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Straßenfrauen in Irakisch-Kurdistan


Die Situation irakischer Kurden in ihrem Land ist seit jeher schwierig. In den letzten Jahrzehnten wurden in Irakisch Kurdistan die Lebensbedingungen der Menschen durch die irakische Zentralregierung systematisch zerstoert. Unzaehlige Doerfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, hunderttausende von Menschen verschleppt und ermordet, tausende von Familien umgesiedelt und auseinandergerissen. Unzaehlige Familien und besonders kinderreiche Witwen vegetieren in Abhaengigkeit und Armut, ohne Hoffnung, aus eigener Kraft die eigene Situation verbessern zu koennen.

Hauptleidtragende der brutalen Befriedungsstrategie des irakischen Staates sind heute die Frauen. Die wenigen verbliebenen Moeglichkeiten bei einem Handelsembargo, zerstoerter Industrie und voellig zerruetteter Wirtschaft sich ueberhaupt etwas unabhaengig fuer den Lebensunterhalt zu verdienen, sind traditionell Frauenarbeiten. Auf dem Land leisten sie ueberwiegend die schwere und unterbezahlte Feldarbeit als Tageloehnerinnen, in den Staedten finden einige eine Taetigkeit in der Verwaltung. Hinzu kommen die den Frauen vorbehaltene Arbeit im Haushalt und die Erziehung der Kinder.

Dies alles leisten die Frauen vor dem Hintergrund einer traumatisch erlebten Vergangenheit, gekennzeichnet von Krieg, Zerstoerung, Flucht und Elend. Viele Frauen haben zusehen muessen, wie ihre Kinder oder ihre Ehemaenner getoetet wurden, genauso viele leben noch heute in der Unsicherheit, ob ihre verschleppten Maenner am Leben geblieben sind. In diesem Fall ist ihnen eine erneute Heirat untersagt, und als Witwen ist ihnen eine Ruecksiedlung in ihr Heimatdorf haeufig nicht moeglich, weil der Anspruch auf Land und Haus ihres Ehemannes in der Gesellschaft oft nicht anerkannt wird. Selbst dort, wo die Familienverbaende trotz der permanenten Verfolgung und Unterdrueckung der letzten Jahrzehnte intakt geblieben sind, haeufen sich in den letzten Jahren Faelle, in denen aufgrund der katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Situation Familienvaeter ihre Familien verlassen.

Es ist leicht verstaendlich, daß in einer solchen Situation viele Frauen diesem Druck nicht mehr standhalten koennen. Am Anfang stehen meist eine kaum noch ertraegliche Verarmung und die Verzweiflung, keinen Ausweg daraus mehr zu sehen. Dem folgen Verwahrlosung und soziale Abkapselung. Die Gesellschaft reagiert darauf mit Ablehnung und Ausgrenzung, viele Frauen werden von ihren Ehemaennern oder ihren Familien verstoßen. Was ihnen als letzter Weg bleibt, ist die Flucht aus den engen, noch immer halbfeudalen laendlichen Verhaeltnissen auf dem Land in die Elendsbezirke der Staedte. Dort bilden sie den Bodensatz der Stadtbevoelkerung. Sie leben vorwiegend auf der Straße, unter Umstaenden sogar mit ihren Kindern, und wenn sie Glueck haben, dann koennen sie in einem leeren, kriegsbeschaedigten Gebaeuden unter primitivsten Bedingungen, ohne Wasser, Strom und sanitaere Einrichtungen, unterkommen. Sie sind gezwungen zu betteln, einige arbeiten sogar als Prostituierte. Sehr viele dieser Frauen und Kinder sind mangelernaehrt und krank, fuer eine aerztliche Behandlung besitzen sie natuerlich nicht das Geld. Sie sind rechtlos, heimatlos, ohne jeden Rueckhalt, von dem Rest der Gesellschaft durchweg gemieden und verachtet. Die Sicherheitsorgane schikanieren sie, die Frauen werden regelmaeßig aus ihren Unterkuenften vertrieben. Diese Frauen gelten nicht nur als moralisch verkommen in den Augen vieler Kurden, an vielen haftet auch noch das Stigma psychischer Probleme. In vielen menschlichen Gesellschaftsformen wird abweichendes Verhalten mit Geisteskrankheit gleichgesetzt, aber in den Augen von weiten Teilen der Bevoelkerung in Irakisch Kurdistan reicht dazu bereits die Nichteinhaltung von Kleidungs- oder Verhaltensnormen in der OEffentlichkeit. Ungeachtet der Frage, ob diese Frauen rein materiell in der Lage sind, solche gesellschaftlichen Normen ueberhaupt erfuellen zu koennen, verurteilt sie ihre bloße, augenscheinliche Existenz zu einem unverschuldeten Leben am Rande der Gesellschaft, in Folge derer viele Frauen tatsaechlich an massiven, psychischen Problemen. Darueber hinaus benoetigen einige dieser Straßenfrauen weitergehende psychiatrische Hilfe, da ihre Verwahrlosung meist einhergeht mit geistiger Zerruettung, mit Realitaets- und Orientierungsverlust.

