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Mai 2003 | KONKRET

Rechthaberei der Verlierer

Die Besetzung durch Blauhelmtruppen wäre die schlechteste Lösung für den Irak

von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken

"Zum Vorgehen und Verhalten der USA kann man nur Pfui sagen. Das Völkerrecht und die Völkergemeinschaft wurden und werden dabei mit Füßen getreten." Bernd R. Schmidt, Vorsitzender der Freien Heilpraktiker e.V.

Es scheint als sei, wer im Falle des Irak dem Völkerrecht das Wort redet, verdammt, das Falsche zu tun. Noch als amerikanische Truppen bereits kurz vor Bagdad standen, forderte der außenpolitische Sprecher der PDS, Wolfgang Gehrcke, dazu auf, die Kampfhandlungen einzustellen und mit Saddam Hussein zu verhandeln. "Die USA und Großbritannien haben völkerrechtswidrig den Irak überfallen", stellte Gehrcke fest. "Man wird immer mit dem verhandeln müssen, der vorhanden ist. Daran führt kein Weg vorbei." Dies wäre, so die übereinstimmende Meinung der deutschen Experten, der letzte "völkerrechtskonforme" Ausweg gewesen aus einem, wie der Theologe Hans Küng meint, "Lügengebäude von Orwellschem Ausmaß, um einen völkerrechtswidrigen und unmoralischen Krieg zu legitimieren". Denn in Bagdad galt es mehr zu verteidigen als die Paläste eines untergehenden Diktators. Wenn die USA ihre Sicherheitsinteressen im Irak ohne UN-Mandat verträten, so wäre dies, warnte der Berliner Völkerrechtler Tomuschat, "das Ende der bestehenden Weltordnung". Für die Bewohner von Saddam City ging mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen am 9. April vor allem aber die Diktatur Saddam Husseins zu Ende. Ginge es nach dem Völkerrecht, so würden sie noch immer von Republikanischen Garden bewacht, und die Saddam-Statue vor dem Hotel Palestine würde noch stehen.

Einmal mehr hat sich das Völkerrecht als das denkbar ungeeignetste Mittel erwiesen, um "Gerechtigkeit" durch Recht zu installieren. Dies liegt nicht nur daran, wie immer wieder bemängelt wird, daß es an geeigneten Institutionen fehlt, dieses Recht auch durchzusetzen. Denn daß das Völkerrecht fast ausschließlich auf Mechanismen beschränkt ist, die den Rechtsvollzug ohne Zwangsgewalt garantieren (sollen), ist nicht beklagenswert. Jedes Recht außerhalb von Willkürherrschaft setzt zunächst voraus, daß die in Kraft gesetzten Vorschriften von den betroffenen Rechtssubjekten freiwillig befolgt werden, die Sanktion also die letzte und nur im Ausnahmefall zu ergreifende Möglichkeit darstellt.

Das Völkerrecht ist zur Durchsetzung menschenwürdiger Verhältnisse ungeeignet, weil sein Rechtssubjekt nicht, wie der Name suggeriert, die Bevölkerung als Verbund der Einzelnen ist, sondern das nationale Kollektiv, vertreten durch den Staat. Als Netz von Rechtsbeziehungen zwischen "gleichen" Staaten ist es kaum in der Lage, die Ungleichen und Schwachen zu schützen, die unter diesen Staaten leiden. Unter dieser Voraussetzung bedeutete die Durchsetzung von Völkerrecht im Irak die Aufrechterhaltung der Verfügungsgewalt einer Diktatur über die eigene Bevölkerung. Genau dies mußten die aufständischen Irakis 1991 erleben, als die Anti-Irak-Koalition unter amerikanischer Führung Kuwait befreite. Rund 100.000 Irakis wurden in diesem vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Krieg getötet. Als es dann zu landesweiten Aufständen gegen die geschwächte Diktatur Saddam Husseins kam, handelten die alliierten Truppen strikt völkerrechtskonform und ließen zu, daß die irakische Armee die Aufstände niederschlug. Hätten sie trotz Waffenstillstandsvereinbarung eingegriffen, so wären den Irakis zwölf Jahre Leid erspart geblieben. Die rechtskonforme Haltung gegenüber der irakischen Ba'th-Diktatur ist am besten mit den Worten von Bundesaußenminister Fischer wiederzugeben, der noch kurz vor dem neuen Krieg erklärte, "Regime Change ist nicht meine Position. Das muß das irakische Volk selber schaffen." Wer darin eine Unterstützung Saddam Husseins gegen die irakische Bevölkerung sieht, gilt als antideutscher Bellizist.

