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April 2005 | UNHCR

UNHCR: Situation von Frauen im Irak

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
Vertretung in Deutschland

Anmerkungen von UNHCR zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak

1. Vorbemerkung

UNHCR hat sich angesichts der weiterhin Besorgnis erregenden Sicherheitssituation im gesamten Staatsgebiet bislang nicht zur Rückentsendung internationaler Mitarbei-ter in den Irak entschlossen und verfügt deshalb nur über eingeschränkte Möglichkei-ten der Informationsgewinnung zu spezifischen Verfolgungsrisiken einzelner Personen oder Personengruppen.

Die nachstehenden Informationen basieren – soweit nicht anders vermerkt – auf den von UNHCR im August 2004 zusammengestellten„Herkunftslandinformationen Irak"1 und zusätzlichen aktuellen Informationen der UNHCR Iraq Operation Unit, Am-man/Jordanien. Im Hinblick auf spezielle Informationsquellen und gezielte Herkunftsl änderrecherchen möchten wir Sie zusätzlich an das Österreichische Rote Kreuz, Ge-neralsekretariat ACCORD, Wiedner Hauptstr. 32, Postfach 39, 1041 Wien, Tel.: 00431 58900-581/2/3, FAX: 000431 58900 – 589, e-mail: accord@redcross.or.at verweisen, das mit dem UNHCR eng zusammenarbeitet. Weiterführende Informationen können Sie auch dem Internet-Angebot des "European Country of Origin Information Network" entnehmen, dass Sie unter www.ecoi.net finden können. (1)

2. Historischer Überblick zur Situation der Frauen im Irak

Frauen stellen etwa 60% der irakischen Bevölkerung. In der Vergangenheit haben irakische Frauen im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen in verschiedenen anderen arabischen Ländern von einer verhältnismäßig starken Rechtsstellung profitiert. Die irakische Übergangsverfassung von 1970 garantierte ihnen prinzipiell Gleichberechtigung in nahezu allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens, insbesondere bei der Ausübung des Wahlrechts, beim Zugang zu Bildung, bei der Bekleidung öffentlicher und privater Ämter, aber auch beim Erwerb von Eigentum sowie im Sorge-, Kindschafts- und Personenstandsrecht. Der Irak hat – wenngleich mit Vorbehalten – im Jahre 1986 das Abkommen über die Eliminierung jeglicher Formen von Diskriminierung gegenüber Frauen (CEDAW) unterzeichnet und ratifiziert.

Die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des zweiten Golfkrieges führten jedoch seit 1991 zu einer spürbaren Verschlechterung der rechtlichen und sozialen Stellung der Frauen im Irak. Als eine der Hauptursachen hierfür ist die mit dem Ziel der Konsolidierung der Herrschaft Saddam Husseins betriebene bewusste Instrumentalisierung religiöser Traditionen und Stammesstrukturen anzusehen. So legalisierte Saddam Hussein die Mehrehe (2) und führte die weitgehende Straflosigkeit von Ehrenmorden ein (3). Andere Vorschriften schränkten das Erbrecht für Frauen ein (4) und benachteiligten Frauen in Bezug auf ihre Rechte bei Ehescheidungen (5). Darüber hinaus waren Frauen und Mädchen überproportional von den Auswirkungen der von den Vereinten Nationen gegen den Irak verhängten Wirtschaftssanktionen betroffen, da sie häufig von der Verteilung kontingentierter Waren und Hilfslieferungen ausgeschlossen waren. Auch erließ die Ba´ath-Regierung in den neunziger Jahren verschiedene Dekrete, die die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränkten und – infolge der sanktionsbedingten wirtschaftlichen Krise – Frauen den Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten erschwerten.

Überdies schreckten Repräsentanten des Ba´ath-Regimes während der 35jährigen Herrschaft Saddam Husseins insbesondere gegenüber weiblichen Angehörigen vermeintlicher oder tatsächlicher Regimekritiker nicht vor geschlechtsspezifischen Misshandlungen (insbesondere Vergewaltigungen, Zwangsrekrutierungen) zurück.

