zurück

"Asylrechtlich ausreichend"

Im Laufe dieses Jahres ist die Anerkennungsquote irakischer Asylbewerber in Deutschland dramatisch gesunken

von Thomas Uwer

In einem Gutachten des Deutschen Orient-Instituts, verfaßt im Auftrag eines Verwaltungsgerichts, das über die Klage eines abgelehnten irakischen Asylbewerbers zu entscheiden hatte, heißt es: "Bei nicht qualifizierten männlichen Arbeitskräften wird man seitens der irakischen Behörden Verständnis und eine gewisse Großzügigkeit annehmen können...". Eine Gefahr der Verfolgung bei der Rückkehr in den Irak bestehe daher nicht. So schreibt ein deutscher Fachmann, der weiß, wie Unsinn und Verwertung sich ergänzen, wenn man sie mit einer Lüge verbindet. Denn unsinnig ist die Auskunft angesichts der Herrschaftspraxis des irakischen Ba'th-Staates fraglos. Großzügigkeit und Verständnis sind schon im Allgemeinen nicht als deren herausragende Eigenschaften bekannt, gegenüber Geflohenen, die in Deutschland Asyl erbeten, werden sie jedoch zusätzlich durch eine ganze Reihe von Gesetzen und Dekreten suspendiert, die angefangen bei der illegalen Landesflucht, über die Verbreitung von Falschnachrichten und die Zusammenarbeit mit feindlichen Behörden bis zur Verunglimpfung des Präsidenten reichen. Straftatbestände, die mit langjähriger Haft oder dem Tode geahndet werden.

Die Lüge des Experten besteht in der Spekulation über ein Regime, das selbst keinen Zweifel an seiner diktatorischen Natur läßt, seine Verbrechen nicht verschweigt oder in Heimlichkeit ausheckt. Gerichtliche Verwertbarkeit wird mit dem Verzicht auf den Konjunktiv gesichert. Das "Man-kann-davon-ausgehen-daß" der staatlichen und halbstaatlichen Experten in Deutschland hat in der ersten Jahreshälfte 2002 einen Zusammenbruch der Anerkennungsquoten irakischer Flüchtlinge bewirkt, der dramatischer kaum sein könnte. Erhielten in den Jahren 2000 und 2001 im Schnitt noch mehr als 60 Prozent der irakischen Antragsteller zumindest das sogenannte "kleine Asyl", während lediglich knapp über 20 Prozent abgelehnt wurden, so hat sich das Verhältnis nunmehr in das exakte Gegenteil verkehrt. Im September erhielten lediglich noch 16 Prozent überhaupt einen Status, während der Rest der Anträge bereits im Erstverfahren als "offensichtlich unbegründet" abgelehnt wurde. Angesichts eines möglichen Krieges und der damit zu erwartenden Fluchtbewegung aus dem Irak schafft die Bundesregierung so vorsorglich bereits Tatsachen. "Minderung der Pull-Faktoren" heißt dies im Jargon der Flüchtlingsbekämpfung, die Abschreckung künftiger Flüchtlinge durch die schlechte Behandlung von Asylbewerbern.

So ist der Umschwung in der Anerkennungspraxis gegenüber irakischen Flüchtlingen nicht einer veränderten Lage vor Ort, sondern lediglich einer Neuinterpretation längst bekannter Verhältnisse geschuldet. Allgemein gilt schon seit Jahren, daß Flüchtlinge sich zuerst um Zufluchtmöglichkeiten innerhalb des eigenen Landes zu bemühen haben, ehe sie einen Anspruch auf internationalen Schutz geltend machen können. Eine solche "inländische Fluchtalternative" wird im kurdischen Nordirak gesehen, wo die zentralstaatlichen Behörden derzeit keine Herrschaftsgewalt besitzen. Hier galt in der deutschen Asylpraxis bislang jedoch die Einschränkung, daß eine Fluchtalternative nur für Menschen zumutbar sei, die über soziale und familiäre Anbindungen vor Ort verfügen, ohne die ein menschenwürdiges Leben in der Armutsregion nicht gesichert sei. Damit blieben in der Regel zumindest arabische Flüchtlinge vor dem Verweis auf den kurdischen Nordirak bewahrt.

