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Januar 2008 | Aufbruch | Michael Kirschner

 

Die Lage in Kurdistan-Irak ist alles andere als entspannt

Stummer Schrei

Ob Christ, ob Kurde, ob Yezide oder junge Frau – das Klagelied in den kurdischen Provinzen des Iraks hat viele Strophen.

Von Michael Kirschner*

«Leider haben wir keine Waffen», sagt Walaa bedauernd darüber, dass er als assyrischer Christ aus Mosul fliehen musste. Nach dem US-Einmarsch arbeitete er als Dolmetscher. Für Islamisten und Baathisten sind solche Leute Verräter. Christen wurden aufgefordert, Mosul zu verlassen. Auf Kirchen wurden Bombenanschläge verübt. Es folgten Morddrohungen und Entführungen. Wer kein Lösegeld bezahlen konnte, wurde erschossen. Als Vermummte sein Viertel durchkämmten, floh er. Wie andere schiitische, sunnitische, christliche oder mandäische Interviewpartner weiss auch er nicht genau, wer die Verfolger waren. Heute lebt er wie Tausende Christen aus anderen Teilen des Iraks in einem Vorort von Erbil, der grössten Stadt in Kurdistan-Irak. Seit meinem letzten Besuch Anfang 2004 sind hier mehrere Kirchen sowie zahlreiche neue Häuser errichtet wurden. Die täglichen Gewalt wie im Rest des Iraks gibt es hier nicht. Deutlich sichtbar gibt es in den Städten der drei seit 1991 unabhängigen kurdischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymaniah hingegen einen Bau- und Investitionsboom.

Schlechte Löhne

Er habe aber nichts davon, erklärt Walaa. Als arabisch sprechender Christ findet er in den kurdischsprachigen Gebieten keine Arbeit. Zwar würden asiatische Tagelöhner und auch irakische Araber auf den Grossbaustellen arbeiten. Doch von den schlechten Löhnen könnte in den kurdischen Provinzen keine Familie die ständig steigenden Mietpreise und Lebenshaltungskosten bezahlen. Mit der Zunahme von intern Vertriebenen nimmt der Kampf um die knappen Ressourcen weiter zu. Nun sucht er einen Weg, um nach Amerika oder Europa zu kommen.
In der westlich von Erbil gelegenen Kleinstadt Shekan leben Yeziden, Christen und Kurden unter kurdischer Verwaltung. «Die Amerikaner sind unsere Befreier», erklärt ein yezidischer Lehrer im nahe gelegenen yezidischen Heiligtum Lalish, während seine Schüler ihre Englischtests präsentieren. Als yezidischer Kurde unterstütze er die Entwicklung in Kurdistan-Irak. Hier verstehe keiner, warum der europäische Antiamerikanismus auf dem Rücken von Saddam-Opfer ausgetragen werde. Bereits die menschenverachtenden UN-Sanktionen zwischen 1991 und 2003 hätten den Irakern die Lebensgrundlagen entzogen. Die UNO sei hier deshalb verhasst. Von internationalen Hilfsorganisationen erwarte man rein gar nichts.
Wenn sein Name nicht genannt würde, könnte er aber auch anderes erzählen. Dort, wo Yeziden Ansprüche stellen würden, käme es zu Diskriminierungen oder auch Gewalt durch Kurden. In yezidischen Orten würde kaum investiert. Als Yeziden in Shekan in eine muslimische Familienangelegenheit verwickelt wurden, brannte der bewaffnete kurdisch-muslimische Mob im Februar 2007 yezidische Einrichtungen nieder. Yeziden mussten aus der Stadt fliehen. Die kurdische Regierung griff zwar ein, doch die Unsicherheit bleibe. Da Yeziden in anderen Teilen des Iraks sogar auf offener Strasse hingerichtet würden und man keine Perspektiven habe, wollen die Jungen einfach nur weg.
«So ein Blödsinn», erklärt Falah bei einem Gespräch im aufgestylten Stadtkern Suleymaniahs, der zweitgrössten Stadt von Kurdistan-Irak. Als NGO-Mitarbeiter und Kurde habe er die Berichterstattung über «den Irak» im Westen satt. Wann würden Journalisten endlich begreifen, dass die meisten Kurden auch Sunniten seien. Der Kampf zwischen Schiiten und Sunniten im Zentralirak sei also ein Konflikt zwischen Arabern. Sowieso würden sich westliche Journalisten gerne für Gewalt oder Christen oder Yeziden interessieren. Für die Lage der kurdischen Jugend und Frauen hingegen gar nicht. Westliche Delegationen würden immer nur über 50-jährige Männer treffen, die als kurdische Freiheitskämpfer 1991 aus den Bergen kamen und seither alle Funktionen in Politik und Wirtschaft übernommen hätten. Die junge Generation der heute 20- und 30-Jährigen würde vollständig ausgeschlossen von allen Positionen.