3. Rechtsstellung irakischer Frauen nach dem Sturz Saddam Husseins

Seit dem Sturz des Saddam-Regimes im Frühjahr 2003 wurden verschiedene, insgesamt nur bedingt wirksame Anstrengungen zur Verbesserung der rechtlichen und tatsächlichen Situation irakischer Frauen unternommen. So verbietet zwar beispielsweise Art. 12 der vom Irakischen Übergangsrat (Iraqi Governing Council) am 8. März 2004 beschlossenen irakischen Übergangsverfassung allgemein jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. (6) Gleichwohl enthält die Übergangsverfassung keine konkreten Garantien für die Gleichbehandlung von Frauen bezüglich Heirat, Scheidung, Erbrecht und Staatsangehörigkeit. Das islamische Recht wird zudem als eine der Rechtsquellen genannt. Andere Regelungen betreffen die Beteiligung von Frauen an der Regierungs- und Gesetzgebungstätigkeit. Gemäß Art. 30 der irakischenÜbergangsverfassung soll durch entsprechende Vorschriften im Wahlgesetz sichergestellt werden, dass Frauen nicht weniger als 25% der Abgeordneten der irakischen Nationalversammlung stellen. Als weitere ermutigende Zeichen sind die Einrichtung eines irakischen Frauenministeriums und eine deutliche Zunahme der Aktivitäten nichtstaatlicher Frauenorganisationen zu erwähnen.

Auf einfachgesetzlicher Ebene fehlt es vielfach an Vorschriften zur effektiven Durchsetzung der verfassungsmäßig garantierten Gleichstellung von Männern und Frauen und zur Ahndung von Verstößen gegen das Diskriminierungsverbot. Defizite bestehen insbesondere im Bereich des Familien-, Erb- und Strafrechts, aber auch des Staatsangehörigkeitsrechts. So ist beispielsweise die Mehrehe zulässig (7), Frauen erben nur die Hälfte dessen was Männern zusteht (8) und noch immer sind Vorschriften in Kraft, die Tätern von Ehrenmorden weitgehende Strafmilderung oder -befreiung zusichern. (9) Obwohl in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordirak entsprechende Vorschriften des Strafgesetzbuches vor einigen Jahren formell außer Kraft gesetzt worden sind, kommt es auch dort immer wieder zu weitgehend ungesühnten Ehrenmorden und anderen Straftaten, die mit der Wiederherstellung der persönlichen bzw. familiären Ehre gerechtfertigt werden. Zudem plante der Irakische Übergangsrat durch Erlass Nr. 137 vom 29. Dezember 2003 das irakische Personenstandsgesetz von 1959 (und damit nahezu das gesamte Familienrecht) durch traditionelle Scharia-Regelungen zu erset-zen. Unter dem Einfluss starker Kritik der irakischen Frauen hat der US-Zivilverwalter Bremer dem Erlass zwar letztlich seine Zustimmung verweigert. Es ist jedoch zu er-warten, dass es im Rahmen der Ausarbeitung der neuen Verfassung erneut zu Dis-kussionen über die Rolle des islamischen Rechts kommen wird. Die Bezugnahme auf die Scharia als Hauptrechtsquelle hätte gravierende Auswirkungen auf die Lebens-bedingungen der Frauen im Irak. Bereits nach derzeit geltendem irakischem Recht verfügen Frauen weder über gleiche Rechte bei der Eheschließung und Eheschei-dung, noch innerhalb der Ehe. Frauen ist es noch immer nicht gestattet, ihre Staats-angehörigkeit auf ihre Kinder zu übertragen.

4. Tatsächliche Situation der Frauen im heutigen Irak

Abgesehen von noch immer bestehenden rechtlichen Defiziten haben die mit dem Sturz der ehemaligen irakischen Regierung eingeleiteten politischen Veränderungen unter dem wachsenden Einfluss konservativer, streng-religiöser Gruppierungen auch im Alltagsleben irakischer Frauen bislang nicht zu nennenswerten Verbesserungen geführt. Angesichts der allgemein Besorgnis erregenden Sicherheitssituation, der an-haltenden bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und irakischen bzw. ausländischen Sicherheitskräften, der Ineffektivität der irakischen Polizei-kräfte und der verstärkten Hinwendung von Teilen der irakischen Gesellschaft zu streng konservativen Moralvorstellungen haben sich die Lebensbedingungen für iraki-sche Frauen nach dem Sturz des ehemaligen irakischen Regimes unter verschiede-nen Aspekten sogar verschlechtert.

