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Bürgerkrieg um Humanität

Zur Ergänzung von militärischer und ziviler Intervention

Von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken

Vor die fiktive Aufgabe gestellt, ein politisches Wörterbuch zu illustrieren, fiele die Wahl der Bilder für den Begriff Intervention nicht schwer: Ein zeitgenössischer Stich von Charles Talleyrand, der die Intervention einst damit rechtfertigte, sie käme auf das Gleiche raus wie die Nichtintervention, und ein Foto Rupert Neudecks, dem Mann, der die verrückten Rinder nach Nordkorea brachte. Denn Neudeck steht wie kein anderer für den Beginn der humanitären Intervention und ihr absehbares Ende. Lange bevor er im Kosovo die NATO anrief, sie möge doch einen "humanitären Korridor" frei bomben, prägte Cap Anamur jenen Stil von Nichtregierungshilfe, der beständig nur das große Vorbild der staatlichen Intervention imitiert, mit eigener See- und Luftlandeflotte, paramilitärischem Equipment und sich selbst ausklappenden Feldlazaretten.

Mehr als der zweifelhafte humanitäre Nutzen überzeugt der ideologische Mehrwert dieser Einflussnahme. Als nicht staatlich legitimierte Organisationen intervenieren Nichtregierungsorganisationen (NGOs), wo es das Völkerrecht den Staaten verbietet, organisieren die Infrastruktur der Notverteilung und machen reale Politik im Gewand der Humanität. Neudecks Auftreten im Kosovo-Krieg, als er den NATO-Befehlshabern gute Tips ins Hauptquartier reichte, stellte den Höhepunkt der humanitären Intervention dar. Er war überschritten, als diese tatsächlich reagierten. Denn statt der angeforderten Luftunterstützung erhielt Neudeck Pionierbataillone der Bundeswehr, die jetzt selbst Zelte aufbauten und Decken verteilten. NGOs, die sich aufführen wie Regierungen, werden nicht mehr gebraucht, wenn Regierungen sich wie NGOs benehmen.

Der Erfolg von Organisationen wie Neudecks Cap Anamur oder den Medicins Sans Frontieres ist nicht an ihrer praktischen Arbeit zu messen, sondern in der normativen Übercodierung europäischer Außenpolitik. Wo immer die EU als Vermittler auftritt, tut sie dies als gesamtideelle humanitäre Organisation. Und ähnlich ihres Vorbilds agiert sie dabei quasi nicht staatlich, wenn auch im Interesse europäischer Staaten. Wenn beispielsweise Javier Solana, einst Anti-NATO-Aktivist, dann NATO-Generalsekretär, jetzt wieder europäischer Gegner einer amerikanisch dominierten NATO, sich im Nahen Osten als EU-Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern andient, dann tut er dies nicht, wie seine US-Kollegen, mit dem klaren Mandat einer Regierung. Dennoch vertritt er die ökonomischen und strategischen Interessen der europäischer Regierungen. Eine organisatorische Lösung, die direkt aus dem Repertoire der humanitären Hilfe stammen könnte: In Afghanistan bereits in den Achtzigern, später in Irakisch-Kurdistan, Somalia und Bosnien, sind NGOs als Interessensvertreter ihrer Regierungen aufgetreten, ohne dass diese dafür haftbar gemacht werden konnten.

Gefragt ist die humanitäre Intervention folgerichtig nicht in konventionellen Kriegen, aus denen einst Hilfswerke wie das Internationale Rote Kreuz hervorgingen, dessen Gründer noch, geprägt vom Grauen des Schlachtfelds auf beiden Seiten, die unbedingte Parteilosigkeit forderte. Mit der unbedingten Parteilichkeit der einstigen Afghanistanhilfe gegen die Sowjetunion hingegen finanzierten westliche Staaten ihre Favoriten im Bürgerkrieg, ohne sich die Blöße einer Anerkennung zu geben: Die Hände, die man offiziell nur ungern schütteln wollte, empfingen dafür staatliche Hilfe von nicht staatlichen Agenturen. Damit wurde zugleich die Grundstruktur einer auf die Verteilung von Hilfsgütern reduzierten Wirtschaft der Clan- und Milizführer als Alternative zur staatlichen Ordnung eingeführt, die Politik ersetzen sollte. Vor Ort aber wurde umgekehrt die Hilfe zu Politik, als der Kampf um die Hilfsgüter zum zentralen Gegenstand lokaler Auseinandersetzungen geriet. Das Ende der Humanität in der humanitären Intervention setzte ein, als Lebensmittel und Medikamente mit vorgehaltener Waffe verteilt und zurückerobert und so der Verteilungskampf auf seine gewaltsamen Ursprünge als Bandenkrieg zurückgeführt wurde.

