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Wo waren sie damals?

Erinnerungspolitik im neuen Irak

Zwei Jahre nach der Befreiung des Irak vom Ba’th-Regime erstreckt sich über das gesamte Land ein Museum des Grauens. Auch wer nicht sehen will, stolpert unweigerlich über die Vergangenheit: tausende zerstörte Dörfer, Massengräber und von Größenwahn zeugende Ba’th-Basen. Doch inzwischen erinnern auch die ersten Gedenkstätten an die Opfer.

von Mary Kreutzer

Diese Gedenkstätten befinden sich im – teilweise seit 1991, streckenweise erst seit 2003 – befreiten Nordirak, v.a. in der Hauptstadt des von der Patriotischen Union Kurdistan (PUK) kontrollierte, kurdische Gebiet. So thront bei der Einfahrt nach Suleymania eine riesige Statue einer heroischen Frau, welche die Ketten der Terror-Herrschaft, die sie fesselten, zerbricht.

Das so genannte Red Building in Suleymania, das ehemals als Gefängnis, Folterzentrum und Ba'th-Parteizentrale diente, wurde in eine Gedenkstätte samt Museum umgewandelt. Das Gebäude, das 1991 nach tagelangen Kämpfen von der kurdischen Zivilbevölkerung gemeinsam mit den Peshmergas, den WiderstandskämpferInnen der PUK, eingenommen werden konnte und aus dem überlebende Häftlinge befreit wurden, ist teilweise im Originalzustand belassen. In dieser Gedenkstätte wird auch eigens der Frauen gedacht, die in der ehemaligen „Familienabteilung“ jahrzehntelang erniedrigt, gefoltert und systematisch vergewaltigt wurden. Das Red Building diente zu Saddams Zeiten als Übergangslager. Hier wurden die Inhaftierten unter Anwendung verschiedener Folterinstrumente vernommen, um dann nach Bagdad in das Abu-Ghraib-Gefängnis überstellt zu werden, welches nur die Wenigsten wieder lebend verließen.

In der nordkurdischen Stadt Halabja befinden sich etliche Stätten, die an den Giftgasangriff von 1988 erinnern. Damals wurden auf Befehl von Ali Hassan al-Majid (dem „Chemical Ali“ genannten Cousin von Saddam Hussein) Tausende KurdInnen mittels deutschem Giftgas und österreichischen Kanonen ermordet. Einige der Massengräber in Halabja sind mit Erinnerungstafeln und –monumenten markiert, doch die Bestattung der Leichen in Einzelgräber ist noch lange nicht abgeschlossen. Das Halabja-Memorial-Center dokumentiert die Vernichtungskampagne gegen die Kurden. In einem eigenen Raum werden aber auch Werke von irakischen KünstlerInnen über die damaligen Geschehnisse ausgestellt.

Krieg um die Vergangenheit

Auch wenn im Nordirak der Verbrechen der Saddam-Schergen auf diese Weise gedacht wird und den Überlebenden und Angehörigen Orte des Trauerns und Erinnerns gegeben wurden, so war es bis jetzt noch nicht möglich, die Verstrickung mancher KurdInnen in die Verbrechen der Ba'thisten zu thematisieren. Die kurdischen Kollaborateure wurden 1991 ausnahmslos amnestiert und erhielten zum Teil offizielle Ämter in der kurdischen Verwaltung zugeschanzt. Gleichzeitig wurden hunderte Frauen, denen Beziehungen mit Ba'thisten vorgeworfen wurden, im Namen der „Ehre“ brutal ermordet. Die Täter wurden bis heute nicht vor Gericht gestellt (siehe Mollenhauer/Uwer, iz3w 250). Auch die Kollaboration der KDP von Masud Barzani, welche das zweite kurdische Gebiet im Nordirak verwaltet und die im blutigen Bürgerkrieg zwischen KDP und PUK (1994 – 1996) nicht davor zurückschreckte, Saddams Truppen in Arbil/ Hawler einmarschieren zu lassen, ist bislang kein Thema der öffentlichen Debatte. Ebenso verhält es sich bei den Verbrechen des innerkurdischen Bürgerkrieges, der anfänglichen Zusammenarbeit der PUK mit den Islamisten im Nordirak und der Ermordung von Arbeiterkommunisten im Jahr 2000. [1]

Noch schwieriger als im Nordirak gestaltet sich die Befassung mit der Vergangenheit in den anderen Landesteilen. „Heute wollen alle plötzlich im Widerstand gegen Saddam gewesen sein. Doch wo waren sie damals, als uns die Ba'thisten abschlachteten?“ fragt sich Kassim Talaa, ein irakischer Kommunist aus Bagdad, der seit über 30 Jahren im Exil in Wien lebt. Er sieht die Entwicklungen im Irak pessimistisch. Im Südirak herrschen heute islamistische und terroristische Banden. Und anstatt Abu Ghraib in Bagdad als Gefängnis sofort aufzulösen und in eine Gedenkstätte zu verwandeln, wurde es zum Schauplatz der Folterungen durch US-SoldatInnen. So hat es sich statt zu einem Symbol der Befreiung in ein Symbol der Besatzung verwandelt.