Im Fruehjahr 1996 haben sich erstmals die sechs aktiven Frauenorganisationen in Suleymania, von den Islamistinnen bis hin zu einer linkssozialistischen Gruppierung, zu einer Kooperation entschlossen und ein Komitee gebildet mit dem Ziel, dieser Gruppe von verwahrlosten Straßenfrauen zu helfen. Allein schon der Umstand dieser Zusammenarbeit an sich ist ein außergewoehnliches Zeichen in diesem buergerkriegszerissenen Land. Besonders in den groeßeren Staedten Arbil und Suleymania ist das Problem der oben beschriebenen Frauen im wahrsten Sinne des Wortes offensichtlich, sie sind im Straßenbild laengst praesent, zerlumpt, krank, heruntergekommen. In den Doerfern werden solche Vorfaelle noch weitgehend totgeschwiegen, solange man ihr Auftreten in der Öffentlichkeit verhindern kann. Auch jede Form einer psychischen Krankheit oder Instabilitaet gilt als Schande.

Im Großraum Suleymania wird die Zahl der haertesten Faelle vorsichtig auf mindestens 35 Frauen geschaetzt, abhaengig davon, welche Kriterien man zur Zaehlung heranzieht. Sehr viele Frauen versuchen auch ihre Lage soweit es irgend geht zu verschweigen und zu verbergen.

Die Arbeit des Komitees beschraenkte sich bislang auf Kontaktaufnahme und Vertrauensbildung. Bis zum Mai diesen Jahres erreichte man 48 Frauen, mit denen man in regelmaeßigen Kontakt getreten ist und bei denen, wenn vorhanden oder ermittelbar, auch die Familien sich mit einer Zusammenarbeit einverstanden erklaert haben. Dies ist ein wichtiges Kriterium fuer eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Das Komitee der Frauenorganisationen bereitet nun in Kooperation mit WADI e.V. die Einrichtung eines Zentrums fuer die Unterbringung und Betreuung von Straßenfrauen vor. Um sich aus ihrer ausweglosen Lage befreien zu koennen, benoetigen die Frauen Vermittlung in Konflikten mit ihrer Familie, Hilfe bei der Suche einer Unterkunft und Unterstuetzung bei strittigen Fragen z.B. mit Behoerden. Weiterhin soll das Zentrum als Anlaufstelle fungieren, die den Frauen die Aufrechterhaltung hygienischer Standards ermoeglicht, sie in der medizinischen Versorgung unterstuetzt und ernaehrungstechnische und psychosoziale Beratung anbietet. Das Gebaeude selbst wird eine Unterbringungskapazitaet von 30 Plaetzen haben. Da eine regelrechte psychiatrische Behandlung hier nicht geleistet werden kann und das Zentrum vor allem der gesellschaftlichen Reintegrierung dienen soll, stehen im Mittelpunkt vor allem an die Frauen, die noch keiner regelrechten Hospitalisierung beduerfen. Einer Hospitalisierung im uebrigen, die beim Stand der irakischen Psychiatrie unbedingt zu vermeiden waere.

Den Frauen soll in dem Zentrum je nach Voraussetzung und Bildungsstand die Moeglichkeit einer Ausbildung fuer Berufe, die ihnen spaeter helfen koennen, fuer sich selbst zu sorgen, angeboten werden. So sollen im Beginn etwa Schreibmaschinenkurse verbunden mit Kursen in Buchhaltung stattfinden. Im weiteren soll das Zentrum workshops anbieten, in denen landwirtschaftliche und handwerkliche Grundkenntnisse vermittelt werden, die die Frauen in die Lage versetzen, selbst zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen. Einen Anfang sollen Naehkurse und der Anbau von Gemuese auf einem Gelaende nahe des Zentrums machen. Daneben werden Alphabetisierungskurse eingerichtet, bei denen WADI e.V. auf ein bewaehrtes Netz von bereits bestehenden Schulen zurueckgreifen kann. Voraussetzungen fuer Verstaendnis und Akzeptanz sind zunaechst Autarkie und Selbstaendigkeit der Frauen. Wenn sie eine Unterkunft besitzen, ihre Kinder versorgen und ihre persoenlichen Belange ordnen koennen, wird ihr Umfeld sie eher akzeptieren. Darueber hinaus kann wieder Sozialverhalten und Umgang mit anderen Menschen erlernt werden. Unterstuetzung bekommen die Frauen dabei von Paedagogen und Psychologen. In vielen Faellen ist aber die Wiederaufnahme in die Familie anzustreben, wenn die Frauen selbst dies nicht ablehnen. Das Zentrum wird bei der Kontaktaufnahme helfen und soll eine Vermittlerfunktion ausueben, da ein Leben in der Familie in den bestehenden Gesellschaftstrukturen eine Voraussetzung fuer die soziale Anerkennung ist.

Oliver M. Piecha, WADI e. V.

Zuerst veröffentlicht in der Frankfurter Obdachlosenzeitung "Lobster".


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