So geraten viele – auch nicht-islamische – Frauen zunehmend unter Druck, sich streng-islamischen Bekleidungs- und Verhaltensvorschriften anzupassen. Verschie-dentlich wurden Frauen in Flugblättern unter Androhung schwerster Bestrafungen auf-gefordert, sich in der Öffentlichkeit zu verschleiern. Überdies können Frauen vielerorts ihre Häuser nicht mehr ohne männliche Begleitung verlassen. Wiederholte Anschlags-serien auf Inhaber von Frisier- und Beautysalons müssen als weiteres Indiz für eine zunehmende Bereitschaft fundamentalistischer islamischer Kreise gewertet werden, traditionelle Moralvorstellungen auch gewaltsam durchzusetzen.

Seit dem Ende des Krieges im Irak wird in Presseberichten immer wieder auf eine ge-stiegene Zahl von – teils auf offener Strasse verübten – Vergewaltigungen und Entfüh-rungen irakischer Frauen hingewiesen. Aktuelle Zahlen oder Statistiken über Gewalt-verbrechen an Frauen liegen nicht vor. In einer Gesellschaft, in der die vor allem über die Unschuld der weiblichen Familienmitglieder definierte Familienehre zunehmend in das Zentrum der sozialen Beziehungen rückt, schüren Berichte über Entführungen und Vergewaltigungen allerdings enorme Ängste unter der weiblichen Bevölkerung.

Dabei fürchten Frauen nicht allein Übergriffe an sich, sondern ebenso die nachfolgen-de Ächtung durch Angehörige der eigenen Familie. So sind Opfer sexueller Übergriffe im Irak in großem Maße der Gefahr ausgesetzt, weitere Gewalt in der Familie zu er-fahren, da sie insbesondere von männlichen Familienangehörigen als Personen ange-sehen werden, die soziale Verhaltensstandards übertreten und damit „Schande" über die Familie gebracht haben. Zur Wiederherstellung der „Familienehre" werden vor-zugsweise im schiitisch geprägten Süden des Irak sowie im Nordirak Ehrenmorde be-gangen. So wird aus dem Nordirak von mehr als 4.000 Fällen berichtet, in denen Frauen Opfer von Verstümmelungen oder Ehrenmorden geworden sind, ohne dass diese Verbrechen in irgendeiner Weise juristisch geahndet wurden.(10)

In den letzten Jahren wurden im Nordirak verschiedene Institutionen gegründet, die Frauen, die Gewalt erfahren haben oder Opfer eines Ehrenmordes werden könnten, Unterstützung und Schutz bieten. Das Asuda Centre, welches sich an einem geheimen Standort in Suleimaniyah befindet, versucht zwischen der betroffenen Frau und ihrer Familie zu vermitteln um eine kontrollierte Rückkehr der Frau in ihre Familie zu ermöglichen. UNHCR sind jedoch Fälle bekannt, in denen sämtliche Mediationsversuche gescheitert sind und in denen eine Rückkehr der Frau in ihre Familie ihren sicheren Tod bedeuten würde. Personen in solchen Fallkonstellationen können in der Regel nur ausserhalb des Iraks Sicherheit finden.

Gewalt gegenüber Frauen im Irak betrifft Irakerinnen unabhängig von ihrem Alter, ihren Vermögensverhältnissen oder ihrer sozialen Stellung. Professionelle Banden überfallen Frauen, um sie als Prostituierte zu verkaufen oder durch ihre Entführung Lösegeldzahlungen zu erpressen; vor dem Hintergrund der andauernden allgemeinen Unsicherheit, der hohen Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen wirtschaftlichen Not, aber auch des gesunkenen Bildungsniveaus, haben überdies Fälle häuslicher Gewalt spürbar zugenommen. (11) Infolgedessen wird von einem deutlichen Anstieg von Selbstverbrennungen und Selbstverstümmelungen irakischer Frauen berichtet. (12)

In Teilen des Nordirak werden nach Hinweisen verschiedener Menschenrechtsorganisationen in zunehmendem Maße Genitalverstümmelungen an Mädchen und jungen Frauen praktiziert. (13) Nach Angaben der deutschen NGO Wadi, die zwischen September und November 2004 in über 40 Dörfern in der Region Germian (Provinz Suleimaniyah) eine Untersuchung über Genitalverstümmelung an irakischen Frauen durchgeführt hat, waren von 1.544 befragten Frauen und Mädchen 907 beschnitten worden. (14)

