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Odyssee der Unerwünschten

Afghanische Flüchtlinge werden nach europäischem Muster in »Schutzzonen« festgehalten, damit ihre grenzüberschreitende Flucht verhindert werden kann.

von thomas uwer


Angesichts der Bilder aus der pakistanischen Stadt Peshawar nahe der afghanischen Grenze könnte es scheinen, als habe die militärische Intervention in Afghanistan bereits stattgefunden. 50 000 afghanische Flüchtlinge, die dort in den vergangenen Tagen trotz der rigiden Grenzabriegelung angelangt sind, leben in elenden Behelfsunterkünften, versorgt von internationalen Hilfswerken. Wer es bis hierher geschafft hat, kann sich zu den Glücklicheren zählen. Rund 1,5 Millionen Afghanen, so schätzt das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR, sind seit der Ankündigung möglicher Militärschläge gegen Afghanistan auf der Flucht, aus der von der Nordallianz kontrollierten Region ebenso wie aus dem restlichen, von den Taliban regierten Land.

Eine Chance aber, die sichere Seite der Grenze zu erreichen, dürften nur die wenigsten haben. Pakistan und Tadschikistan haben ihre Grenzen abgeriegelt, aus Sorge vor militärischen Zusammenstößen mit den Taliban, aber auch, um sich der Flüchtlinge zu erwehren. Der Iran an der westlichen Grenze Afghanistans hat bereits in den ersten Tagen nach den Anschlägen in den USA damit begonnen, eine militärisch kontrollierte Pufferzone einzurichten, in der Flüchtlinge abgefangen und entlang der afghanischen Grenze festgehalten werden sollen. Im Niemandsland auf der afghanischen Seite der Grenze, so fürchten internationale Organisationen, irren schon jetzt Zehntausende umher, denen weder mit Nahrungsmitteln noch medizinisch geholfen werden kann.

Angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe stehen internationale Organisationen wie das UNHCR vor einem Dilemma. Die rigide Abschottung, die den afghanischen Flüchtlingen nun zum Verhängnis zu werden droht, gilt ihnen seit Jahren als Königsweg der Flüchtlingspolitik.

Seit der Rückführung irakischer Kurden in den umkämpften Nordirak 1991 hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Flüchtlinge möglichst schon in ihrer Herkunftsregion aufzuhalten seien. In Ruanda, Bosnien und später im Kosovo wurden bereits, dem Beispiel des Nordirak folgend und mit der Legitimation durch nachhaltige Hilfe vor Ort, Enklaven eingerichtet, was eine Rückführung der unerwünschten Flüchtlinge ermöglichen soll. Ein Modell, das maßgeblich von der EU propagiert wird, die darin eine Alternative zu dem im internationalen Flüchtlingsrecht verankerten Non-Refoulment-Prinzip wittert, das eine Rückführung von Flüchtlingen in jene Staaten verbietet, aus denen sie geflohen sind.

So fand sich vieles von dem, was sich nun an der iranischen und pakistanischen Grenze zu Afghanistan abspielt, bereits im EU-Aktionsplan Afghanistan. Das europäische Strategiepapier zur Abwehr afghanischer Flüchtlinge empfahl schon 1999 die Einrichtung von »Schutzzonen«, um eine grenzüberschreitende Flucht zu verhindern. Iran und Pakistan ziehen jetzt lediglich die einfache Konsequenz aus dieser Entwicklung. Non-Refoulment - also Schutz vor Rückführung - kann nur für den gelten, dem die Flucht aus dem Herkunftsland bereits geglückt ist.

So darf es nicht verwundern, dass die iranische Regierung sich bei der Einrichtung der »Pufferzonen« auch auf die Unterstützung des UNHCR verlassen kann. Bereits in der Vergangenheit hat die Organisation die Rückführung afghanischer Flüchtlinge aus dem Iran nicht nur stillschweigend geduldet, sondern auch durch Hilfsmaßnahmen flankiert. Im Gegenzug für die gute Kooperation der iranischen Behörden erhofft sich das UN-Flüchtlingskommissariat jetzt einen ungehinderten Zugang zur Grenzregion, um eine Minimalversorgung in den Flüchtlingslagern zu gewährleisten. Von der grundsätzlichen Gefahr solcher »Pufferzonen« ist dabei längst keine Rede mehr. Ähnlich kooperativ verhielt sich die Organisation auch gegenüber Pakistan, das den größten Teil der afghanischen Flüchtlinge bisher aufgenommen hat.

