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Weder Volksaufstand noch Zweifrontenkrieg

Die Feiern zum Jahrestag des Sturzes von Saddam Hussein fielen aus. Stattdessen erschüttern ein Aufstand der islamistischen Sadr-Milizen und die Belagerung Fallujas den Irak.


von Thomas von der Osten-Sacken, Suleymaniah


Was westliche Journalisten einen Bürger- oder Zweifrontenkrieg nennen und ihre arabischen Kollegen als irakische Intifada bezeichnen, kam sowohl bezüglich seines Zeitpunkts als auch seiner Intensität unerwartet. Aber so richtig überraschend war es auch nicht. Seit Monaten warnen Geheimdienste vor zunehmendem Terror und offenen Revolten im Irak angesichts der sich nähernden Übergabe der Souveränität an eine irakische Regierung am 30. Juni. Sowohl die Nachbarländer des Irak als auch radikale Gruppen innerhalb des Landes versuchen mit allen Mitteln, den in die Wege geleiteten Transformationsprozess zu sabotieren.

Um so erstaunlicher ist, dass offenbar große Teile der US-amerikanischen und britischen Administrationen von der Revolte des schiitischen Radikalen Moqtada al-Sadr und dem heftigen Widerstand in Falluja kalt erwischt wurden. Es dauerte Tage, und es gab unzählige Tote auf allen Seiten, bis die US-Regierung zugab, mit der bislang schwierigsten Situation seit Kriegsende im Irak konfrontiert zu sein. Ganze Städte sowie Teile Bagdads befanden sich zeitweilig unter Kontrolle von aufständischen Milizen, Dutzende Ausländer wurden entführt, irakische Polizisten liefen über und ukrainische Soldaten räumten der Mahdi-Miliz in der südirakischen Stadt Kut das Feld.

In den vergangenen Tagen ist der Irak, wie zuvor von al-Qaida auf der einen, von der US-Regierung auf der anderen Seite angekündigt, in jeder Hinsicht zur vordersten Front des »War on Terror« geworden. Involviert sind dabei lokale Milizen sowohl radikaler schiitischer wie sunnitischer Provenienz, die aus Iran, Syrien, Saudi-Arabien und den palästinensischen Gebieten unterstützt werden, Überreste ehemaliger Eliteeinheiten der irakischen Sicherheitsdienste und die wahabbitische Ansar al-Islam. Unzählige unzufriedene und frustrierte Irakis aus den Slums von Bagdad, Basra und anderen Städten, vor allem im so genannten sunnitischen Dreieck, auf dessen Bewohner sich der Machtapparat Saddam Husseins vornehmlich gestützt hatte, beteiligten sich an den Aktionen.

Kampffeld Medien

Kampffeld waren nicht nur die Städte des Zentral- und Südirak, sondern auch die Medien. In arabischen Satellitensendern wird Falluja als Stadt des irakischen Widerstandes gefeiert, während Bilder toter Zivilisten und die Rede von einem US-amerikanischen Massenmord an Arabern die Gemüter erhitzen sollen. Wie vor einiger Zeit die bewaffneten Auseinandersetzungen in dem palästinensischen Flüchtlingslager Jenin wird der Kampf um Falluja heute als gezieltes Massaker an Frauen und Kindern dargestellt. Solidaritätskundgebungen mit den »Helden von Falluja« fanden in verschiedenen palästinensischen Städten statt, und Libyen erklärte den 10. April zum Nationalfeiertag. Den arabischen und iranischen Medien haben weder die von den USA geführte Koalition noch der irakische Regierungsrat viel entgegenzusetzen. Auf 47 arabischsprachige iranische Radiostationen für den Irak kommt eine irakische.

Es wird, schreibt ein Bagdadi in seinem Internetlog Healingiraq, täglich klarer, dass »verschiedene Länder und Mächte im Irak einen Stellvertreterkrieg gegen die USA führen und die Irakis das Öl und das Feuer dieses Krieges sind«. Der exiliranische Journalist Ahmed Taheri bezeichnet die jüngst ausgebrochenen Kämpfe sogar als zweite Phase des Krieges, als Kampf mit den Nachbarstaaten, die alles in ihrer Macht Stehende unternähmen, um die Stabilisierung des Irak zu verhindern.