Obwohl das irakische Personenstandsgesetz Zwangsheirat verbietet (15), so ist es doch weit verbreitet, dass irakischen Frauen und Mädchen das Recht genommen wird, sich ihren Ehemann selbst auszusuchen. Verweigern sie die Heirat, droht ihnen Gewalt oder gar Tötung durch ihre Familie. (16) Eine ‘Jin be Jin’17 genannte Praxis, die v.a. im Nordirak Anwendung findet, sieht den Austausch von Mädchen vor – ein Mädchen der einen Familie wird mit dem Sohn einer anderen Familie verheiratet, während dessen Schwester im Gegenzug mit einem Sohn der anderen verheiratet wird. Dadurch wird verhindert, dass für die Töchter ein Brautpreis gezahlt werden muss. (18)

Das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter für Heirat beträgt 18 (19), doch ein Nachtrag zum irakischen Personenstandsgesetz aus dem Jahre 1979 reduzierte das Mindestalter auf 15 Jahre sofern die Zustimmung der Eltern, eines älteren Bruders oder einer volljährigen verheirateten Schwester vorliegt.

Die dargestellten Entwicklungen haben spürbare Konsequenzen für das Verhalten irakischer Frauen. Für viele irakische Frauen und Mädchen sind das Verlassen ihrer Häuser und die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel zum Problem geworden. Frauen können praktisch nicht mehr ohne männlichen Begleiter reisen. Wachsender Anpassungsdruck und die Furcht vor sexuellen Übergriffen haben ernsthafte Auswirkungen auf den Schulbesuch (und damit auf das Bildungsniveau) irakischer Mädchen; Berichten zufolge sind in einigen irakischen Schulklassen bereits keine Schülerinnen mehr zu finden. Viele irakische Frauen bleiben ihrer Arbeit fern, da sie den Arbeitsweg nicht ohne männliche Begleitung zurücklegen können oder wollen. Dies wiederum hat bereits erste Konsequenzen für die Gesundheitsversorgung von Frauen, da im Irak kaum noch weibliche Ärzte praktizieren. Andererseits stehen kaum hinreichend qualifizierte und auf die Behandlung von Frauen spezialisierte männliche Ärzte zur Verfügung.

5. Möglichkeiten der Inanspruchnahme von Rechtsschutz

Im Irak besteht derzeit allgemein kein funktionsfähiges Rechtsschutzsystem.

Weder den Koalitionstruppen, noch den irakischen Sicherheitskräften, die selbst immer wieder Ziel verheerender Anschläge werden, ist es bisher gelungen, den Irak wirksam zu befrieden und Sicherheit für die irakische Bevölkerung zu garantieren. Nach dem Sturz des ehemaligen Regimes sind die Streit- und Sicherheitskräfte zunächst aufgelöst worden. Der Neuaufbau von Polizeikräften gestaltet sich aus verschiedenen Gründen äußerst schwierig: Einerseits fehlt es an den notwendigen finanziellen Ressourcen, um Polizei- und Sicherheitskräfte angemessen auszurüsten. Andererseits haben die Polizeikräfte bislang nicht ihre endgültige personelle Stärke erreicht. Die mit Unterstützung der jordanischen Polizei durchgeführte, in der Regel dreimonatige Schulung für Rekruten ist zu kurz, um Polizeianwärter hinreichend auf ihre vor dem Hintergrund der allgemeinen Sicherheitslage anspruchsvolle Tätigkeit vorzubereiten. Erhebliche Probleme bestehen auch bei der Umschulung ehemaliger Polizisten, die in den Dienst der neu geschaffenen Sicherheitskräfte übernommen worden sind, und in jüngster Zeit häufen sich Berichte über Korruption und schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen seitens der irakischen Polizei- und Sicherheitskräfte. Zudem gibt es vermehrt Anzeichen für eine Unterwanderung der Sicherheitskräfte durch Gegner des Demokratisierungsprozesses. Viele Frauen beklagen überdies die mangelnde Sensibilität der irakischen Sicherheitskräfte gegenüber Opfern von Sexualverbrechen und anderen geschlechtsbezogenen Rechtsverletzungen.

Insgesamt ist das Vertrauen der irakischen Gesellschaft in die Polizei- und Sicherheitskräfte nach wie vor gering. Viele Straftaten werden deshalb erst gar nicht zur Anzeige gebracht. Dies gilt in besonderem Maße für Sexualstraftaten und andere geschlechtsspezifische Rechtsverletzungen, deren Opfer aus Furcht vor Stigmatisierung häufig nicht einmal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.