Die erforderliche Ausnahme von der Regel entdeckte im Dezember 2001 das Oberverwaltungsgericht Magdeburg. Insassen von Flüchtlingslagern im kurdischen Nordirak erhielten, so rechnete sich das Gericht aus mehreren Gutachten zusammen, durchschnittlich 2.229 Kilokalorien am Tag aus Lebensmittelpaketen der Vereinten Nationen und internationaler Hilfsorganisationen. Das ist nach Meinung der Magdeburger Richter allemal "als ausreichend anzusehen, weil der zusätzliche Energieaufwand der Flüchtlinge, die insbesondere keiner Arbeit nachgehen, gering ist". Das physische Minimum hingegen liege laut Pschyrembel bei 1.600 Kilokalorien, also weit unter der verteilten Menge. "Zwar ist eine erhöhte Energiezufuhr wünschenswert", menschelt das Gericht in seiner Begründung, "das Bedarfsminimum ist jedoch (...) gewahrt."
Auch wenn das Urteil mittlerweile vom Bundesverwaltungsgericht aufgrund verfahrenstechnischer Mängel kassiert worden ist, wurde die Vorlage bereitwillig aufgegriffen. So berichtet das Auswärtige Amt in seinem Lagebericht über die "asyl- und abschieberelevante Menschenrechtslage" im Irak am 20. März ebenfalls, Insassen von Flüchtlingslagern erhielten 2.230 Kilokalorien täglich sowie zusätzlich Zelte, Decken und Heizkörper. "Die Flüchtlingslager der Vereinten Nationen", heißt es weiter, "weisen Personen aus Zentralirak nicht ab", woraufhin auch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge seine internen Leitsätze zum Irak umgehend korrigierte. "Soweit es auf die Existenzbedingungen in den Flüchtlingslagern im Nordirak ankommt", erklärt die Amtsleitung nun ihren Mitarbeitern, "sind sie im asylrechtlichen Sinne ausreichend." Seitdem befindet sich die Anerkennungsquote im freien Fall. Praktisch jeder Iraker, egal ob Kurde oder Araber, kann nunmehr auf den Nordirak verwiesen werden.

Einzig - die "Flüchtlingslager der Vereinten Nationen", von denen das Außenamt spricht, existieren gar nicht. Und auch davon, daß Flüchtlinge im Nordirak "Schutz vor dem Zugriff Bagdader Sicherheitsdienste haben", kann keine Rede sein. Denn was an Lagern existiert, wird nicht von den UN unterhalten, die über kein Mandat für Binnenflüchtlinge verfügen, sondern von der lokalen kurdischen Verwaltung. Bei den Insassen handelt es sich fast ausschließlich um Kurden aus der Region Kirkuk, die während der letzten Jahre im Rahmen sogenannter Arabisierungsmaßnahmen von der irakischen Regierung vertrieben und in den Nordirak deportiert wurden. Ihnen verweigern die kurdischen Parteien zumeist das Recht, sich im Nordirak anzusiedeln, um den demographischen Anspruch auf Kirkuk nicht zu verlieren. Aber auch um sie von den Städten fernzuhalten, deren Vororte sich unter dem stetigen Zuzug von Flüchtlingen und Internal Displaced Persons (IDP) zusehends in Slums verwandelt haben. Die Lager, die sie bewohnen, sind armselige Siedlungen aus Zelten und selbsterbauten Hütten, die sich in unmittelbarer Nähe zur Demarkationslinie befinden, die Kurden und zentralirakische Truppen voneinander trennt. Regelmäßig werden diese Lager von der irakischen Seite beschossen, ohne daß die Behausungen der Bewohner einen sicheren Schutz böten, der den Geschossen standhielte. So zum Beispiel in Bardaqaram, einem der größten IDP-Lager, das gleich von drei irakischen Militärposten umgeben ist. Im Juli wurde hier ein siebenjähriger Junge von irakischen Soldaten beim Spielen erschossen - nichts Ungewöhnliches in der sicheren Fluchtalternative. Arabische Flüchtlinge aus dem Zentralirak finden in diesen Lagern keine Unterkunft. Sie halten sich verborgen - vor den kurdischen Behörden, die ihnen misstrauen, genauso wie vor irakischen Spitzeln. Gleich mehrere Anschläge auf arabische Familien, die aus dem Iran zurückgekehrt sind, haben dazu geführt, daß das UNHCR diese nunmehr unter falscher Identität versteckt.

Daß deutsche Behörden derartige Probleme nicht zur Kenntnis nehmen wollen, hat System. Anfang 1998 erklärte die Bundesregierung die Verhinderung eines weiteren "Zustroms irakischer Flüchtlinge" zur vordringlichen Aufgabe innen- und außenpolitischer Ressorts auch auf EU-Ebene. Auf Drängen des damaligen Bundesinnenministers Manfred Kanther setzte die Europäische Kommission die sogenannte K 4 Expertengruppe ein, die das Zusammenspiel von Prävention und innenpolitischer Repression zur Bekämpfung irakischer Flüchtlinge koordinieren sollte. Der Schlüssel, mit dem der international isolierte Irak für die Rückführung von Flüchtlingen geöffnet werden soll, stellte nunmehr der kurdische Nordirak dar. Das Konzept einer internen Fluchtalternative in der Region wurde über K 4 in allen europäischen Ländern durchgesetzt. Seitdem sinken europaweit die Chancen irakischer Flüchtlinge auf eine dauerhafte Anerkennung. In den Niederlanden beispielsweise wurde auf diesem Wege der Anteil anerkannter irakischer Asylbewerber binnen eines Jahres von 72 Prozent auf 4,8 Prozent gesenkt.

