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Flucht ohne Punkt


Der EU-Modellfall der "heimatnahen Fluchtalternative" droht zu implodieren: Die Situation in den kurdischen Gebieten des Nordirak ist hoffnungsloser denn je.

Im kurdischen Nordirak herrscht Anspannung. Nicht der Ausbruch erneuter innerkurdischer Kämpfe oder weitere Militärinterventionen der Türkei, sondern umgekehrt das schwindende Interesse am Stellvertreter-Krieg könnte der Region nun zum Verhängnis werden. Seit der Niederlage der PKK und dem Scheitern der türkischen Pläne, Irakisch-Kurdistan langfristig als vorgelagerte Einflusszone zu subventionieren, sind die verfeindeten Kurden-Parteien wieder auf sich selbst zurückgeworfen.

Während die in den vergangenen Jahren zu den maßgeblichen Schattenmächten aufgestiegenen Anrainerstaaten Türkei und Iran sich schrittweise aus der innerkurdischen Kabale herauszuziehen scheinen, rückt die Bedrohung durch die irakische Regierung bzw. ein möglicher Einigungsversuch mit der zentralirakischen Staatsmacht wieder näher. Kurz nachdem Saddam Hussein über das neue jordanische Staatsoberhaupt Abdullah bin Hussein ein an eine Kapitulationserklärung heranreichendes Angebot an den US-amerikanischen Präsidenten William Clinton übermittelte, in dem u.a. den Kurden weitgehende Autonomie-Rechte zugesprochen wurden, marschierten die Republikanischen Garden, Eliteeinheiten der irakischen Armee, erneut an der Demarkationslinie zum Kurden-Gebiet auf. Südlich der regionalen Hauptstadt Arbil und in der Region Mossul haben irakische Truppen seitdem in mehreren Aktionen die Demarkationslinie überschritten und strategische Punkte auf kurdischer Seite dauerhaft besetzt. Im "sicheren Hafen" stehen die regierenden Kurden-Parteien mit dem Rücken zur Wand.

Indessen steht eine Einigung im UN-Sicherheitsrat, ob und in welcher Weise die internationalen Sanktionen gegen den Irak fortgeführt werden, nach wie vor aus. Russland und China blockieren die US-amerikanische Maximalforderung nach einer vollständigen Fortführung des Embargos und drängen mit französischer Unterstützung auf eine zügige Rehabilitierung des Regimes. Ein Kurs, der auch der EU gelegen käme. Auf europäischer Ebene wird seit langem kritisiert, dass die Hauptlasten des Embargos von Europa getragen würden. Gemeint sind damit die irakischen Asylsuchenden, die eine der größten Flüchtlingsgruppen innerhalb der EU stellen und die nun mit einer "Demokratisierung" des Hussein-Regimes bekämpft werden sollen.

Im Jargon der hochrangigen Regierungsarbeitsgruppe, die den Aktionsplan Irak entworfen hat, nennt sich dies "Stimulierung des Demokratisierungsprozesses", beispielsweise durch "Partnerschaften zwischen europäischen und irakischen Universitäten" oder die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen. So lange das Voll-Embargo die Verabreichung solcher Stimulantia noch untersagt, bleibt der europäischen Arbeitsgruppe nur der Verweis auf die kurdischen Gebiete als sichere Fluchtalternative für Iraker.

Die von europäischen NGOs verteilte wirtschaftliche Nothilfe alleine aber reicht nicht aus, um die kurdischen Klientelparteien vor Ort bei der Stange zu halten. Im Gegensatz beispielsweise zum Kosovo besitzen die Regierungen der EU keinerlei weiter reichenden politischen Ambitionen gegenüber der kurdischen Region. Von Beginn an haben sie keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass nicht die Aufspaltung des Irak, sondern die Wiedereinsetzung der zentralirakischen Staatssouveränität längerfristig gewollt ist.