Schnauze voll

Die Mehrheit der irakischen Bevölkerung ist unter 25 Jahre alt. Die Jugend und Frauen wollen den Wandel. Demonstrationen in mehreren kurdischen Städten hätten im letzten Jahr gezeigt, dass die sozialen Spannungen in Kurdistan-Irak sehr gross sind. Kurdische Behörden müssten den Druck der Strasse zunehmend zurückhalten. Menschenrechtsverletzungen könnten so wieder zunehmen. Die Jungen hätten die Schnauze voll.
WADI habe als NGO mit sehr wenig Geld grosse Wirkung erzielt, sagt Hero. Als WADI-Mitarbeiterin, war sie bei ersten Erhebungen zur weiblichen Genitalverstümmelung in kurdischen Dörfern beteiligt. Dass Frauen in Städten wie Suleymaniah mit engen Hosen und offenen Haaren auf der Strasse gingen, ändere nichts an den bestehenden Problemen. Ehrenmorde, Zwangsheiraten, häusliche Gewalt und zahlreiche Selbstverbrennungen von Frauen kämen natürlich weiterhin auch in Kurdistan-Irak vor. Dass aber weibliche Genitalverstümmelung in einigen Gegenden bis zu 75 Prozent verbreitet sei, hatte selbst sie überrascht. Mit ein paar Ärztinnen und einem Aufklärungsfilm habe man begonnen. Im April 2007 wurde eine Petition mit 14'500 Unterschriften dem kurdischen Parlament übergeben. Man könne etwas verändern.

Vorwürfe an Schweizer Regierung

«Ich habe es satt, als Vorzeigeopfer zu gelten», sagt Abdullah leise. Seit zwei Jahren arbeitet er in Halabja bei Dangue Nwe, dem ersten unabhängigen Jugendradio im ganzen Irak. Halabja sei nach den mit stiller Duldung des Westens durchgeführten Giftgasangriffen Saddams im März 1988 zum Synonym für den Genozid an irakischen Kurden geworden. Die über 50-Jährigen würden ständig die Bilder der aufgedunsenen Toten in den Strassen Halabjas hochhalten. «Doch was ist mit unserer Zukunft?», fragt Abdullah mit gehobener Stimme. Er habe Halabja überlebt und Jahre in Flüchtlingscamps im Iran verbracht. Nach seiner Rückkehr kontrollierte Radikalislamisten der Ansar al Islam die Stadt und errichtete ein den Taliban ähnliches Regime. Seit deren Vertreibung 2003 hätte Halabja nichts von den grossen Investitionen gesehen. Auf die Frage, ob Korruption dafür verantwortlich sei, blickt er schnell ärgerlich auf. «Korruption?», fragt er zurück. «Warum unternimmt die Schweizer Justiz nichts gegen Schweizer Firmen, die durch Schmiergelder an Saddam im Schatten der UN-Sanktionen an lukrative Aufträge kamen?» Er habe zwar keine höhere Schulbildung. Doch als Radiojournalist sei er heute dank Internet bestens informiert.
Als bei einem letzten Restaurantbesuch mit Walaa in Erbil ein Blitz mit gewaltigem Donner gleich nebenan einschlug, warfen sich die meisten Besucher im gut gefüllten Restaurant unter die Tische. Einzig der Besucher aus der Schweiz blieb sitzen. Walaas Kommentar war einleuchtend: «Iraker kennen seit Jahrzehnten nur Gewalt». Im Mai 2007 gab es bei Erbil die ersten Bombenanschläge seit 2004 mit Dutzenden Toten und Verletzen.

Rückkehr in den Irak

Mehr als zwei Millionen Iraker leben heute als Flüchtlinge in Nachbarstaaten. Fast zwei Millionen Iraker sind intern Vertriebene. Seit 2003 haben die täglichen Schiessereien, Bombenattentate, Entführungen, Massaker und Militäraktionen die irakische Zivilbevölkerung zum Ziel, berichtete das IKRK im April 2007. Das UNHCR, Amnesty und ECRE haben sich im April 2007 erneut für den Schutz von Flüchtlingen und Asylsuchenden aus dem ganzen Irak beziehungsweise für eine Rückkehr in Sicherheit und Würde ausgesprochen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH appellierte an den Bundesrat, irakische Kontingentsflüchtlinge aus den Nachbarstaaten Iraks aufzunehmen und veröffentlichte letzten Juni eine Petition mit Gefährdungsprofilen**.
Die Lage in den von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Provinzen gilt als vergleichsweise sicher. Aber auch die Entwicklungen in diesen Provinzen sind in den nächsten Monaten nicht mit Sicherheit vorhersehbar und hängen von Entwicklungen in der Region und im ganzen Irak ab.
Das Schweizer Bundesamt für Migration hat Anfang Mai 2007 entschieden, die Wegweisungspraxis für abgewiesene irakische Asylsuchende aus den nordirakischen Provinzen Dohuk, Erbil und Suleymaniah zu ändern. Diese Änderung hat zur Folge, dass die betroffenen Personen die Schweiz verlassen müssen. Die offizielle Schweiz und Schweizer Hilfswerke sind in Kurdistan-Irak nicht direkt vertreten oder aktiv.
Ende Juli 2007 waren 3'647 Iraker im Schweizer Asylverfahren, davon 2'651 mit einer vorläufigen Aufnahme. Seit 2003 sind knapp 500 Iraker freiwillig zurückgekehrt, darunter nicht wenige mit sehr guten politischen Beziehungen (relevant für Job, Unterkunft, Perspektive für Familien etc.) vor Ort. (mik)

*Michael Kirschner ist bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe für das Irak-Dossier zuständig:
**www.osar.ch/country-of-origin/iraq.


© Aufbruch, Januar 2008


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