Es ist jedoch nicht nur das alte Mißverständnis, Recht und Gerechtigkeit miteinander zu verwechseln, das dem Völkerrecht hierzulande im Jahre vier nach dem letzten deutschen Angriffskrieg auf Jugoslawien eine ungeahnte Popularität beschert. Denn Einigkeit herrscht nicht nur darüber, daß die USA mit ihrem Angriff auf den Irak internationales Recht verletzt haben, auch das Lamento über die scheinbare Folgenlosigkeit dieser Feststellung ist allgemein. Längst hat sich die Vorstellung durchgesetzt, daß der "Völkergemeinschaft" auf der einen die unilateral handelnden USA auf der anderen Seite gegenüberstünden. Wird es "der internationalen Gemeinschaft noch gelingen, die USA einzubinden", fragt ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebener Sammelband, "oder werden die Regierungen im Sicherheitsrat ... vor der entschlossen ausgeübten Macht der Vereinigten Staaten (kapitulieren)?" Die dazugehörige Litanei, den USA gehe es im Nahen Osten nicht um Demokratie und Menschenrechte, sondern um Öl und Weltherrschaft, entwirft nicht nur das Bild einer selbstlosen Völkergemeinschaft als Gegenmodell zu den USA, sondern mündet in eine offene Kampfansage. Daß es sich bei der Konfrontation mit der "entschlossen ausgeübten Macht" der USA nicht eigentlich um eine Politik nationaler Interessen handele, sondern um die Verteidigung eines höheren Rechtsgutes, wird von der Bundesregierung genauso behauptet, wie von der Friedensbewegung. Lediglich ob Schröder sein Nein zum Krieg wirklich ernst meint, wird in dieser da und dort noch bezweifelt.

Beiden gemeinsam ist der Wunsch nach geeigneteren Sanktionsmitteln. Auch gegenwärtig haben sich Klagewillige gefunden, die Strafanzeige gegen die Bundesregierung wegen Vorbereitung eines Angriffskrieges gestellt haben (Gewährung von Überflugrechten etc.). Einziger Sinn dieses Unternehmens ist die Bestätigung der Annahme, daß angesichts des machtpolitischen Willens Einzelner die rechtlichen Instrumente der Mehrheit versagen. Ähnlich intendiert ist die Forderung der SPD-Hessen Süd, dem "linken" Kreisverband, der Heidemarie Wieczorek-Zeul hervorgebracht hat, UN-Sanktionen gegen die USA zu verhängen, weil diese einen "völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak" führe. Die Klage über die Wirkungslosigkeit des eigenen Tuns wird zu dessen eigentlichem Sinn, "Völkerrecht" wird zur Rechthaberei der Verlierer.

Im Bedauern darüber, daß es an geeigneten Mitteln fehlt, das Völkerrecht durchzusetzen, ist aber immer auch die Forderung nach einem Ausbau der Sanktions- und Einspruchsmöglichkeiten der "Völkergemeinschaft" enthalten, die in ihrer Konsequenz auf jene Weltinnenpolitik hinausläuft, die den USA beständig vorgeworfen wird. Einzig die Rollen scheinen vertauscht, wenn Amerika und seine Verbündeten als Desperados erscheinen, Deutschland und Frankreich dagegen als rechtskonform agierende (Möchtegern-)Weltpolizisten. In der "Süddeutschen Zeitung" hat der Augsburger Völkerrechtler Christoph Vedder bereits eine Möglichkeit aufgezeigt, die Vision in praktische Politik zu überführen. "Polen dürfte jetzt nicht Mitglied der EU werden", fordert Vedder. Denn die Achtung der Grundsätze des Völkerrechts sei eine Voraussetzung für die Aufnahme in die Gemeinschaft, die Polen durch seine Unterstützung des Irakkrieges verletzt habe.

Seit Saddam Hussein gestürzt ist, fordern Paris-Berlin-Moskau, den Wiederaufbau des Landes den Vereinten Nationen zu unterstellen. Die an die amerikanischen "Unilateralisten" gerichtete Drohung, daß ohne UN-Mandat und also Beteiligung der "Friedensachse" kein Geld für den Wiederaufbau fließe, ist der verzweifelte Versuch, an der Gestaltung eines künftigen Irak mitzuwirken, ohne die Irakis zu beteiligen, die weder von Frankreich noch von Deutschland etwas wissen wollen. Denn Berlin dekretierte, daß ein UN-Protektorat nach dem Vorbild des Kosovo für die irakische Bevölkerung das Beste sei, ohne auch nur eine einzige irakische Organisation oder Partei konsultiert zu haben. Diese mißtrauen aus gutem Grunde nicht nur den Nahost-Experten der deutschen Regierung, deren breit ausgemalte Horrorszenarien sich ausnahmslos als Wunschdenken entpuppten, sondern vor allem auch dem europäischen Versuch, den Willen der Irakis selbst über ein von der "Völkergemeinschaft" mandatiertes Protektorat zu umgehen. Denn nicht nur die mögliche britisch-amerikanische Militärverwaltung, auch das vom Alten Europa favorisierte UN-Protektorat bedeutete eine Fremdverwaltung.