Mehr als zwei Millionen Afghanen, einige von ihnen sind bereits vor 20 Jahren aus ihrem Land geflohen, leben in Pakistan. Dort hat sich die Politik gegenüber den Flüchtlingen im vergangenen Jahr deutlich verschärft. Angesichts der 172 000 Afghanen, die allein im vergangenen Jahr vor den Kämpfen zwischen den Taliban und den Milizen der Nordallianz nach Pakistan flohen, riegelte die Regierung die Grenze rigoros ab und verweigerte den neuangekommenen Flüchtlingen die Einreise ins Landesinnere. In der Folge platzten die Notaufnahmelager entlang der Grenze aus allen Nähten. In einer ad-hoc Operation musste das UNHCR im Winter 36 000 Flüchtlinge aus dem Camp Jalozai evakuieren, als dort Seuchen auszubrechen drohten. Binnen einer Woche waren aber erneut Tausende von Flüchtlingen in Jalozai angekommen.

Die Situation in den anderen Lagern ist nicht besser. Im Juli meldete der US-amerikanische Flüchtlingsrat als Erfolg, dass in den Lagern »mittlerweile wenigstens regelmäßig Nahrungsmittel verteilt« werden. Das Leben nach der Flucht gestaltet sich für mehr als die Hälfte der in Pakistan lebenden Afghanen seit Jahren als ein Dahinvegetieren in Lagern.

Im Frühjahr dieses Jahres begann das UNHCR auf Drängen der pakistanischen Regierung mit dem so genannten Screening in den Flüchtlingscamps. Dabei prüft die Organisation, ob Flüchtlinge aus »begründeter« Angst vor Verfolgung flohen und damit ein Bleiberecht erhalten oder als »unbegründete« Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgeschoben werden können. Dieses Screening dient zugleich auch der systematischen Erfassung der Flüchtlinge, um eine Weiterflucht zu erschweren.

Pakistanische Sicherheitskräfte begannen gleichzeitig mit der Abschiebung nach Afghanistan. Betroffen hiervon sind vor allem jene, denen es gelang, der Agonie in den Lagern zu entkommen und in Städten wie Peshawar zu arbeiten. Als nicht »gescreente« Flüchtlinge müssen sie jederzeit damit rechnen, von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben zu werden.

Afghanische Flüchtlinge gelten seitdem als Freiwild. Eine von den UN in Auftrag gegebene Studie räumte im Juli ein, dass mit der Zunahme an behördlicher Kontrolle auch die Übergriffe gegen Flüchtlinge gestiegen seien. So wurde bei einer der regelmäßig durchgeführten Verhaftungen Anfang Juni ein Afghane totgeprügelt. Der Mann befand sich auf dem Weg nach Islamabad, um sich von einem Freund zu verabschieden, dem es geglückt war, einen Flug nach Deutschland zu ergattern. Unter den afghanischen Flüchtlingen herrsche, so der Bericht, eine weitverbreitete Angst vor den Willkürakten der Behörden.

Die pakistanische Regierung rechtfertigt ihre Repressionen mit dem Ausbleiben internationaler Unterstützung. Eine Integration der Flüchtlinge sei unter den desaströsen wirtschaftlichen Bedingungen in Pakistan nicht möglich. Mit der Konsolidierung des Taliban-Regimes als de facto-Regierung über einen großen Teil des Landes sei zudem eine gefahrlose Rückkehr möglich geworden.

Da sind Argumente, die man aus Europa kennt. Während aber die europäischen Regierungen Pakistan weiter als regionale Alternative zur Entsorgung afghanischer Flüchtlinge nutzen, wurde die humanitäre Hilfe in den vergangenen Jahren kontinuierlich gekürzt. Infolge dieser Kürzungen schränkten UNHCR und das Welternährungsprogramm der UN seit 1995 die Nahrungsmittelverteilung in den Flüchtlingslagern stark ein. Hilfe kommt, auch in der momentanen Krise, wenn überhaupt, zumeist nur von US-amerikanischen Organisationen wie USAid.

So ist auch jetzt - im Gegensatz zur bekundeten Bereitschaft, Truppen für eine Militäroperation zur Verfügung zu stellen - von einer europäischen Hilfe für die afghanischen Flüchtlinge gar nicht erst die Rede. Die europäischen Regierungen, deren Migrationsplaner sich bei der Definition von lokalen Fluchtalternativen gerne großzügig zeigen, reagieren bislang vollkommen teilnahmslos auf das Elend der afghanischen Flüchtlinge.

in jungle world Nr. 41/2001 - 02. Oktober 2001


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