Aber ohne Unterstützung aus dem Irak kann ein solcher »Stellvertreterkrieg« weder geführt noch gewonnen werden. Und obgleich die überwältigende Mehrheit der irakischen Bevölkerung bislang weder den Sadr-Milizen noch den Kämpfern von Falluja besondere Sympathien entgegenbringt, obgleich alle einflussreichen irakischen Parteien seit langem von der Koalition ein Einschreiten gegen die Aufständischen gefordert haben, rächen sich schon jetzt die faulen Kompromisse, die die USA in der Vergangenheit mit Islamisten und arabischen Nationalisten eingegangen sind.

Wie aus Bagdad und dem Süden berichtet wird, haben Sadr und seine Milizen in den vergangenen Monaten säkulare und gemäßigte Gruppierungen gezielt eingeschüchtert, während sie unter Arbeitslosen und Unzufriedenen neue Anhänger rekrutierten. Einwohner der südirakischen Stadt Amara kritisierten schon im vergangenen September heftig, dass die Koalition keine Schritte unternahm, um den Tugendterror von Sadrs Anhängern zu unterbinden. Am 7. April forderten 19 namhafte Intellektuelle aus allen Landesteilen in einem offenen Brief an den US-Zivilverwalter Paul Bremer die Koalition auf, gegen illegale Milizen und andere Unruhestifter vorzugehen. »Dies ist der einzige Weg, um mit gewalttätigen Protesten umzugehen, die unserem Land und der Etablierung demokratischer Verhältnisse nur Schaden zufügen.« Der Haftbefehl eines irakischen Richters gegen Moqtada al-Sadr liegt seit Monaten wegen des Verdachts vor, er habe mit iranischer Unterstützung im April 2003 den Mord an dem moderaten Ayatollah Majid al-Khoei veranlasst.

Auswärtige Verbindungen

Warum, so fragten in den vergangenen Tagen irakische Zeitungen, schauten die USA monatelang zu, wie Sadr immer engere Verbindungen mit dem Iran knüpfte? Angaben der aus Saudi-Arabien finanzierten Zeitung Al Shark al Awsat zufolge sollen Unterstützungszahlungen des Iran an Sadr sich auf 70 Millionen US-Dollar monatlich belaufen haben. Im Iran soll es drei militärische Ausbildungslager der Mahdi-Miliz geben. Seit langem agiert ein ausgedehntes Netzwek von iranischen Agenten im Irak, das direkt dem Büro Ali Khameneis, des geistigen Führers des Iran, untersteht. So konnten sich in Sadr City, Kerbala, Nadjaf und Kufa Parallelinstitutionen bilden, die finanziell und logistisch von Teheran abhängig sind, ohne dass die Koalition bislang sichtbar gegen diese Entwicklung eingeschritten ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem sunnitischen Dreieck, in dem die meisten Städte bereits wenige Wochen nach Kriegsende weitgehend sich selbst überlassen wurden. Alte ba?athistische Strukturen blieben intakt, während die US-Amerikaner mit Stammeschefs und lokalen Notabeln Abkommen aushandelten, die zum Abzug der GIs aus diesen Städten führten. In Falluja üben seitdem de facto internationale Jihadisten und ba?athistische Milizen die Macht aus. Die westlich von Bagdad und nahe der syrischen und saudischen Grenze gelegene Stadt wurde mit großzügiger Unterstützung aus Saudi-Arabien zu einer Art »Peschawar des Irak« ausgebaut, von dem aus Terrorgruppen weitgehend ungestört agieren konnten. Anders als in anderen Teilen des Irak genießen sie dabei weitgehende Unterstützung der lokalen Bevölkerung.

Während die USA den Irakis »Rule of Law« und Demokratie versprachen und Irakis, wo sie wählen konnten, etwa in Stadträten und Kommunen, mehrheitlich für säkulare oder moderate Kanditaten stimmten, bildeten sich in verschiedenen Teilen des Landes Enklaven der Rechtlosigkeit und Hochburgen radikaler Islamisten.

