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Nicht gut. Weniger schlecht.

Die Idee einer Demokratisierung des Nahen Ostens mag verrückt erscheinen, aber sie ist alternativlos

von Thomas Uwer

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Die Begegnung im Dezember 1975 war ungewöhnlich. In der irakischen Botschaft in Paris traf Henry Kissinger, damals amerikanischer Außenminister, seinen irakischen Amtskollegen Sa'dun Hammadi zu einem »inoffiziellen« Gespräch, von dem außer einer vertraulichen Mitschrift nichts geblieben ist. Seit dem Putsch der »freien Offiziere« unter Abd al-Karim Qasem im Jahr 1958 war es um die Beziehungen zwischen beiden Staaten schlecht gestellt gewesen. Der coup d'état der Ba'th-Partei 1968 und die darauffolgende »revolutionäre« nationale Front-Regierung aus Ba'thisten und Kommunisten hatten die gegenseitige Ablehnung nur verstärkt. Zum Zeitpunkt des Treffens war das ba'thistische System bereits fest etabliert, die (mitregierenden) Kommunisten waren wieder zur Jagd frei gegeben, die Erdölförderung verstaatlicht, ein milliardenschwerer Waffendeal war mit der Sowjetunion abgeschlossen und Israel der Krieg erklärt worden. Der ba'thistische Irak strebte die Rolle der führenden Nation des arabisch-nationalistischen Blocks an, mit allem, was dazu gehört: Schauprozesse gegen »zionistischen Spione« und öffentliche Hinrichtungen, Militärparaden und Superkanonen.

Als Kissinger die irakische Botschaft aufsuchte, stand der Ba'th-Staat kurz vor dem Höhepunkt regionaler und innerer Machtentfaltung. Zwar hatten der Hass auf Israel und die USA zum ideologischen Repertoire aller irakischen Regierungen gehört, doch war es die Ba'th-Regierung, die mit dem Versprechen antrat, die Vernichtung der Feinde auch umzusetzen. Man muß nicht groß über die Schwierigkeiten diplomatischer Beziehungen nachdenken, um die Absurdität der Situation zu erkennen: Kissinger suchte genau dann das Gespräch, als der Irak besonders feindselig und zugleich gefestigt genug war, um auf Angebote aus Washington leichter Hand verzichten zu können.

Durch den Lieferanteneingang buhlte die amerikanische Regierung um die Gunst der arabisch-nationalistischen Staaten, die sich mit der Sowjetunion verbündet hatten. Kissingers Auftrag war klar und pragmatisch: Kooperation wirkt gemeinhin mäßigend und auch wenn Mäßigung bereits damals die teuerste zu erwerbende Ressource des Nahen Ostens darstellte, schien sie doch den Preis wert. Ein wenig Verständigung hier, ein Verzicht auf Feindseligkeiten dort, dafür lasse man die inneren Angelegenheiten des Irak innere Angelegenheiten bleiben. Und auch über Israel könne man reden: »We don't need Israel for influence in the Arab world«, sagte Kissinger der Mitschrift zufolge. »We can't negotiate about the existence of Israel, but we can reduce its size to historical proportions....« Das Angebot kam zu spät. Einen Monat zuvor hatte der Irak bereits ein Abkommen mit Frankreich über eine »nukleare Kooperation« geschlossen, das dem Ba'th-Staat die Möglichkeit geben sollte, die Ausdehnung Israels künftig nach eigenem Ermessen zu reduzieren. Kissinger ging, wie er gekommen war: Mit leeren Händen.
Heute ist der Ba'th-Staat Geschichte, der französisch-irakische Atomreaktor »Osirak« wurde von israelischen Kampfjets zerstört und der irakische Schiit Sa'dun Hammadi, der 1991 von Saddam Hussein zum Premierminister ernannt wurde, als die »Republikanischen Garden« die Schiiten im Südirak niedermetzelten, von amerikanischen Soldaten verhaftet. Nichts wird gut. Aber manches ist ein bißchen weniger schlecht geworden.

