WADI Projekte

Ein Zentrum für Frauen in sozialen und psychischen Notsituationen (Krisensituationen)

In der Irakisch-Kurdischen Stadt Suleymaniyah wird im Dezember ein Zentrum für Frauen in sozialen und psychischen Krisensituationen eröffnet. Eine Besonderheit nicht nur, weil es die erste institutionalisierte Anlaufstelle mit professioneller Unterstützung für Frauen in der gesamten Region sein wird, sondern auch, weil sich erstmals kurdische Frauenorganisationen der verschiedensten Lager zusammengefunden haben, um eine gemeinsame Interessenvertretung aufzubauen.

"Du hast vorhin von der feudal geprägten Gesellschaft gesprochen. Das trifft auch auf dieser Ebene zu: Der Vater, der Patriarch, beherrscht noch immer die Familie. Die Mutter ist vielfach nicht mal die Nummer zwei. Ohne eine grundlegende Veränderung der Lebenssituation in Kurdistan aber werden Versuche, dies zu ändern, im Nichts enden. Die Schlüsselprobleme Kurdistans, die sozialen Probleme und das Fehlen eines Staates, ziehen sich durch alle Bereiche der Gesellschaft." (aus einem Interview mit der irakisch-kurdischen Psychologin Dr. Wahabia, 1994)

Im Sommer 1996 riefen lokale Frauenorganisationen in der irakisch-kurdischen Stadt Suleymaniyah ein Komitee ins Leben, um mit einem gemeinsamen überparteilichen Projekt das drängende Problem sozialer Verelendung und sich häufender psychischer Krisensituationen bei kurdischen Frauen zu bekämpfen. Frauen, die bereits während der 80er Jahre Hauptleidtragende der irakischen Säuberungswellen waren, sehen sich auch nach der Befreiung vielfach noch Unterdrückung, sozialer Deklassierung und gesellschaftlicher Stigmatisierung ausgesetzt. Die instabile politische und ökonomische Situation hat neue innergesellschaftliche Konflikte geschaffen, die nicht nur die ökonomische Entwicklung und gesellschaftliche Demokratisierung blockiert haben. Die Hoffnungen der Frauen auf mehr Partizipationsmöglichkeiten und eine Liberalisierung der irakisch-kurdischen Gesellschaft wurden gleichfalls in dem Maße zerstört, in dem ihre Abhängigkeit von Subsistenzwirtschaft und Hilfslieferungen neue Perspektiven verstellten und ihre soziale Rolle zementierten. Die traumatischen Erlebnisse von Krieg und Vertreibung, soziale Verelendung und der steigende ökonomische Druck prägen die Erfahrungen beinahe aller Familien Irakisch-Kurdistans. Eine zunehmende Zahl von Frauen halten dem Druck, der innerfamiliären Situation und der sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehenden Perspektivlosigkeit nicht mehr stand. "Die Situation von solchen Frauen, die konkrete soziale und familiäre Probleme haben, die psychologische Probleme haben, ist alarmierend. Niemand ist da, der sie auffängt, die Familien sind überfordert, und es existiert keine professionelle Einrichtung, die genau das an deren statt tun könnte.", schrieb das Komitee im Herbst 1996.

Seit Beginn der 70er Jahre regiert im Irak die herrschende Baath-Partei, die sich wie ein monolithischer Block um ihren Führer Saddam Hussein gruppiert. Nachdem die Baath-Partei schrittweise alle demokratischen Institutionen und Verbände aufgelöst oder übernommen hatte, begann sie damit, jene ihr typische Herrschaft zu vertiefen: ein korporatistisches, wohlfahrtsstaatliches System das mit einem schier grenzenlosen Staatsterrorismus die Bevölkerung kontrolliert. Seitdem ist der Krieg ein andauernder Zustand im Irak, der nur durch kurze Phasen unterbrochen wurde. Besonders hart traf diese Politik die Kurden im Norden des Landes. Seit 1975 standen sie im Zentrum der militärischen Befriedungskampagnen des Regimes. Das Militär begann damit, Dörfer in Grenznähe zu zerstören und die Grenze weiträumig zu verminen. Im nördlichen Badinan, nahe der türkischen Grenze, wurden erstmals Sammelstädte aus dem Boden gestampft, in denen die aus ihren Dörfern vertriebenen Familien fortan unter militärischer Kontrolle leben mußten. Selbst während des Iran-Irak Krieges setzte die irakische Regierung ihren Feldzug gegen die Kurden fort. Mitte der Achtziger Jahre begann die sogenannte Anfal-Kampagne. Sie sah vor, große Teile des kurdischen Gebietes zu zerstören, die kurdischen Parteien zu vernichten und die Zivilbevölkerung aus den unwegsamen Regionen in militärisch kontrollierbare Sammelstädte in den Ebenen umzusiedeln. Das Resultat des irakischen Zerstörungsfeldzuges gegen die Kurden ist erschreckend. 4.500 Dörfer und Städte wurden zerstört, rund 200.000 Menschen kamen ums Leben, zehntausende wurden verschleppt oder "verschwanden". Ganze Landstriche wurden vermint, Seen und Flüsse vergiftet. Rund 500.000 Menschen fristeten in den Sammelstädten ein Leben in erzwungener Untätigkeit.