Entbunden von ihrem politischen Auftrag im Blockkonflikt setzte die humanitäre Intervention in der Folge auch in anderen Ländern eine Notökonomie durch, die zur Verteilung von Hilfsgütern auf lokale Machtstrukturen aufbaute und diesen damit die Macht verlieh, über die Teilhabe an Hilfsprogrammen zu entscheiden. Denn erst mit der vollständigen Anbindung der Verteilungsökonomie an lokale Eliten wurde auch die Frage der Zugehörigkeit zu einer der Gruppen, Parteien oder "Ethnien" für die Menschen vor Ort zu einer Überlebensfrage. Längst überwunden geglaubte Stammesstrukturen wurden reaktiviert, als es darum ging, dem lokalen Kollektiv einen Zugang zur Hilfsgüterquelle zu sichern. Die Logik des Bürgerkrieges, der die Trennung zwischen privatem Handeln und öffentlichem Konflikt aufhebt, wurde somit durch die humanitäre Intervention im besten Falle perpetuiert, im schlimmsten Falle aber gnadenlos ausgenutzt: Im Irak als ausgelagerte Fluchtabwehr der EU, in den kosovo-albanischen Flüchtlingscamps Mazedoniens und Albaniens als nation generating communities, in denen Menschen bar jeder Alternative auf die Rückkehr in ihre "Heimat" getrimmt und von Milizen rekrutiert werden konnten.

Diese aggressiv sezessionistische, regionale und ethnische Dynamik ist kein Unfall, sondern Programm: Die humanitäre Intervention ist ein europäisches Instrument zur Kriegsführung, der europäische Krieg ein Bürgerkrieg um Humanität, der immer mehr zu erreichen vorgeben muss als die Durchsetzung nationaler Interessen. Die humanitäre Intervention ist daher zugleich auch ein zäher und trostloser Krieg, weil sie keine Perspektiven offen lässt: Womit soll man drohen, wen unterstützen, wenn keine Regierung zum Stürzen, keine Opposition zu unterstützen mehr existiert, die nicht eine wie die andere faktisch gleichwertig am lokalen Verteilungskampf teilhat und sich daher bis auf ihre erfundenen Differenzen und regionale Vorteile (Grenzkontrolle, Handelsrouten) als entpolitisierte Rackets durch nichts mehr unterscheiden?

Vom vorläufigen Ende der humanitären Intervention künden derzeit amerikanische Bomber, die Lebensmittelpakete über der afghanischen Bevölkerung abwerfen. Der Krieg am Boden wird derweil gegen die Folgeerscheinung humanitärer Interventionen geführt, personifiziert durch die Krieger der Taliban, die in den zur Dauereinrichtung gewordenen Flüchtlingslagern unter internationalem Hilfsregime rekrutiert wurden. Erst wenn diese soweit zurückgedrängt sind, dass sie keine Destabilisierung mehr bewirken können, soll das humanitäre Programm anlaufen. Bis unter die Zähne bewaffnet mit Feldbetten und Mullbinden harrt auch Rupert Neudeck an der usbekischen Grenze aus und wartet auf seine Chance. Seit ihrem Desaster in Somalia und dem nicht enden wollenden Krieg im subeuropäischen Balkan verlassen sich die USA aber wieder eher auf den Franzosen Talleyrand, der einst sein Exil in Amerika verbrachte, und dessen sooft zitierten Aphorismus über die Intervention. Dieser macht nur Sinn unter dem Gesichtspunkt staatlicher Interessen, die keine Bombe ungefährlicher machen, aber die Hoffnung bieten, dass am Ende des Streites einer der Beteiligten unterliegt - anstatt wieder nur alle.


Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken sind Mitarbeiter der entwicklungspolitischen Organisation wadi e.V. in Frankfurt.

erschienen in Blätter des iz3w Nr. 258 Jan/Feb 2002


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