Während der zwischen Gruppen der irakischen Opposition und den Koalitionsregierungen ausgehandelte Kompromiß jedoch vorsieht, gleich zu Beginn eine irakische Übergangsregierung ins Amt zu hieven und mit der Reorganisation der Zivilverwaltung und der Vorbereitung freier Wahlen zu betrauen, zielt der Vorschlag eines UN-Protektorats darauf ab, den im Irak herrschenden Ausnahmezustand zu perpetuieren. Schon in der Forderung der Bundesregierung, das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm der UN wieder aufzunehmen, schwingt die Hoffnung mit, die von irakischen Gruppen vorgelegten Pläne zum Aufbau eigenständiger demokratischer Strukturen könnten sich nicht durchsetzen. Die Voraussetzung des Programms nämlich besteht in jenem vom UN-Sicherheitsrat verhängten Embargo, das vor nicht allzu langer Zeit noch von Mitgliedern der Bundesregierung heftig kritisiert wurde.

Ebenso wie die Kritik an dem "menschenverachtenden Embargo" zu Zeiten Saddam Husseins darauf zielte, das Zwangssystem eines von den UN kontrollierten Ölexportes und Einkaufs humanitärer Güter zugunsten des Regimes aufzuheben, richtet sich die nunmehr formulierte Forderung gegen den Willen der Irakis, selbst über ihr Land und dessen Zukunft zu verfügen. Die Befürchtungen der Bundesregierung dürften sich dabei weniger darum drehen, daß eine neue irakische Regierung Öl zu Dumpingpreisen an anglo-amerikanische Unternehmen verkaufen könnte, sondern vielmehr darum, daß mit einer Aufhebung des Ausnahmezustandes die Anerkennung einer Post-Saddam-Lösung einherginge, die weder in Berlin noch in Paris oder Moskau erwünscht ist. Mangels geeigneterer Bürgerkriegsbilder müssen daher jetzt die im gesamten Irak zu beobachtende Entladung des Hasses gegen alle mit dem Staat in Verbindung gebrachten Einrichtungen und das Plündern von Palästen als Beleg für den befürchteten Flächenbrand herhalten.

Der Abscheu, mit dem beobachtet wird, wie Menschen, denen die Grundlagen zum Leben systematisch vorenthalten wurden, sich nun an dem schadlos halten, was der kollabierte Staat zurückgelassen hat, wirft ein Licht auch auf die Aufgaben eines möglichen UN-Einsatzes im Irak. Bereits am ersten Tag nach der Befreiung Bagdads haben einige Irakis auf ihre Weise der Dankbarkeit für die entschlossene Haltung der Bundesregierung in der Irakfrage Ausdruck verliehen - sie haben die deutsche Botschaft gestürmt und verwüstet.

Das UN-Protektorat, das Gerhard Schröder und Joseph Fischer sich wünschen, würde nicht nur derlei verhindern, sondern auch die Bedingungen einer Verwaltung unter UN-Mandat auf den Kopf stellen. Denn vorgesehen ist ein solches Protektorat lediglich für Fälle, in denen ein Staat entweder faktisch nicht mehr existiert oder aufgrund innerer Auseinandersetzungen suspendiert wurde. In anderen Fällen ist, da die Vereinten Nationen eben kein Instrument zur Gewährleistung weltweiter Gerechtigkeit sind, die "Zivilisierung" von Staaten nicht vorgesehen.

Auch in der Praxis wäre die "zivilisierende" Besetzung durch Blauhelmtruppen die denkbar schlechteste Lösung für den Irak. Bislang haben sich die verschiedenen Oppositionsgruppen auf das Konzept eines föderalen Staates geeinigt, innerhalb dessen den einzelnen Volksgruppen begrenzte Autonomierechte zugestanden werden. Die gerne kolportierte Vorstellung von verfeindeten Ethnien und Religionsgemeinschaften entspricht im Irak jedoch nicht der Realität. Unter einem UN-Protektorat könnte dies, wie die Erfahrung zeigt, schnell anders werden, wenn der Durchsetzung und Verteidigung von Partikularinteressen ein materieller und militärischer Anreiz gegeben wird. Bislang ist es überall dort, wo UN-Behörden die Regierungsgewalt übernahmen, in kürzester Zeit gelungen, auch die wenigen noch vorhandenen staatlichen Strukturen zu zerstören und durch lokale Klientelsysteme zu ersetzen. So, wie es der Logik humanitärer Hilfe entspricht, sich auf bestehende, möglichst lokale Strukturen der Verteilung von Hilfsgütern zu verlassen, so bauen die UN-Verwaltungsstrukturen in Regionen wie dem Kosovo auf die Unterstützung lokaler Eliten dort, wo sie zur Durchsetzung ihrer Programme nützlich sind. Es ist gar nicht nötig, den Kommandeuren der Unmik im Kosovo bösen Willen zu unterstellen, um ihnen dennoch zu attestieren, daß sie über beste Beziehungen zu den mafiösen Lokalstrukturen verfügen.

Kaum verwunderlich ist daher, daß wenige Wochen vor der Befreiung Bagdads der kosovarische Journalist Beqe Cufai den Irakis die Hoffnung mit auf den Weg gab, die UN möge in ihrem Land nichts weiter tun, als Decken und Nahrungsmittel verteilen. Ein zweites "Unmikistan", so Cufais Botschaft, ist niemandem zu wünschen.

Erschienen in: konkret 5/2003


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