Daß es so kam und nicht noch schlechter, ist weder einem verspäteten Ende des Kalten Krieges im Vorderen Orient noch dem amerikanischen Werben um die arabisch-nationalistischen Regimes geschuldet. Diese haben sich ohne Sowjetunion nicht besser entwickelt als mit ihr, während umgekehrt die prowestlichen Oligarchien sich als nicht weniger anfällig für islamfaschistische Tendenzen erwiesen als jene Modernisierungsdiktaturen der »arabischen Nation«, die heute wie alte Gartenmöbel zusammenklappen - mit dem Unterschied nur, daß die einen sie finanzieren, während die anderen sie auszukosten haben. Die späte Einsicht nach dem 11. September 2001, daß vom Todespiloten bis zum vorbetenden Imam im Hinterland alle ihr Gehalt aus jenen Staaten bezogen, die als treueste Verbündete der USA galten, war lediglich ein Vorgeschmack auf das, was sich im Irak und anderen Ländern derzeit abzeichnet: Die Gesellschaften der gesamten Region sind zerrüttet, ihre Staaten nicht mehr funktionstüchtig; gleichzeitig mangelt es an Möglichkeiten, eine einigermaßen erträgliche Alternative diesseits des Paradieses zu entwickeln. Dies war bereits der Fall, bevor amerikanische Soldaten die Statuen Saddam Husseins vor dem Hotel Palestine in Bagdad niederrissen und ein paar leere Höhlen im afghanischen Tora Bora bombardierten. Kritisch festzuhalten bleibt, daß es nicht besser kam, als es ist.
»Die Vorstellung, daß im Irak plötzlich eine stabile Demokratie entsteht und den Rest der arabischen Welt verändert, überschreitet die Grenze zwischen neo-konservativ und neo-verrückt«. Diese Kritik kam nicht aus dem alten Europa, sondern aus einem jener berüchtigten amerikanischen Think-tanks, die immer dann herhalten müssen, wenn europäischen Linken kein besserer Schuldiger einfällt. Anthony Cordesman, ein Militär beim Center for Strategic and International Studies in Washington, formulierte Ende 2002, was als Essens der amerikanischen Kritik an der »Liberation Policy« der Bush Administration vor dem Irakkrieg gelten kann: Die avisierten Ziele der Befreiung Iraks seien verrückt. Über Alternativen aber schwieg man sich vornehm aus. So wurde der Unterschied zum alten Europa markiert durch eine Kritik am tatsächlichen Vorgehen, während man den zugrundeliegenden Befund teilte: Die Staaten des arabischen Nahen Ostens befinden sich in einer substantiellen Krise, die durch ein bißchen Mäßigung hier und ein wenig Zusammenarbeit dort nicht mehr zu bewältigen ist.

Anders als in Europa hatte der 11. September bewirkt, daß der Traum vom besseren Schlechten - der freundlichen Diktatur oder der treu verbündeten Oligarchie - geplatzt war. Eine fatale Mischung aus Ressourcenreichtum und Unterentwicklung, (mal islamischem, mal arabischem) Heilsversprechen und Unterdrückung hat bewirkt, daß die Menschen im Vorderen Orient mehr noch als um ein erträgliches Leben auch um die Idee gebracht wurden, daß ein solches möglich ist. Nicht die von der CIA gepäppelten Zöglinge aus dem Hause Saud, die in den afghanischen Bergen bewaffnet auf Sinnsuche gingen, sondern Gesellschaften, die unterhalb der bürokratischen Elite keine Perspektive zu bieten haben, bilden das schier unerschöpfliche Reservoir für einen globalen Djihad. Auf dem Weg zur Despotie ist die Grenze zum Verrückten schon vor Jahrzehnten überschritten worden.
An diesem Befund hat sich wenig geändert, auch wenn die Hoffnung auf eine Demokratisierung des Irak angesichts der Zustände im Land beinahe mit jedem Tag verrückter wird. Wie schlecht es um den Irak steht, belegen zwei Meldungen von ein und demselben Tag Ende Oktober. In der einen wird der irakische Premierminister Nouri al-Maliki zitiert, der nach einem Treffen mit dem schiitischen Miliz-Anführer Muktada al-Sadr verkündete, er freue sich auf die Hinrichtung Saddam Husseins. In der anderen wird berichtet, die südirakische Stadt Amara sei nach tagelangen Gefechten mit irakischen Polizeikräften von Sadr-Milizen eingenommen worden. Die gesamte Tragödie des Landes verdichtet in ein paar Zeilen: Der eine feiert den Neubeginn mit einer Hinrichtung und klopft dabei dem anderen auf die Schulter, dessen Milizen gerade das Land zerlegen.