Deshalb wurden den Kurden alle eigenständigen Befugnisse genommen, die den Fortbestand des Regimes und der territorialen Einheit ernsthaft hätten gefährden können. Die Region krankt daher chronisch an politischer Perspektivlosigkeit, die dauerhaft auch nicht durch die klientelistisch organisierte Teilhabe der Bevölkerung an der Hilfsmittel-Akkumulation der Parteien wettgemacht werden kann.

Im südlichen Teil der Region sind nicht ohne Grund islamistische Parteien zu einem ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Faktor geworden. Die Region um Halabja ist fest in islamistischer Hand, und alleine in den vergangenen zwei Wochen explodierten in Suleymaniyah vier Bomben der kurdischen Hamas.
Die als Stellvertreterkrieg geführten militärischen Auseinandersetzungen mit der PKK haben wie die Kämpfe zwischen den irakisch-kurdischen Parteien immer auch die Funktion einer inneren Befriedung durch eine militärische Konzentration nach außen gehabt. Die großen Parteien haben jeden Konflikt zu Säuberungen in dem von ihnen kontrollierten Gebiet genutzt. Und die Verantwortung für die alltägliche soziale Zerrüttung und den offensichtlichen Widerspruch zwischen einer nach wie vor prekären Grundversorgung der Bevölkerung und dem mit hemmungsloser Gewalt geschöpften Reichtum der wirtschaftlichen Eliten wurde erfolgreich auf den jeweiligen Rivalen abgewälzt. Unter diesen Bedingungen entladen sich die stetig anwachsenden sozialen Konflikte der Region mit einer gewissen Zwangsläufigkeit regelmäßig in militärischen Auseinandersetzungen.

Einen möglichen Anlass bietet eine für Ende November geplante Konferenz irakischer Oppositionsparteien in Suleymaniyah. Auf Einladung der lokal regierenden Patriotischen Union Kurdistans (PUK) werden dort jene irakischen Parteien zusammentreffen, die das jüngste offizielle Treffen des Irakischen National-Kongresses in New York wegen des Austragungsortes boykottiert hatten. Darunter befinden sich neben den Kommunisten auch islamistische und nationalistische Parteien wie der vom Iran gesponserte Hohe Rat der Islamischen Revolution im Irak.

Während inhaltlich - außer einer genauso einhelligen wie folgenlosen Verurteilung der letzten pragmatischen Schutzmacht USA - keinerlei Beschlüsse zu erwarten sind, besitzt alleine die Austragung der Konferenz schon hohe symbolische Brisanz. Damit würde die PUK einerseits klar gegen den aufgezwungenen Konsens verstoßen, der die kurdischen Aktivitäten gegen das zentralirakische Regime auf die Fernsehansprachen ihrer Parteiführer beschränkt. Andererseits gerieren sich die PUK und ihr Vorsitzender Jalal Talabani als die wahren Vertreter des kurdischen Aufstandes gegen das irakische Regime - ein einender und identitätsstiftender Mythos, der trotz der Erfahrungen der vergangenen Jahre kaum an Bedeutung verloren hat.

Das ist ein Affront also nicht nur gegenüber der irakischen Regierung, die lieber heute als morgen auch die wenigen noch lebenden Oppositionellen hinrichten würde, sondern vor allem gegenüber der nicht eingeladenen verfeindeten Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), die den gesamten Norden der Region kontrolliert und sich bereits 1996 militärische Hilfe bei der irakischen Regierung holte.

Ungeachtet der Situation prahlt die EU noch in ihrer aktuellen Fassung des Aktionsplanes Irak damit, dass sie als größter Geldgeber den irakisch-kurdischen Modellfall maßgeblich gestaltet habe. Das ist sicherlich wahr - wenn auch nicht als Verantwortung gemeint. Flüchtlingen aus dem kurdischen Nordirak wird prinzipiell die Anerkennung als politische Flüchtlinge verweigert, die Ablehnungsquote am Frankfurter Flughafen beträgt 100 Prozent. Die kurdischen Parteien sind derweil nur Sachverwalter ohne festen Auftrag. Dass es zwischenzeitlich zu Streitigkeiten kommt, liegt in der Natur der Sache.

von thomas uwer (WADI e.V.)


In: jungle world v. 24. 11. 1999


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