Polizei zusammen. Terroristen gibt es bei uns keine.“

Von einer eigenständigen Wirtschaft kann allerdings noch keine Rede sein. Die allermeisten Bauten werden von türkischen Unternehmen ausgeführt, und die Baumaterialien sind - wie fast alles, was in den Regalen der Supermärkte steht - Importware. Wer Benzin will, ist noch häufig auf den Schwarzmarkt angewiesen. "Wir sind eine Gesellschaft von Konsumenten, wir produzieren nichts, wir konsumieren nur“, klagt Albert Issa, Politologe an der Universität in Suleymaniah: "Sogar der Tee kommt aus dem Iran, das Mehl aus Australien.“

Investoren gesucht

Was der Wirtschaft im Nordirak neben Transparenz fehlt - die Klage über Korruption ist allgegenwärtig -, ist ein produktiver Sektor. Saddam Hussein ließ etwa 4.500 kurdische Siedlungen zerstören, samt Landwirtschaft und Fabriken. "Wir haben nichts. Das Baath-Regime degradierte uns von Produzenten zu Konsumenten; Bagdad wollte uns abhängig halten“, sagt Albert Issa.

Die Regionalregierung will nun Investoren mit günstigen Konditionen locken, erklärt Emin: "Jeder Investor, der zu uns kommt, zahlt fünf Jahre lang keine Steuern. Er kann das Kapital frei hierher transferieren, und wir stellen Land, Wachpersonal und alle nötigen Einrichtungen zur Verfügung.“

Der Kampf um Pressefreiheit

Die Freude über die neue Einheit der kurdischen Verwaltung ist nicht ungeteilt. Unabhängige Journalisten befürchten, dass ihre Arbeit noch schwieriger wird:

"Bisher war es möglich von der KDP Informationen über die PUK zu erhalten und umgekehrt. Nun dürfte auch das wegfallen. Es droht null Transparenz“, meint etwa Mariwan Hama Rasheed vom Intitute for War and Peace Reporting. Politiker würden aufmüpfige Journalisten der Zeitschriften Hawlati, Awena oder Beyani zudem mit Klagen eindecken. Auch Gewalt gegen unliebsame Reporter habe es gegeben.

Frauen diskriminiert

Von diesem Konflikt um Pressefreiheit und dem freien Zugang zu Information abgesehen, gibt es aber auch noch immer traditionelle und religiöse Strukturen, die vor allem Frauen daran hindern, sich offen an der gesellschaftlichen Entwicklung zu beteiligen.

Weit verbreitet ist hier etwa Gewalt wegen "Verletzung der familiären Ehre“ oder Restriktionen beim Zugang zu Bildung. Das berichtet die deutsch-österreichische Hilfsorganisation Wadi.

Erste Ansätze

Die Versuche, politische, soziale und religiöse Bevormundung zu hinterfragen und zu überwinden, sind jedenfalls erst im Anfangsstadium. Aber es gibt sie bereits: unabhängige Radiostationen, Frauenhäuser und Kampagnen gegen genitale Verstümmelung.


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