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Presseerklärung

"Schweigen zu Polygamie ist Gewalt gegen Frauen"

Im kurdischen Nordirak wächst der Unmut über das konservative Familienrecht

http://www.boston.com/globe/



Berlin/Suleymaniya,
23. November 2008

Unter dem Motto »Schweigen ist Gewalt gegen Frauen« sind am Freitag, kurz vor dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, Frauenrechtlerinnen und Bürgerrechtsgruppen auf die Straße gegangen, um gegen das konservative irakische Familienrecht zu demonstrieren. Die deutsche Hilfsorganisation WADI unterstützt den Protest der Bürgerrechtlerinnen. Mitunterzeichner des Aufrufs zur Demonstration war das Women's Law Centre WOLA in Suleymania, eine Partnerorganisation von WADI, die Frauen juristisch berät und für die rechtliche Gleichstellung von Frauen arbeitet.

Hintergrund der Proteste sind jüngste Äußerungen aus der kurdischen Regionalregierung, die eine liberale Modernisierung des Familienrechts ablehnten. Seit Jahren steht in Kurdistan wie im gesamten Irak eine Reform dieses „Personal Status Law“ an, das sowohl klassische Staatsbürgerrechte als auch Familien- und Erbschaftsangelegenheiten regelt. Das Gesetz aus dem Jahre 1959, das damals eine Verbindung aus traditionell islamischem Recht und arabisch-nationalistischer Moderne erzeugen wollte, ist eine der zentralen Rechtsquellen der Geschlechterapartheid im Irak. In vielen wesentlichen Punkten werden Frauen deutlich schlechter gestellt.

Von einer Reform des Gesetzes erhofften sich lokale Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen wichtige Verbesserungen vor allem im Scheidungs- und Familienrecht, darunter ein Verbot der Polygamie und der Zwangsehe. Für Tara Hussein, Rechtsanwältin im Women's Law Center, ist dies sowohl eine Verpflichtung, die aus der irakischen Verfassung erwächst, als auch eine dringend überfällige Anpassung der Gesetzeslage an die gesellschaftliche Realität im kurdischen Nordirak. »In der Verfassung steht, alle Iraker seien gleich vor dem Gesetz, unabhängig von ihrem Geschlecht. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das ein nach wie vor uneingelöstes Versprechen. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung ist weiblich, Frauen leisten 80 Prozent der Subsistenz- und Heimarbeit, ohne die wir nicht überleben würden, und fast 100 Prozent der täglichen Arbeit zur Reproduktion der Familien. Geht es aber nach dem Gesetz, dann sind wir nichts wert.«

Das Women's Law Centre und weitere Organisationen sehen die Rechte von Frauen insbesondere durch Äußerungen des kurdischen Premierministers Nechirvan Barzani bedroht, der erklärte, in Kurdistan würden keine Gesetze verabschiedet, die der Scharia widersprächen. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist das vielfach geforderte Verbot der Polygamie. Deren fast ausschließlich männliche Befürworter sehen in der nur Männern offen stehenden Möglichkeit der Vielehe eine kulturelle Tradition, deren Bruch die kurdische Gesellschaft weiter von ihren Ursprüngen entfremdete. Tatsächlich ist die Polygamie jedoch keine kurdische Besonderheit, sondern ein Bestandteil islamischen Familienrechts. Unter den mehrheitlich muslimischen Ländern haben einzig Tunesien und die Türkei die Vielehe offiziell abgeschafft. Ausgerechnet in der Türkei aber lebt die größte kurdische Bevölkerungsgruppe des vorderen Orients - seit Generationen ohne Polygamie.

12 lokale Organisationen, die sich für ein Verbot der Polygamie im kurdischen Nordirak einsetzen, haben nunmehr dazu aufgerufen, den Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen nicht wie geplant gemeinsam mit kurdischen Regierungsstellen zu begehen. Seit anderthalb Jahren wird im kurdischen Regionalparlament die rechtliche und faktische Besserstellung von Frauen und vor allem der Kampf gegen männliche Gewalt debattiert. Das Thema ist von großer Brisanz vor Ort: Einerseits ist die Zahl gewaltsamer Übergriffe von Männern an weiblichen Familienangehörigen und sog. Ehrmorde seit Jahren ungebrochen hoch. Zum anderen wird der Thematik eine große Aufmerksamkeit durch eine zunehmend kritische Öffentlichkeit zuteil, die von einer breiten Koalition von Bürgerrechtsorganisationen und Medien getragen wird.

Die 12 Organisationen, die sich Komitee des 25. November nennen, fordern nun vom kurdischen Parlament eine Neuverhandlung des Gesetzes. Zwar seien kleinere Fortschritte zu verzeichnen, indem die Vielehe gesetzlich reguliert werden solle, dies reiche allerdings nicht aus. Man erwarte eine völlige Abschaffung, so Tara Hussein im Namen des Komitees.

Gez.: A. Vormann, Wadi e.V.

WADI arbeitet seit 1993 in Projekten der Entwicklungszusammenarbeit im kurdischen Nordirak. Seit 2005 unterstützt WADI dort eine Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung.


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