Zugleich besteht im Irak praktisch keine Möglichkeit, eine Verletzung von Rechten vor Gericht geltend zu machen. Bislang sind beim Aufbau effektiver Gerichtsstrukturen kaum nennenswerte Fortschritte erzielt worden; nahezu landesweit existieren derzeit keine funktionsfähigen Spruchkörper. Gewalttaten können daher im Irak begangen werden, ohne dass die Täter (straf-) rechtliche Konsequenzen ernsthaft befürchten müssen. Überdies bestehen in der Praxis fast unüberwindbare Hindernisse bei der Beweisführung. Gerichtlich anerkannte medizinische Untersuchungen, die ein Sexualverbrechen belegen könnten, werden vom Institut für forensische Medizin in Bagdad grundsätzlich nur auf ausdrückliche polizeiliche Anforderung durchgeführt. Unter Berücksichtigung der mangelnden Sensibilität der irakischen Polizeikräfte im Umgang mit geschlechtsspezifischen Straftaten sind solche Anforderungsschreiben jedoch praktisch nicht erhältlich oder werden gar nicht erst angefordert.

Angesichts der Ineffektivität der irakischen Strafermittlungs- und Verfolgungsbehörden greifen insbesondere in den ländlichen Gebieten des Irak viele Menschen auf Mittel der Selbstjustiz zurück oder vertrauen auf ihre Einbindung und Stellung in traditionellen Stammesstrukturen, um sich vor Übergriffen zu schützen oder auf der Basis überlieferter Rechtssätze und der Scharia kriminelle Handlungen zu ahnden. Innerhalb dieser Strukturen finden Opfer sexueller Gewalt oder sonstiger geschlechtsspezifischer Diskriminierung jedoch keinen effektiven Rechtsschutz.

Selbst im staatlichen Bereich besteht derzeit kaum eine Möglichkeit, die gesetzlich zugesicherte Gleichberechtigung mit juristischen Mitteln durchzusetzen. So beendete zwar Mitte 2004 eine erste Gruppe weiblicher Rekruten ihre Wehrdienstausbildung in Jordanien. Nach Rückkehr in den Irak und Übernahme ihrer Funktionen in der irakischen Armee berichteten jedoch viele Frauen von erniedrigender Behandlung und Demütigung bis hin zu körperlicher Misshandlung durch ihre männlichen Kollegen. Obwohl diese Vorfälle an Vorgesetzte und Justizbehörden weitergeleitet werden, haben sie für die Täter in der Regel keinerlei Konsequenzen. (20)

5. Relevanz der genannten Faktoren für die internationale Schutzbedürftig-keit irakischer Frauen

Eine geschlechtsgerechte Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention bedeutet nicht, dass alle Frauen automatisch Anspruch auf Flüchtlingsstatus haben. Vielmehr muss jede Person, die internationalen Flüchtlingsschutz beantragt, darlegen, dass sie begründete Furcht vor Verfolgung aus den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen der Rasse, Religionszugehörigkeit, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung hat. (21) Wenngleich das Geschlecht als Verfolgungsmerkmal in der Genfer Flüchtlingskonvention nicht ausdrücklich erwähnt wird, hat sich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass das (biologische und soziale) Geschlecht sowohl die Art der Verfolgung oder des zugefügten Leids beeinflussen als auch ein Motiv für verfolgungsrelevante Rechtseingriffe darstellen kann.

Vor diesem Hintergrund kann die oben dargestellte Behandlung irakischer Frauen im Einzelfall Verfolgungsintensität erreichen, die die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus rechtfertigt. Die Verfolgung kann sich dabei entweder direkt auf das Geschlecht beziehen (zum Beispiel im Falle von drohenden Ehrenmorden, FGM, Zwangsheirat etc.) oder eines von mehreren Verfolgungselementen darstellen, beispielsweise zusammen mit politischer Überzeugung (z.B. Verfolgung politisch aktiver Frauen, Menschenrechtsaktivistinnen) oder religiöser oder ethnischer Herkunft (z.B. Drohungen gegen christliche oder mandäische Frauen sich islamischen Kleidervorschriften etc. zu unterwerfen).