Seit der Ankunft der Alliierten Truppen wütet im Irak ein weiterer Krieg: jener um die Millionen von Dokumenten, mit denen die Ba'thisten akribisch ihre Verbrechen belegten. Als die Folterzentren, Partei-Lokale und Ministerien gestürmt wurden, verschwanden unzählige Schriftstücke. Sie befinden sich heute in verschiedenen Händen. Die etwa 30 MitarbeiterInnen des Dokumentationsarchivs Iraq Memory Foundation konnten jedoch rund elf Millionen Schriftstücke retten. Sie versuchen weiterhin, Zeitzeugnisse zu sammeln und aufzuarbeiten. Die Stiftung will nicht nur als wissenschaftliches Forschungsinstitut im Irak und in den USA dienen, sondern auch als Einrichtung, in der Angehörige nach ihren verschwundenen Verwandten suchen können, in der Täterforschung betrieben wird, Interviews mit Überlebenden geführt und künstlerische Bearbeitungen des erlittenen Traumas gesammelt werden .[2]

Für Kanan Makiya, dem Gründer der Iraq Memory Foundation, stellt sich als eine der wichtigsten Aufgaben des neuen Irak nicht der politische und institutionelle, sondern der moralische Wiederaufbau. Es gehe um die Frage, was es heute bedeute, „Iraker“ zu sein: „Um zu wissen wer du bist, musst du dich der Vergangenheit stellen.“ Er kritisiert in diesem Zusammenhang die Opferhierarchie, die Einzug in den Diskurs der verschiedenen Gruppen im Irak gefunden hat. Es ginge nicht darum, wer am meisten gelitten habe - ob Schiiten, Kurden, Turkmenen, Assyrer oder Kommunisten -, sondern darum zu einer irakischen Identität zu finden, die sich der traumatischen Geschichte und der eigenen Verstrickung darin bewusst wird. „Es kann durchaus sein, dass wir mit unserem Projekt zur Erforschung der Vergangenheit fünf, zehn oder fünfzehn Jahre zu früh dran sind. Diese sensiblen Prozesse brauchen viel Zeit, und das Blut an den Händen der Täter war 2003 beim Sturz des Regimes noch frisch. Vielleicht sind wir unserer Zeit zu sehr voraus“, so Makiya. Eine der Entdeckungen, die ihn am meisten schockiert habe, ist jene Kartei, mittels derer alle Oberstufen-SchülerInnen des Landes erfasst und samt Familienmitgliedern ideologisch durchleuchtet wurden. Tausende Spitzel waren damit beschäftigt, auf Märkten, in Kaffeehäusern oder in Moscheen „Gerüchte zu sammeln“ und zu Protokoll zu geben.

Nicht nur im Irak, auch im Ausland betreiben IrakerInnen aktiv Erinnerungspolitik. So hat sich beispielsweise der vor kurzem in Wien gegründete Österreichisch-Irakische Freundschaftsverein Iraquna [3] vorgenommen „der Opfer der 35 Jahre andauernden Diktatur Saddam Husseins zu gedenken und die Situation im Irak vor dem 9. April 2003 niemals zu vergessen.“ Ali Al-Zahid, der Initiator des Vereins, ist Sohn eines irakischen Lehrers, der 1982 wegen regimekritischen Aussagen monatelang gefoltert wurde, um anschließend samt seiner Familie des Landes verwiesen zu werden. Er wird den Tag der Befreiung nie vergessen. „Meine Eltern sind Teil jener irakischen Generation, die unter der Diktatur der Ba'th-Partei alles verloren hat. Wir saßen vor dem Fernseher, als die Statue Saddams gestürzt wurde, und weinten vor Freude. `Jetzt können wir in Ruhe sterben´, meinte meine Mutter. Der neue Irak ist alles andere als perfekt und es gibt enorm viel zu tun. Aber es liegt an uns und an der Unterstützung der zivilisierten Welt, einen Ort der Hoffnung und eine Gesellschaft zu schaffen, welche sich auch der Verantwortung gegenüber den Opfern der Diktatur stellt“, so Al-Zahid. [4]