Die irakische Politik zielte darauf ab, jede Möglichkeit zur Eigenständigkeit zu unterbinden. Die deportierten Familien wurden nach der Zerstörung ihrer Ressourcen und der Vertreibung von ihren Feldern von staatlichen Zuteilungen abhängig gemacht. Viele der Familien hatten die meisten ihrer männlichen Angehörigen verloren. In den Sammelstädten und verbliebenen Dörfern hatten die Frauen und Witwen die gesamte ökonomische Last und alle familiären Folgen der irakischen Unterdrückung zu tragen.

Befreiung

Mit der Befreiung großer Teile der kurdischen Siedlungsgebiete in Folge des Golfkrieges entstand eine faktische Autonomie im kurdischen Nord-Irak. 1992 wurden erstmals freie Wahlen in Irakisch-Kurdistan abgehalten und eine Regierung gebildet. Die verarmte und geschlagene Bevölkerung, die zuletzt während der Massenflucht am Ende des Golfkrieges in bitteres Elend gestürzt wurde, sah endlich eine Perspektive auf ein menschenwürdiges Leben im Irak. Die Hoffnungen aber, die mit der Befreiung verknüpft worden waren, machten bald schon Ernüchterung und Desillusionierung Platz. Weder wurde der kurdischen Region ein verbindlicher völkerrechtlicher Schutz und Status zugesprochen, noch ihre Regierung anerkannt. Das Vollembargo, das die UN gegen den Irak verhängt hatten, galt nach wie vor in gleicher Weise auch für die kurdische Region des Landes. Wieder waren die Menschen abhängig von Zuteilungen und Hilfslieferungen, der Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft wurde genauso wenig unterstützt, wie die Bestrebungen, unabhängige und eigenständige Institutionen zu bilden. Anstelle dessen entwickelte sich unter dem Einfluß der Hilfsprogramme eine Ökonomie, innerhalb derer einzig Klientelwirtschaft und lokale Beziehungen das Überleben im verschärften Verteilungskampf sicherten. Nach wie vor sind nahezu 90% der städtischen Bevölkerung arbeitslos, die auf ihre Felder zurückgekehrten Bauern wirtschaften weiter in Subsistenz und fristen ein Leben in bitterer Armut.

Die ökonomische (Nicht-)Entwicklung und politische Nicht-Anerkennung blieben nicht ohne Folgen für die gesellschaftliche Liberalisierungs- und Demokratisierungsversuche. In dem selben Maße, in dem der Masse der Bevölkerung eigene wirtschaftliche Perspektiven verwehrt wurden, reüssierten traditionelle Eliten, die jede Liberalisierung verhinderten. Eine Entwicklung, die in erster Linie der internationalen Hilfspolitik geschuldet ist: Nothilfeprogramme zielen auf die Verteilung von Gütern, die auf die vorhandenen Strukturen angewiesen ist. Sie steht einer Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse und gesellschaftlicher Liberalisierung daher immer strukturell entgegen. Eine Folge dieser Entwicklung war, daß entscheidende soziale und rechtliche Änderungen niemals vorgenommen wurden, wie zB. eine Bodenreform oder eine Liberalisierung des Strafgesetzes. Die irakische Gesetzgebung von vor 1991 ist daher in weiten Teilen nach wie vor in Kraft. So haben Frauen und Witwen aus den Sammelstädten bei einer Rückkehr in ihre Dörfer kein Erbanrecht auf Land und andere Frauen sitzen der irakischen Rechtsprechung konform Haftstrafen anstelle männlicher Familienangehöriger ab. Die beiden großen kurdischen Parteien KDP (Kurdische Demokratische Partei ) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) bedienten sich dieser Eliten und profitierten zugleich von der konsequenten Fortführung des irakischen Abhängigkeitssystems, das jede Opposition im Ansatz scheitern läßt. 1994 schwang der lange schwelende Konflikt zwischen den beiden Parteien in einen offenen Krieg um, der von den Nachbarstaaten immer wieder zur Sicherung eigener Interessen instrumentalisiert wurde. Die Region ist seit dem geteilt, erneut mußten Kurden fliehen, die gemeinsame Regierung wurde aufgelöst. Basisorganisationen und politische Bewegungen wurden weitestgehend von den Parteien absorbiert oder im innerkurdischen Machtkampf aufgerieben, während die sozialen und politischen Probleme der Region nach wie vor ungelöst blieben. So fällt auch die Bilanz, die kurdische Frauenorganisationen nach beinahe acht Jahren Befreiung ziehen müssen, bitter aus:

  • Frauen sind nach wie vor in besonderem Maße von Gewalt und sozialer Zerrüttung betroffen. Krieg und Vertreibung haben zu einer umfassenden Eruption familiärer und lokaler Strukturen, dem System primordialer Hilfe und Solidarität, geführt. Der Verlust zahlreicher Angehöriger, gewaltsame Erlebnisse von Vertreibung und Zerstörung, sowie die deprimierende ökonomische und soziale Lage haben in vielen Familien eine schwerwiegende Traumatisierung ausgelöst.

  • Frauen leiden unter repressiven Moral-Vorstellungen. Ihre Mögichkeiten am gesellschaftlichen Leben teil zu haben sind weitestgehend auf den Bereich familiärer Aktivitäten beschränkt. Der restriktive Moralkodex spiegelt sich in einem Gesetz über die "moralischen Vergehen" (ein Relikt aus der Zeit der irakischen Baath-Diktatur) wider, das den männlichen Familienangehörigen eine volle rechtliche Autorität über ihre Frauen, Schwestern und Töchter bis hin zu extremen körperlichen Bestrafungen und Mord zuspricht. Ein Resultat dieser Situation ist das Phänomen von Frauen, die obdachlos in den Straßen der Städte hausen, nachdem sie sich der innerfamiliären Unterdrückung oder Bestrafung entzogen haben oder ihre gesamte Familie in kriegerischen Auseinandersetzungen verloren.

  • Frauen werden politisch diskriminiert. Die erhoffte rechtliche Liberalisierung nach der Befreiung vom Regime Saddam Husseins und die geforderte Partizipation an politischen Entscheidungen haben nicht stattgefunden. Eigenständige politische Äußerungen von Frauen werden innerhalb der kurdischen Gesellschaft kaum wahrgenommen; weder spielen Frauen in der Nomenklatura der Parteien und Verwaltung eine bedeutende Rolle, noch konnten sie ihre Belange und Forderungen bislang auf die Agenda der maßgeblichen kurdischen Parteien setzen. Das Bewußtsein Frauenrechten gegenüber ist entsprechend niedrig.

"Straßenfrauen"

Armut, traumatische Erlebnisse und Perspektivlosigkeit stehen zumeist am Anfang einer schweren Depression, die familiäre Probleme, soziale Ausgrenzung und Isolation nach sich zieht. Das allgemeine Wissen über psychologische Probleme ist enorm niedrig und entsprechend gestaltet sich das Bewußtsein gegenüber Menschen mit diesen Problemen und die soziale Akzeptanz. Wenn die Probleme nicht mehr vor der Öffentlichkeit versteckt werden können, dann trifft die Frauen üblicherweise das Stigma verrückt zu sein. Psychische Probleme werden als persönliches Scheitern und Krankheit wahrgenommen, die die gesamte Familie in Verruf zu bringen droht. Eine Folge ist, daß Familien versuchen durch Drohungen und Strafen die Situation zu kontrollieren. Vielfach werden Frauen Opfer männlicher Gewalt innerhalb der Familie. Die festgefügte patriarchale Familienstruktur definiert Frauen in solchen Konflikten als Verursacher und eigentlich zu Bestrafende. Gewalt findet statt in Form von Inzest oder Vergewaltigung, als Bestrafung für vermeintliche Verstöße gegen den engen Rahmen sexueller Moralvorstellungen, aber auch affektiv und ohne jeglichen Bezug zum Opfer. Ihre Familien zu verlassen und in die großen Städte abzuwandern, stellt vielfach die einzige Möglichkeit dar, Druck, Unterdrückung und Gewalt zu entfliehen.

