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WADI e.V.


Stand: 20.5.2003 / Berlin
Diskussionspapier

Perspektiven für eine nachhaltige Flüchtlingspolitik gegenüber dem Irak

Der Krieg gegen den Irak ist beendet, Saddam Hussein gestürzt. Mit ihm fiel eine Diktatur, die wie keine anderer im Irak vor ihr die Bevölkerung unterdrückt und alles gesellschaftliche Leben den starren ideologischen Prinzipien der Ba’thpartei unterworfen hat. Nahezu eine Million irakische Staatsbürger, die dem Ba’thstaat im Wege standen, wurden seit Saddam Husseins Amtsantritt 1979 ermordet, mehr als zehntausend Kommunisten und Liberale, Araber und Kurden fielen dem Staat bereits seit Anfang der Siebziger Jahre zum Opfer. Das Land wurde regiert wie im Belagerungszustand, militärische Sondereinheiten und Sicherheitsdienste agierten aus massiven Festungen und Sicherheitszonen, die den gesamten Irak durchschnitten und deren Betreten der Bevölkerung untersagt war. Ganze Landstriche wurden zu „Sperrgebieten“ erklärt, die Bewohner vertrieben oder interniert, die männliche Bevölkerung in diesen Gebieten verschleppt oder ermordet. 41 Fälle konnten nachgewiesen werden, in denen das irakische Militär Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzte. Heute und in den kommenden Wochen werden die sichtbaren Spuren dieser Herrschaft zu Tage befördert: Geheimdienstzentralen mit Folterkammern; Gefängnisse, in denen Dutzende Häftlinge in einen Raum gepfercht lebten, ohne ausreichende Versorgung, ohne Rechte; Massengräber mit den Überbleibseln Unbekannter – einige von mehr als 16.000 namentlich bekannten „Verschwundenen“ im Irak. Während die Zukunft des Irak noch unklar scheinen mag, so steht doch fest, dass dieser Terror beendet wurde.

Bereits jetzt zeichnet sich auch ab, dass viele der Prognosen, die vorab über den Irakkrieg getätigt wurden, falsch waren. Dies betrifft nicht nur die Zahl der erwarteten zivilen Opfer, sondern vor allem das Verhalten der irakischen Bevölkerung selbst. Der Zusammenschluss der arabischen Iraker gegen die Interventionskräfte ist bis dato ausgeblieben, ein Comeback des arabischen Nationalismus und ein Aufstand der „arabischen Straße“ blieb aus. Trotz der unter der Herrschaft Saddam Husseins geschaffenen ethnischen und religiösen Grenzen (insbesondere die Arabisierung der Regionen Kirkuk und Mossul) ist es nicht zu einem innerirakischen Bürgerkrieg und einem Zerfall des Staates gekommen.

In keinem Bereich jedoch klaffen Realität und Prognose so weit auseinander, wie in der Flüchtlingspolitik. Während ein Krieg im Irak sich immer deutlicher abzeichnete, sind die Anerkennungsquoten von irakischen Asylsuchenden in Deutschland seit Ende 2001 dramatisch gesunken. Im Hintergrund dieser Entwicklung stehen Annahmen, die sich als eklatante Fehleinschätzungen herausgestellt haben. Noch im letzten Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage im Irak vom September 2002 wurde festgehalten, dass ein grundlegender Wechsel der politischen Verhältnisse im Irak nicht absehbar sei. Eine Einschätzung, mit der die Annahme einer sicheren inländischen Ausweichmöglichkeit für irakische Flüchtlinge im kurdischen Nordirak gestützt werden sollte. Insbesondere wurde auf die Existenz von „Flüchtlingslagern der Vereinten Nationen“ verwiesen, innerhalb derer eine Grundversorgung von Binnenflüchtlingen gewährleistet sei.

Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen haben wiederholt, gestützt auf Sachverständigengutachten, diese Einschätzungen in Frage gestellt. Seit mehreren Jahren wird die Annahme einer sicheren inländischen Fluchtalternative im kurdischen Nordirak in Zweifel gezogen und Kritik an der verkürzten Auswahl der Kriterien geübt, die zur Feststellung einer solchen Fluchtalternative herangezogen wurden. Insbesondere wurde bemängelt, dass die zentralen Aspekte von Dauerhaftigkeit und Rechtssicherheit nicht berücksichtigt wurden. Eine asylrelevante Lageeinschätzung dürfe nicht alleine den aktuellen Zustand festhalten, sondern müsse immer prospektiv sein und eine zumindest formal gesicherte Dauerhaftigkeit der rechtlichen Bedingungen einer Region miteinbeziehen.