Bevor es soweit kommen konnte, mußten zuerst jedoch die allgemeinen Kriterien zur Bestimmung von Fluchtalternativen frisiert werden. Denn den bis dahin gültigen Anforderungen, die sich aus dem in der Genfer Flüchtlingskonvention formulierten internationalen Flüchtlingsrecht ergeben, entsprach die kurdische Region keineswegs. Vor allem der geforderten Dauerhaftigkeit, die voraussetzt, daß der Fortbestand der Region auch über den heutigen Tag hinaus angenommen werden kann, widersprachen die politischen Bedingungen der kurdischen Selbstverwaltung, die weder international anerkannt ist, noch über sichere Schutzgarantien verfügt. Nach wie vor ist die kurdische Region vielmehr integraler Bestandteil des irakischen Staatsverbands und weder rechtliche noch praktische Instrumentarien existieren, die den irakischen Staat daran hindern könnten, von seinem Hoheitsrecht auch im Nordirak wieder Gebrauch zu machen. Irakische Panzer könnten jederzeit in der Region einrollen, ohne auch nur gegen ein internationales Recht zu verstoßen.

Noch im Frühjahr 1998 stellte das UNHCR für den Irak daher fest, daß die "interne Flucht keine realistische Alternative zur grenzüberschreitenden Flucht darstellt" und "irakische Flüchtlinge unbedingt internationalen Schutzes bedürfen". Wenige Tage später lenkte das chronisch unterfinanzierte Kommissariat auf Druck der EU ein und wollte von derartigen Bedenken nichts mehr wissen. Wunschgemäß strich das UNHCR im April 1998 das Kriterium der dauerhaften Sicherheit aus seiner Stellungnahme zum Nordirak. Übrig blieben als einschränkende Kriterien lediglich die kulturelle und soziale Integrationsmöglichkeit, während von Sicherheit und Freiheitsrechten der Betroffenen keinerlei Rede mehr war.

Nun schlug die Stunde der Experten. Weil nicht zählt was ist, sondern was sein könnte, stellt das Auswärtige Amt seitdem Überlegungen an, warum die irakische Armee im kurdischen Nordirak nicht einzumarschieren plant. In der aktuellen Lageanalyse glauben die Experten, daß "die im Gefolge der Terroranschläge des 11. September 2001 veränderte politische Lage ... einen Vorstoß der irakischen Zentralgewalt in die Kurdengebiete ... in hohem Maße unwahrscheinlich" machen würde, "da jegliche Verletzung des status quo mit großer Wahrscheinlichkeit Vergeltungsaktionen mit dem Ziel des Regimewechsels auslösen würde". Menschenrechtsorientierte Außenpolitik bedeutet, dafür zu sorgen, daß dies nicht eintrifft. Daß umgekehrt aus der Fluchtalternative eine Todesfalle werden kann, wenn nämlich bei einem militärischen Konflikt irakische Panzer einmal mehr die Kurden niedermachen wollten, verschweigt das Amt. Denn die rettende Grenze zur Türkei ist mit über Hermesbürgschaften finanziertem Hightech aus Deutschland heute besser abgeschottet, als dies 1991 noch der Fall war, ein Entkommen kaum noch möglich.

Wer an dieser Sicherheit zweifelt wird an die unabhängigen Experten des Deutschen Orient-Instituts verwiesen, deren Gutachten die wichtigste nicht-staatliche Erkenntnisquelle in den Asylverfahren darstellt. Vor allem der wissenschaftliche Mitarbeiter Aziz Alkasaz bemüht sich seit Jahren besonders intensiv um Erkenntnisse über den Irak. Alkazaz ist zugleich Generalsekretär der Deutsch-Irakischen Gesellschaft, Gründer und Vorsitzender der Irakischen Initiative für Gerechtigkeit und Völkerverständigung (IGV), sowie leitendes Mitglied des Kongresses der Auslandsiraker (al-Mughtaribin), der "in regelmäßigen Abständen zu einer Konferenz in den Irak eingeladen wird. Ziel dieser Veranstaltungen", berichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz, "ist es, die im Ausland lebenden Iraker dazu zu bewegen, sich in ihrem derzeitigen Wohnland in jeglicher Hinsicht für die Belange des Irak einzusetzen." Kurz, ein Anwerbeverein für irakische Spitzel. Sein Geld bekommt das Institut dennoch weiter aus Berlin, vom Auswärtigen Amt. Um die Unabhängigkeit zu wahren.

erschienen in Konkret Nr. 12, Dezember 2002


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: info@wadinet.de