Wieso die USA und ihre Koalition im Vorfeld weder Schritte unternommen haben, um Sadrs Miliz aufzulösen, noch sich um eine effektive Befriedung Fallujas bemüht haben, sind zwei der vielen Fragen, die man sich im Irak dieser Tage stellt. Denn keineswegs handelt es sich bei den »Aufständischen« an erster Stelle um unzufriedene Jugendliche, die gegen die Okkupation demonstrieren, oder um spontane Unmutsäußerungen. Vielmehr kämpfen US-Marines und Einheiten der neuen irakischen Armee in Falluja gegen ausgebildete jihadistische Kämpfer und ehemalige Mitglieder der republikanischen Garden, die genügend Zeit hatten, die Stadt entsprechend zu präparieren, und nun von Moscheen, Schulen und anderen Gebäuden aus operieren.

Die Sadr-Milizen erhalten eine paramilitärische Ausbildung und sollen u.a. von iranischen Revolutionsgardisten geführt werden. In ihrem martialischen Auftreten kopiert die Miliz bewusst die im Irak gefürchteten Fedayin Saddam. Sadr selbst ernannte sich vor kurzem zum »irakischen Arm von Hamas und Hizbollah« im Irak und pries vor seinen »Tod den Juden« skandierenden Anhängern den 11. September 2001 als Geschenk Gottes. Auch wenn in der Auseinandersetzung mit ihm die USA die Initiative ergriffen, indem sie sein Hetzblatt Al Hawza am 28. März verboten und einen seiner engsten Mitarbeiter, Mustapha Yacoubi, wegen des Mordes an Ayatollah al-Khoei festnehmen ließen, scheint Sadr bereits zuvor eine Art Aufstand geplant zu haben.

Vereint gegen die USA?

Nach der Tötung Sheikh Yassins durch die israelische Armee im März ist die palästinensisch-sunnitische Hamas, die seitdem unter einer Führungskrise leidet, unter syrischer und iranischer Patronage in Damaskus ein antiamerikanisches Kampfbündnis mit der libanesisch-schiitischen Hizbollah eingegangen. Die nun offiziell in Damaskus vereinbarte Kooperation zwischen sunnitischen und schiitischen Terrorgruppen scheint im Irak erste Früche zu tragen. Es gab Solidaritätserklärungen von Sadr an die »Helden von Falluja«, die umgehend ihrerseits tiefe Verbundenheit mit der Mahdi-Armee bekundeten, und Einheiten der Hizbollah sollen im sunnitischen Dreieck operieren. Umgekehrt haben nach Angaben des Christian Science Monitor der Hamas nahe stehende Palästinenser in Bagdad der Mahdi-Armee ihre Dienste als Selbstmordattentäter angeboten. Die Hamas habe außerdem in verschiedenen irakischen Städten Rekrutierungsbüros eröffnet.

Auf der anderen Seite des islamistischen Spektrums steht die wohl von Abu Musab al-Zarqawi geführte und angeblich der al-Qaida verbundene Ansar al-Islam, die streng wahabbitisch ausgerichtet ist und alle Bündnisse mit Schiiten, die Zarqawi als »Söhne von Affen« beschimpft, strikt ablehnt. Dabei herrscht innerhalb der angeblich mit al-Qaida verbundenen Gruppen im Irak offenbar zunehmend Uneinigkeit über ihre weitere Strategie. Einige lehnen jede Zusammenarbeit mit Ba?athisten ab, andere verfolgen weiter das Ziel, Massaker an Schiiten zu verüben, um das Land in einen interkonfessionellen Bürgerkrieg zu stürzen.

Noch allerdings hält die Revolte gegen die USA die unterschiedlichen Fraktionen zusammen, ihnen gemeinsam ist der Wille, den Irak zu destabilisieren. Und dieses Ziel teilen sie mit ihren Auftraggebern und Unterstützern in Damaskus, Teheran und Riad.