Erfreulicherweise blieb das schlimmste Szenario, ein Angriff irakischer Truppen auf die Region, aus. Dennoch ist der kurdische Nordirak von den Kampfhandlungen betroffen gewesen. Insbesondere die Region um die Stadt Chamchamal wurde zum Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen kurdischen und staatlichen irakischen Truppen, amerikanische Flieger bombardierten die Region flächendeckend. Genau in dieser Region befinden sich jene „Flüchtlingslager“, auf die jüngst wiederholt verwiesen wurde. Dass es nicht zu dem von vielen Stellen erwarteten Massenexodus irakischer Bürger in die Nachbarstaaten kam, kurdische Städte nicht zum Gegenstand staatlicher Racheaktionen und Militärkampagnen wurden, lässt die grundsätzlichen Forderungen nach der Beachtung der im internationalen Flüchtlingsrecht vorgegebenen Standards im Umgang mit Flüchtlingen aus der Region, die bereits vor dem Ausbruch des Krieges nach Deutschland und Europa gekommen sind, unberührt. Mit dem Zusammenbruch des ba’thistischen Staatswesens ist die Grundvoraussetzung für die Gewährung von Schutz nicht verschwunden, im Gegenteil. Dass ein Staat seinen ihm auferlegten Schutzrechten gegenüber seinen Bürgern nicht nachkommt, stellt die eigentliche Ausgangslage dar, aufgrund derer internationales Flüchtlingsrecht geschaffen wurde. Ist der Herkunftsstaat auf diese Weise von seiner Rolle suspendiert, so sind andere Staaten gefordert, an seiner statt einzuspringen. Hier gilt es an den fundamentalen Prinzipien festzuhalten, i.e. Rechtssicherheit, Dauerhaftigkeit, ein individuelles verrechtlichtes Verfahren und Integration/Assimilation. Dies bedeutet: Bei der notwendig gewordenen Neueinschätzung der Lage darf nicht alleine zählen, ob die minimalsten Voraussetzungen zum Überleben gegeben sind. Zugrundegelegt werden sollten vielmehr die Frage dauerhafter Sicherheit, die Möglichkeit, an Freiheitsrechten zu partizipieren und die Bedingungen sozialer Integration vor Ort. Dies schließt mit ein, dass eine auf Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit zielende Flüchtlingsstrategie gegenüber dem Irak immer auch die Entwicklung demokratischer und ziviler Strukturen vor Ort im Blick haben muss.


Neueinschätzung der Lage

In Folge des erfolgreichen Sturzes des irakischen Regimes sind auch die Voraussetzungen für die strittige Darstellung der Situation im Herkunftsland verschwunden, eine Neueinschätzung der Lage im Irak ist notwendig. Angesichts der schwierigen Situation im Irak wäre es erforderlich, Aspekte einer langfristigen Entwicklung des Landes zu berücksichtigen und nicht, dem Wunsch nach einer schnellen Abschiebung irakischer Asylsuchender in ihr Herkunftsland folgend, einzig Möglichkeiten einer kurzfristigen Versorgung und Unterbringung im Herkunftsland zu suchen. Zu berücksichtigen wäre hier insbesondere die ungeklärte künftige Entwicklung des Irak. Ein stabiles und demokratisches System im Irak wäre im Interesse nicht nur der Menschen vor Ort und der politischen Weiterentwicklung der gesamten Region.