Der Täter vor Gericht

Eine echte Bewährungsprobe für diesen Anspruch an Vergangenheitsbewältigung stellt der derzeit stattfindende Prozess gegen Saddam Hussein dar. Der in Suleymania lebende Fallah Murdakhin, Mitherausgeber der politik- und rechtswissenschaftlichen Zeitschrift Yasa, sieht dem Prozess gegen Saddam als Überlebender des Giftgasangriffes auf Halabja voller Optimismus entgegen. „Zum ersten Mal erleben wir in einem Land, das jahrzehntelang vom Terror regiert wurde, ein öffentliches und faires Verfahren. Davon wagten wir noch vor ein paar Jahren nicht einmal zu träumen. Wir, die Überlebenden, verfolgen den Prozess im Fernsehen sehr genau. Alte Wunden werden erneut aufgerissen, aber das ist gut so. Kein Wort der Entschuldigung kam über die Lippen dieser Kriminellen, am Ende werden sie dafür hängen.“ Ob er die Todesstrafe befürworte? „Hätten wir die Wahl, dann sollte Saddam jeden Tag hängen, für jeden Tag seiner Herrschaft und für jedes seiner Opfer. Es ist uns bewusst, dass die Todesstrafe, selbst für Saddam, nicht den internationalen Standards entspricht. Doch wo waren diese Standards während der letzten 35 Jahre? In dieser Zeit haben sich die meisten auf unsere Kosten bereichert. Heute wollen wir Iraker und Irakerinnen selbst entscheiden, was mit den Tätern geschehen soll.“

Doch die Täter sitzen nicht allesamt vor Gericht. Ein Teil von ihnen hat sich kurz nach der Befreiung in Terrorgruppen organisiert, ein Teil flüchtete ins Ausland. Ein anderer Teil hat sich mit der neuen Regierung, die sich gegen eine radikale Entbathisisierung ausspricht, arrangiert. Die Aufarbeitung dessen, was im Namen des Irak von Irakern anderen Irakern angetan wurde, wird daher noch lange auf sich warten lassen, auch wenn erste zaghafte Schritte gesetzt wurden.

Der irakische Schlussstrich

Aziz Miran erinnert sich an jenen Frühling im Jahr 1988, als er und weiter ExilirakerInnen vor der irakischen Botschaft in Wien gegen den Giftgasangriff auf Halabja demonstrierten. Aus dem Botschaftsgebäude heraus wurden sie nicht nur abfotografiert, sondern auch angeschossen. Die österreichische Polizei nahm die DemonstrantInnen (sic!) fest, sie mussten im Gefängnis übernachten. Als im November 2005 der Präsident des neuen Irak, Jalal Talabani, Wien besuchte, mischte sich der ehemalige ba’thistische Botschafter unter jene Irakis, die ins Hotel Imperial gekommen waren, um ihren Präsidenten zu sehen. Es gab keinen Skandal, er wurde nicht des Gebäudes verwiesen. „Wir müssen jetzt stark sein und in die Zukuft blicken, den neuen Irak aufbauen“, meint Aziz Miran. „Ohne mich“, sagt Kassim Talaa, der dem Empfang fern bleibt. „Ich werde zu keiner Veranstaltung gehen, wo die Henker von einst willkommen sind. Wie könnte ich ihre Hand schütteln und meine toten Genossen verraten?“


Mary Kreutzer
ist Redakteurin der in Wien herausgegebenen Zeitschrift Context XXI und Mitarbeiterin der im Irak aktiven Hilfsorganisation Wadi. Gemeinsam mit Thomas Schmidinger gab sie den Sammelband „Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?“ heraus (Ca Ira-Verlag, Freiburg 2004).


Anmerkungen:

1) Siehe Thomas Schmidinger: Zurück in die Zukunft? Vergangenheitspolitik und das Ende der Entba’thisierung im Irak. In: Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?, Freiburg 2004.
2) Eine empfehlenswerte Website des Vorgängerprojekts der Stiftung findet sich unter: http://www.fas.harvard.edu/~irdp/. Die Iraq Memory Foundation kann unter www.iraqmemory.org besucht werden.
3) Siehe www.iraquna.at
4) Siehe auch Context XXI (1-2/2005): Ali Al-Zahid: „Fassungslos“ und Suahad Al-Zahid/ Sana Ahmed-Al-Khalily: „Szenen zweier Frauen aus dem Irak“.


Artikel erschienen in iz3w Jan/Feb 2006


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