Auch dort stellt sich ihre Situation kaum besser dar. Städte wie Suleymaniyah sind in den vergangenen Jahren zu Anlaufzentren innerkurdischer und innerirakischer Flüchtlinge geworden. Angesichts der allgemeinen Erwerbslosigkeit spielen Familien-Verbände eine entscheidende Rolle im Verteilungskampf um Hilfsgüter und ökonomische Nischen. Für obdachlose Frauen beginnt dieser Kampf schon bei der Suche nach einem Platz, an dem sie bleiben können. Meistens leben sie in den Straßen ohne eine Möglichkeit von Verdienst mit Ausnahme dessen, was sie als Bettlerin und - zunehmend - Prostituierte bekommen. Sie werden allgemein als amoralisch verachtet. Als "Straßenfrauen" sind sie zugleich latent Opfer von Gewalt und sexueller Mißhandlung. Eine durchgeführte Erhebung erfasste mehr als 20 sogenannter Straßenfrauen in Suleymaniyah. Viele Frauen bewegen sich grenzgängig zwischen dieser vollständigen sozialen Isolation und partieller Einbindung in soziale Systeme. Es muß davon ausgegangen werden, daß die wirkliche Anzahl von Frauen, die ein mehr oder weniger obdachloses Leben führen, wesentlich höher ist.

Ein psychosoziales Zentrum für Frauen

In Suleymaniyah wird im Dezember ein psycho-soziales Zentrum für Frauer in Krisensituationen eröffnet. Erstmals entshet eine Anlaufstelle, die Frauen professionelle Hilfe anbietet und ihnen in Notsituationen Schutz und Unterkunft bietet. Das Zentrum ist einzigartig nicht nur in Irakisch-Kurdistan. Im gesamten Nahen-Osten existiert bisher ein vergleichbares Zentrum lediglich in Israel. In dem Frauenzentrum, das im Winter 1998/99 eröffnet wird, soll den Frauen auf verschiedenen Ebenen Hilfe zur Verfügung gestellt werden:

  • soziale und psychologische Beratung für traumatisierte, mißhandelte oder sexuell mißbrauchte Frauen
  • Vermittlung zwischen den Frauen und ihren Familien
  • Telefon-Hotline
  • Kurzzeitige Unterbringung für Frauen
  • Therapiemöglichkeit bis zu vier Monaten

Das Projekt wird von den lokalen Behörden anerkannt und unterstützt. Die Gesundheitsbehörde wird das Frauenzentrum nach sechs Monaten in ihr allgemeines Programm aufnehmen und mit dem Frauenkomitee die Trägerschaft übernehmen. Alle wichtigen Entscheidungen werden dann von einem gemeinsamesnKomitee getreffen.

Die Übernahme der Trägerschaft durch lokale Behörden ist von großer Bedeutung, da alle Projekte dieser Art und Größenordnung eine lokale staatliche Unterstützung bedürfen. Die Unterstützung des Zentrums bedeutet gleichzeitig eine gesellschaftliche Anerkennung der besonderen Notlage der Frauen. Dabei darf man nicht vergessen, daß ein derartiges Programm für Frauen in diesen besonderen Notlagen in der ganzen Region bisher nicht existiert.

Vernetzung

Das Frauenzentrum ist das erste gemeinsam geplante Projekt fast aller aktiven Frauenorganisationen. Frauenorganisationen, die in Irakisch-Kurdistan in der Regel eng an irakisch-kurdische Parteien gebunden sind; innerkurdische Konflikte haben sich überaus negativ auf die Arbeit der Frauenorganisationen ausgewirkt. Die Arbeit des Frauenkomitees in Sulemaniyah zeigt die Existenz eines parteiübergreifenden Konsenses in Frauenfragen, der sich praktisch in diesem Projekt niederschlägt.

Das Frauenzentrum in Suleymaniyah wird unterstützt von der Frankfurter Hilfsorganisation WADI. Wadi e.V.-Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit unterstützt soziale Projekte und fördert Basisbewegungen in Irakisch-Kurdistan, Jordanien und Israel. In Irakisch-Kurdistan führt WADI unter anderem seit 1994 eine Alphabetisierungskampagne für Frauen durch und unterstützt Projekte für innerirakische Flüchtlinge.

Anne Mollenhauer


(Gedruckt erschien dieser Artikel zuerst im Rundbrief der Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung (agisra) im Frühjahr 2000.)


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