Unter dem Schutz der Koalitionstruppen formiert sich eine Übergangsregierung, die aus den verschiedenen Konferenzen der irakischen Oppositionsgruppen in den vergangenen Monaten heraus gebildet wird. Einigkeit besteht darüber, dass die territoriale Integrität des irakischen Staates auch künftig gewahrt werden soll. Anstelle zentralisierter Herrschaft streben die vertretenen Parteien und Gruppen eine föderale Ordnung und ein demokratisches Rechtssystem an, innerhalb dessen sowohl die Individualrechte irakischer Bürger, als auch die Ansprüche und Rechte von Religionsgemeinschaften und Volksgruppen gleichermaßen gewährleistet sind. Dieser Versuch einer Demokratisierung fußt auf der Hinterlassenschaft der Diktatur. Kein Iraker unter 35 Jahren hat jemals etwas anders erlebt, als die omnipräsente Herrschaft der Ba’th-Partei, die vom Kindergarten bis zum Seniorenverein die gesamte Realität gesellschaftlichen Lebens nach ihren ideologischen Prämissen umgestaltet hat. Von zentraler Bedeutung für jede künftige Regierung des Irak wird daher der Aufbau ziviler Strukturen und die Aufarbeitung von Unrecht in rechtsstaatlichem Rahmen sein. Die Transformation des Irak in eine demokratische Gesellschaft wird absehbar Konflikte auslösen. Als problematisch werden sich hier bspw. die Folgen der gezielten Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen unter der gestürzten Diktatur erweisen. In den Regionen Mossul und Kirkuk bspw., in denen das Ancient Regime über Jahre eine sogenannte Arabisierungskampagne durchgeführt, Kurden vertrieben und arabische Familien an ihrer Statt angesiedelt hat, werden Eigentums- und Wiedergutmachungsansprüche zwischen den verschiedenen Volksgruppen zu regeln sein. Die kommende irakische Interim-Regierung/Verwaltung wird vor dem schwierigen Problem stehen, die große Zahl von Mitarbeitern staatlicher Behörden, die auf unterschiedlichste Art in die Herrschaftspraxis Saddam Husseins involviert waren, in die Gesellschaft zu integrieren und jene derzeit noch sichtbaren Übergangserscheinungen – die Bildung von Briganten-Truppen aus den aufgelösten Militär- und Sicherheitsapparaten heraus – auf friedliche Art zu lösen. Nicht zuletzt wird auch die Frage von zentraler Bedeutung sein, entlang welcher Kriterien die Unterteilung des Landes und die Verteilung von regionalen Verantwortlichkeiten und Rechten von Statten gehen soll, ob „ethnische“ oder aber rein territoriale Aspekte von Bedeutung sein werden, die jeweils gegensätzlichen Ansprüchen entsprechen. Eine Abschiebung von abgelehnten irakischen Asylsuchenden in diese ungeklärten Verhältnisse hinein würde vorhandene Widersprüche nur verschärfen, die labile Ordnung gefährden und für zusätzliche soziale Spannungen sorgen.


Flüchtlinge / Exilanten und eine offene Gesellschaft

Bei dem Vorhaben, ein demokratisches System mit gleichen Staatsbürgerrechten für alle Iraker zu errichten, wird das Land auf die Erfahrungen und das Wissen jener angewiesen sein, die außerhalb der geschlossenen Welt des Ba’thismus lebten. Viele der im Ausland lebenden Iraker wollen teilhaben am Aufbau eines neuen Irak und ihre Kenntnisse einbringen. In allen Bereichen der Gesellschaft wird der Einfluss der exilierten Iraker von entscheidender Bedeutung sein: Bei der Schaffung eines liberalen Rechtssystems; bei der Deba’thisierung des Bildungs- und Schulwesens; bei der Aufarbeitung der Folgen der Diktatur; bei der Durchsetzung von Frauenrechten; beim Aufbau freier Medien; etc.. Der einstige Fluch des Exils könnte zu einem unschätzbaren Vorteil für die irakische Gesellschaft werden. Der Kontakt der Exilanten ins Ausland (der den Irakern über Jahre verwehrt wurde) ist eine der wichtigsten Ressourcen für den Aufbau einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Das Beispiel des Libanon zeigt, wie bedeutungsvoll die Existenz einer zwischen beiden Welten existierenden Exilgemeinde für die Demokratisierung eines Landes, aber auch für die Eröffnung wirtschaftlicher und kultureller Kontakte sein kann. Diese Ressource wird verspielt, wenn Exilanten zur Rückkehr in den Irak und dem Abbruch ihrer Beziehungen nach Europa gezwungen werden. Exiliraker, die vielfach in Deutschland und Europa aufgewachsen sind, können nicht einfach in den Irak zurückverwiesen werden. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, in beiden Welten zu leben und freiwillig über ihren Aufenthalt zu entscheiden. Nur so werden sie zu einer Brücke zwischen dem Irak und Europa.