Zwar geht eine Vielzahl der Übergriffe nicht unmittelbar von staatlichen Institutionen, sondern von nichtstaatlichen Akteuren aus. Die irakischen Behörden sind jedoch gegenwärtig in Ermangelung effektiver Kontrolle über das gesamte irakische Staatsgebiet, aufgrund des landesweit schleppenden Aufbaus funktionsfähiger Sicherheits- und Justizsysteme sowie infolge mangelnder Akzeptanz der politischen und administrativen Entscheidungen nicht in der Lage, ausreichenden Schutz gegen solcherart Verfolgung zu bieten. Überdies sind viele Behörden auf örtlicher und regionaler Ebene aus Gründen politischer Opportunität oftmals auch nicht willens, im Falle von Verfolgung effektiv zugunsten der Einhaltung der verfassungsrechtlich garantierten Menschenrechte einzuschreiten.

Unter Hinweis insbesondere auf den bislang nicht abgeschlossenen Überleitungsprozess im Irak, die landesweit anhaltend Besorgnis erregende Sicherheitssituation sowie die strukturellen Defizite vor allem im Sicherheits- und Justizsektor und im sozialen Bereich hat sich UNHCR überdies eindringlich gegen einen Widerruf des Flüchtlingsstatus gegenüber irakischen Flüchtlingen ausgesprochen. (22) Vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situation gilt dies auch und in besonderem Maße für irakische Frauen, da insoweit die Voraussetzungen für eine Beendigung der Flüchtlingseigenschaft – hier insbesondere eine Verbesserung der allgemeinen Sicherheits- und Menschenrechtslage, Zugang zu Rechtsschutz im Falle geschlechtsbedingter Verfolgung und Diskriminierung sowie Zumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes im Heimatstaat – derzeit nicht gegeben sind.

UNHCR Deutschland

April 2005


Anmerk.:

1 Country of Origin Information – Iraq, UNHCR Geneva, August 2004.

2 Art. 3 (4) des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

3 Art. 128 des irakischen Strafgesetzbuches (Gesetz Nr. 111 von 1969) in Verbindung mit dem Dekret Nr. 111 von Februar 1990.

4 Art. 86-94 des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

5 Art. 34-39 des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

6 Law of Administration for the State of Iraq for the Transitional Period, 8 March 2004.

7 Art. 3(4) des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

8 Art. 86-94 des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

9 Art. 128, 130 und 409 des irakischen Strafgesetzbuches, Presidential Decree 111 of February 1990.

10 Iraq: Focus on Women´s Rights, UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, 18 March 2005
(http://www.irinnews.org/ReportIDE975).

11 Art. 41 des irakischen Strafgesetzbuches sieht Straffreiheit, wenn ein Mann seine Ehefrau „diszipli-niert".

12 Desperate Women set Themselves Alight, Institute for War & Peace Reporting, Iraqi Crisis Report No. 117, 18 March 2005.

13 Amnesty International: Iraq: Decades of Suffering – Now Women Deserve Better, AI Index MDE 14/001/2005, Seite 16., vgl. auch Institute for War & Peace Reporting, Iraqi Crisis Report No. 120 Part 2 (14.04.2005), Female circumcision wrecking lives.

14 WADI, Research about circumcisions in Germian area, 2 December 2004, http://www.irinnews.org/report.asp?ReportIDD944.

15 Art. 9 des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

16 Amnesty International: Iraq: Decades of Suffering – Now Women Deserve Better, AI Index MDE 14/001/2005, Seite 22.

17 Kurdisch für ‘Austausch einer Frau gegen eine andere’.

18 Amnesty International: Iraq: Decades of Suffering – Now Women Deserve Better, AI Index MDE 14/001/2005, Seite 23.

19 Art. 7 des irakischen Personenstandsgesetzes (Gesetz Nr. 188 von 1959).

20 Iraq: Focus on Women´s Rights, UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, 18 March 2005
(http://www.irinnews.org/ReportIDE975).

21 Richtlinien zum Internationalen Schutz: Geschlechtsspezifische Verfolgung im Zusammenhang mit Art. 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, HCR/GIP/02/01, UNHCR (Genf), 7. Mai 2002 (Deutsche Fassung: UNHCR Berlin).

22 Vgl. UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention ( „Wegfall der Umstände"-Klausel) auf irakische Flüchtlinge, UNHCR Berlin (März 2005).


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