Denn die USA haben mit ihrem Plan, den Nahen Osten grundlegend zu verändern, die Regierungen der Region in Angst und Unruhe versetzt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Nachbarstaaten mit vereinten Kräften versuchen, den Irak ins Chaos zu stürzen. Und dies ist zum Jahrestag des Sturzes Saddam Husseins auch weitgehend gelungen. Hilfsorganisationen verlassen überstürzt das Land, der Regierungsrat steckt in einer tiefen Krise, Teile der neuen irakischen Polizei erweisen sich als unzuverlässig, und tagelang schien es, als hätten die USA die Kontrolle über das Land verloren. Selbst im kurdischen Nordirak, wo man sich auf die Feier des 9. April vorbereitet hatte, begann sich in der Bevölkerung eine Angst auszubreiten, die nach dem Sturz Saddam Husseins überwunden geglaubt schien. Mit entsprechender Erleichterung wurden dann auch die Meldungen aus dem Süden aufgenommen: Kut war von Koalitionstruppen und lokalen Milizverbänden zurückerobert worden, in Basra, Amara, Nassiriya und Diwaniya sei Ruhe eingekehrt.

Aufstand eingedämmt

Offenbar ist der Aufstand der Mahdi-Armee fürs erste eingedämmt, wenn nicht gescheitert. Alle anderen einflussreichen schiitischen Parteien haben sich deutlich von Sadr distanziert. In einer Fatwa rief am Freitag Ayatollah Ali Sistani zur Ruhe auf. In Nassiriyah erklärte ein führender schiitischer Kleriker, Wael al-Rukadi, dass ein Abzug ausländischer Trupppen das Land in einen Bürgerkrieg aller gegen alle stürzen würde. Der US-amerikanische Wissenschaftler Michael Rubin, der jahrelang im Nordirak gelebt und im vergangenen Jahr als Berater für die CPA gearbeitet hat, berichtet, dass im Süden sogar offene Erleichterung über die Niederlage der Mahdi-Armee herrsche.

Am vergangenen Wochenende konzentrierten sich die Kämpfe erneut auf das sunnitische Dreieck und einige Stadviertel Bagdads. Der gefürchtete schiitische Volksaufstand, der, wäre er ausgebrochen, Tausende von Toten auf allen Seiten gefordert hätte, scheint ausgeblieben zu sein.

Derweil haben Mitglieder des Regierungsrates einen Waffenstillstand in Falluja ausgehandelt. Die »Strafaktion« der Marines in Falluja wurde zuvor einhellig von prominenten Mitgliedern des Rates als unverhältnismäßig kritisiert. Inzwischen haben 60 000 Menschen Falluja verlassen, Lebensmittel und Medikamente in der belagerten Stadt gingen zur Neige, erklären Hilfsorganisationen. Ohne diejenigen, die Ende März vier Amerikaner töteten und ihre Leichen verstümmelten, würden die Marines nicht abziehen, hatten die USA zunächst erklärt.

Sollten sich in den kommenden Wochen die Gefechte auf den Zentralirak beschränken, hätte die Koalition vorerst das Schlimmste abgewendet. Der entstandene Schaden und der Vertrauensverlust aber sind immens. Die erste Aprilwoche hat nicht nur gezeigt, in welches Chaos der Irak stürzen würde, sollte die von den USA angeführte Koalition frühzeitig abziehen, sondern auch, welchen Einfluss die Nachbarstaaten auf die Geschicke des Landes ausüben. Die Mehrheit der Irakis hat bislang die Auständischen nicht unterstützt, aus unterschiedlichen Gründen ? Unzufriedenheit, Angst und Unsicherheit ?, allerdings auch keine Gegenmaßnahmen ergriffen. Radikale Gruppierungen verfügen innerhalb des Irak über genügend Rückhalt, um die Koalition und die neue irakische Verwaltung in eine tiefe Krise zu stürzen. Niemand in der US-Administration mag sich auch nur ausmalen, was geschehen würde, wenn Ayatollah al-Sistani eines Tages die Seiten wechselte und in einer Fatwa zum Jihad gegen die USA aufriefe.


erschienen in Jungle World Nr. 17 vom 14. April 2004


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