Für viele der nach Deutschland geflohenen Iraker erwachsen aus der veränderten Situation im Irak neue Gefahren und Konflikte. Mit der Flucht wurden soziale Kontakte abgebrochen, die Grundlagen für ein soziales Leben vor Ort vielfach zerstört oder aufgegeben. Viele von ihnen haben ein neues Leben in Deutschland begonnen, befinden sich in einer Ausbildung oder haben schulpflichtige Kinder, die an deutschen Schulen unterrichtet werden. Eine Rückkehr ist – zumal unter den gegebenen Bedingungen – nicht ohne weiteres möglich. Zukünftige Rückführungsprogramme in den Irak sollten dies berücksichtigen und auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Freiwilligen Rückkehrern sollte unter Berücksichtigung der Erfordernisse des gesellschaftlichen Wiederaufbaus des Irak Hilfe und Unterstützung geboten werden, um eine Reintegration in die irakische Gesellschaft zu erleichtern. Eine erste Voraussetzung hierfür wäre die Gewährung eines gesicherten Status für jene Flüchtlinge, die lediglich über einen ungesicherten Aufenthaltsstatus (Duldung aufgrund von Abschiebehindernissen) verfügen oder sich noch im Verfahren befinden. Die empfohlene Aussetzung der Abschiebung, die ohnehin in den vergangenen Jahren nicht möglich war, alleine reicht nicht aus.

Die aktuelle Situation ist unhaltbar. Etwa 18.000 Iraker befinden sich derzeit in ungeklärten Asylverfahren, die überwiegende Mehrheit derer, die das Verfahren durchlaufen haben, verfügen einzig über einen untergeordneten Aufenthaltsstatus, lediglich eine verschwindende Minderheit über das sog. große Asyl nach Art. 16 A GG. Eine gesicherte Existenz ist nur möglich, wenn man eine Zukunft planen kann, Sicherheit existiert nur, wenn man weiß, dass der Staat, in dem man lebt, einen nicht schon morgen vielleicht aus politischen oder ökonomischen Interessen als unerwünscht behandelt. Dauerhaftigkeit ist daher ein zentrales Prinzip der GFK. In Artikel 34 heißt es: "The Contracting States shall as far as possible facilitate the assimilation and naturalization of refugees. They shall in particular make every effort to expedite naturalization proceedings...". Diese Empfehlung entspricht dem Geist der Konvention, die als Vertragswerk die Verantwortung für Flüchtlinge von der International Refugee Organisation (IRO) auf die Nationalstaaten übertrug. Zwei Drittel der GFK beschäftigen sich mit Rechten innerhalb der aufnehmenden Nationalstaaten, die den rechtlosen Status des Flüchtlings aufheben sollen und nur unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit einen Sinn ergeben. Zentrale Prinzipien wie Nichtdiskriminierung (Art. 3), Religionsfreiheit (Art. 4), Eigentumsrechte (Art. 13 & 14), Arbeit (Art. 17 - 19), Unterkunft (Art. 21) Bildung (Art. 22) oder Teilhabe am Wohlfahrtssystem (Art. 23) zielen direkt auf die Integration in die Aufnahmeländer ab und setzen Dauerhaftigkeit und einen gesicherten Status voraus. Eine "normale Existenz", so der damalige UN-Generalsekretär, "wird nur möglich sein, durch die schnelle Erteilung eines dauerhaften und sicheren Status innerhalb der Staaten" 1. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich - der historischen Ursprünge dieses Kanons bewusst – den sozialen Anforderungen des internationalen Flüchtlingsrechts stellen und den künstlichen Interim-Status, unter dem irakische Flüchtlinge in Deutschland zu leiden haben endlich zugunsten einer langfristigen Perspektive lösen. Die Einbindung der Flüchtlingspolitik in Maßnahmen der nachhaltigen Entwicklung und Demokratieförderung ist unter repressiven Vorzeichen nicht möglich; die seit Jahren als Leitlinie formulierte „Kohärenz“ ist nur im Austausch von Interessen mit den Betroffenen, nicht gegen diese möglich.

Rückführungsmaßnahmen sollten von eingebunden werden in ein Programm zur Förderung demokratischer Strukturen im Irak und diesem nicht zuwiderlaufen. Voraussetzung dafür ist neben der Freiwilligkeit auch der Austausch mit den lokalen Behörden der künftigen Übergangsregierung im Irak. Ansprechpartner für eventuelle Maßnahmen und Programme sollten vor Ort tätige Institutionen und Organisationen sein. Rückschiebungen in Zeltbehausungen und Flüchtlingslager oder in Elendsquartiere würden jeden Versuch unterminieren, nachhaltige und demokratische Strukturen im Irak aufzubauen.

Von Rückschiebungen in die Nachbarländer Jordanien, Türkei und Syrien ist abzusehen.


Thomas Uwer, WADI e.V.
(für den Vorstand)


1 i.O.: "It is essential for the refugee to enjoy an equitable and stable status, if he is to lead a normal existence and become assimilated rapidly.", Memorandum by the Secretary General to the Ad-Hoc Committee on Statelessness and Related Problems, UN Doc. E/AC.32/2, 3 Januarry 1950


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