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Wer isst, hungert nicht

Ein Magdeburger Gericht weiß, wie viel Flüchtlinge essen müssen.

von thomas uwer (wadi e. V.)

Wie viele Kalorien muss man täglich zu sich nehmen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen? Mindestens 1 600 am Tag, entschied jüngst das Oberverwaltungsgericht Magdeburg. In dieser Logik beginnt bei 2 229 Kalorien der Wohlstand. Ungefähr so viel bekommen Flüchtlinge in den Aufnahmelagern im Nordirak vom Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (UN) zugeteilt. Und das ist nach Meinung der Magdeburger Richter »als ausreichend anzusehen, weil der zusätzliche Energieaufwand der Flüchtlinge, die insbesondere keiner Arbeit nachgehen, gering ist«.

Nein, das Gericht beschäftigt sich in diesem Urteil nicht mit der Legehennenhaltung, sondern damit, ob es zumutbar ist, einen irakischen Asylsuchenden, der aus dem Herrschaftsbereich des Regimes Saddam Husseins nach Deutschland geflohen ist, auf eine »Ausweichmöglichkeit« im kurdischen Nordirak zu verweisen. Denn seit auf Drängen Deutschlands die zuständige Kommission im Europarat 1998 beschlossen hat, dass in den irakischen Kurdengebieten eine sichere Fluchtalternative besteht, werden irakische Flüchtlinge mit der Begründung abgelehnt, sie hätten auch innerhalb des eigenen Landes Zuflucht suchen können.

Einen Ausweg stellte bislang nur die Maßgabe des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR dar, dass ein »Ausweichen« nur dann zumutbar sei, wenn ein menschenwürdiges Leben gesichert ist. Gängige Rechtsprechung war daher, dass zumindest Flüchtlingen aus dem Zentralirak, die über keine verwandtschaftlichen oder sozialen Bindungen in den Kurdengebieten verfügen, nicht auf die inländische Fluchtalternative verwiesen werden können. Denn die meisten der rund 250 000 Binnenvertriebenen im Nordirak leben weit unterhalb des Existenzminimums auf der Straße oder in Flüchtlingslagern, die aus Zelten oder fertig produzierten Notbehausungen bestehen. In den Lagern fehlt nach Auskunft des UNHCR selbst das Notwendigste. Sauberes Trinkwasser ist Mangelware, Strom und sanitäre Einrichtungen gibt es nur selten, die medizinische Versorgung ist nicht gewährleistet.

Den Magdeburger Richtern ist diese Mangelversorgung gut genug. »Zwar ist eine erhöhte Energiezufuhr wünschenswert«, menschelt das Gericht in seiner Begründung, »das Bedarfsminimum ist jedoch (...) gewahrt.« Dabei haben die Richter geflissentlich übersehen, was im Gutachten des UNHCR als besonders problematisch dargestellt wird. 2 000 Kalorien Nahrungsaufnahme pro Tag liegen weit unterhalb des notwendigen Minimums, und selbst die nimmt nur auf, wer auch ein vollständiges Lebensmittelpaket erhält. Das aber sind wegen der schlechten Versorgungslage bei weitem nicht alle Flüchtlinge, zumal »Empfänger, die in besonders ärmlichen Verhältnissen leben«, gezwungen seien, »ihre Lebensmittelpakete einzutauschen, um damit andere Dinge des täglichen Grundbedarfs zu beschaffen«.

So stützt sich das Gericht bei seiner Urteilsbegründung auf ein Gutachten, in dem das genaue Gegenteil vom Behaupteten beschrieben wird. Nirgendwo kämen die UN mit der Bewältigung der dringendsten Aufgaben nach, es mangele an Notunterkünften, Material und qualifizierten Mitarbeitern, um wenigstens die bestehende Infrastruktur in Gang zu halten, die sich »in einem Zustand des beträchtlichen Zerfalls« befinde, konstatiert das UNHCR.

Dies alles aber betreffe »Maßstäbe«, findet das Gericht, »die den restriktiven Vorgaben der deutschen Rechtsprechung nicht entsprechen«. Und diese Vorgabe lautet, wie Bundesinnenminister Otto Schily erst Mitte Januar bekräftigte, das drängende Problem der vielen irakischen Flüchtlinge zu lösen.

Deshalb spielen weder die Frage der Sicherheit, noch die der Rechte und Freiheiten, die Binnenflüchtlinge im Nordirak genießen, bei der Feststellung einer Fluchtalternative eine Rolle. Karl Kopp von Pro Asyl sieht darin ein grundsätzliches Problem. »Die Idee war einmal, dass man Flüchtlinge in einem Staat aufnimmt, damit sie außer Schutz auch Rechte erhalten. Jetzt geht es nur noch darum, dass man die Leute irgendwo unterbringt, am besten gleich dort, wo sie herkommen. Diese so genannten inländischen Fluchtalternativen werden als große Flüchtlingslager betrachtet, die in der Praxis aber gar nicht in der Lage sind, irgendwelche Rechte dauerhaft zu garantieren.«

Verschwiegen wird auch, dass die kurdische Region des Nordirak nach wie vor integraler Bestandteil des irakischen Staates ist und von der Zentralregierung nur geduldet wird. Kein Vertrag, keine UN-Schutztruppen oder auch nur eine Resolution des Sicherheitsrates existieren, mittels welchen irakischen Truppen wenigstens formal untersagt werden könnte, bereits morgen wieder in die Region einzumarschieren.

Im September 1996 haben sie dies bereits einmal getan. Unter ihre Kontrolle fielen als erstes jene »collective towns« in den südlichen Suburbs der Stadt Arbil, in denen die Binnenflüchtlinge aus dem Zentralirak untergebracht sind. Fast alle der über 100 damals binnen eines Tages Hingerichteten sowie die meisten der um die 100 Verschleppten waren Binnenflüchtlinge. Mehr noch als den kurdischen Bewohnern der Region gilt ihnen die besondere Aufmerksamkeit der irakischen Sicherheitsdienste. Sollte die irakische Armee einmarschieren, würden die Flüchtlingslager zu tödlichen Fallen. Südlich der Großstadt Sulemaniah befinden sich gleich zwei große Flüchtlingslager in direkter Nähe der Demarkationslinie.

Eine Argumentation, die deutsche Gerichte nicht nachvollziehen wollen. Denn hier spielt lediglich eine Rolle, ob »absehbar« ein Wiedereinmarsch erfolgt. Die deutschen Verwaltungsgerichte scheinen fest davon auszugehen, dass die irakische Armee sie vorab über eine geplante Militäraktion informieren wird. Was absehbar ist oder nicht, wissen deutsche Gerichte offensichtlich selbst am besten.

Und das bedeutet, dass auch die Konstruktion der »inländischen Fluchtalternative« bestehen bleibt. Für irakische Flüchtlinge in Deutschland heißt dies, dass die Chancen auf einen dauerhaften Aufenthaltsstatus weiter sinken werden. Damit wird ihnen auch die Möglichkeit verbaut, ein sicheres Auskommen zu erlangen und soziale Rechte zu erwerben. Solange weiterhin kein Weg existiert, auf dem man sie einfach abschieben kann, fristen sie hier ein Leben an der unteren Grenze des legal Machbaren. Welche Bedeutung die Menschenwürde dabei hat, wurde vom Magdeburger Gericht bereits entschieden.

aus: jungle world 06/2002


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