Weil das so ist, sind die wenigen guten Nachrichten immer auch schlechte: Ja, es gibt einen anderen Irak. Der aber wird von den staatlichen und privaten Kopfabschneidern so bedrängt, daß man beständig um jene fürchtet, die für ihn stehen. Journalisten, Verleger, Menschenrechtler, Feministinnen, Gewerkschafter, Rechtsanwälte, Abgeordnete und manchmal auch einfache Schnapshändler werden von schiitischen und sunnitischen Todesschwadronen heimgesucht und wissen vielfach nicht einmal, wer es ist, der ihnen nach dem Leben trachtet.
Vieles davon hätte vermieden, anderes besser gemacht werden können, wäre die praktische Politik nur intelligent gewesen, was sie bekanntlich aber selten ist. Daß alle anderen Probleme auch den Amerikanern in Rechnung gestellt werden, ist jene Konsequenz der »Liberation Policy«, die konservative Kritiker der Bush-Administration, wie der zitierte Cordesman, so sehr fürchteten. Denn mit der Befreiung des Irak fiel der amerikanischen Regierung auch die Verantwortung für solche Entwicklungen zu, die sie selbst weder ausgelöst, noch gewollt hat.

Weil es schlecht steht um den Irak, von Afghanistan ganz zu schweigen, haben drei Jahrzehnte und eine handvoll Kriege nach dem Geheimtreffen von Paris die sogenannten Realisten wieder Konjunktur. Und mit ihnen die gegen jede Erfahrung resistente Option des geringeren Übels. Tatsächlich spricht sehr viel gegen eine erfolgreiche Demokratisierung des Nahen Ostens: Die weitgehende Zerstörung moderner Institutionen, die außerhalb vollständiger staatlicher Kontrolle existieren und, damit zusammenhängend, die Abhängigkeit großer Teile der Bevölkerung von traditionellen oder familiären Strukturen; die vollständige faktische wie rechtliche Unterwerfung des Individuums unter das (nationale oder konfessionelle) Kollektiv; die politische Ökonomie der Rentier-Staaten und bürokratischen Diktaturen, die das Entstehen einer selbstbewußten bürgerlichen Klasse genauso verhinderte wie die eines im Widerspruch zur herrschenden Form gesellschaftlicher Aneignung stehenden Proletariats und damit zugleich die Herausbildung eines Systems der Machtverteilung auf konkurrierende Institutionen. Die meisten dieser Argumente sind zu gut, um sie einfach abzutun, und alle zusammen lassen das Vorhaben einer Demokratisierung fraglos ein wenig neo-verrückt erscheinen. Sie sind zugleich aber das beste Argument gegen jene vermeintlich realistische Politik, welche die Malaise des Vorderen Orients nur zu verlängern vermochte und die den Arabern bestenfalls eine zur Mäßigung erpreßbare Diktatur übrig läßt.

Daß im Nahen Osten außer Autokratie nichts funktioniere, ist keine Erfindung westlicher Kulturalisten. Vor ihnen haben es arabische Nationalisten behauptet und nach ihnen jene Islamisten, die heute vielerorts das Sagen haben. »Die Amerikaner sollten die Iraker als Iraker betrachten und nicht als Amerikaner in Ausbildung«, sagt beispielsweise der Sprecher Muktada al-Sadrs, Baha al-Araji, und meint, Gewaltenteilung und Bürgerrechte mögen in den USA funktionieren, für den Irak seien sie indessen nichts. Die amerikanische Zeitschrift »Foreign Policy« fand das immerhin so geistreich, daß sie es unter der Überschrift »Why America will fail in Iraq« abdruckte. Daß aber noch der ärmste Fellach im Sumpfland von Amara wenigstens als Amerikaner zu behandeln sei, ist keine Zumutung, sondern eine universalistische Minimalforderung. Sie wird derzeit in weiten Teilen des Irak (den Nordirak ausgenommen) und in Afghanistan nur dort ansatzweise eingelöst, wo ein amerikanischer Panzer vor der Tür steht. Das ist nicht gut und es ist noch keine Demokratisierung. Aber es ist besser, als sich eine trügerische Ruhe zu erkaufen, indem man innere Angelegenheiten innere Angelegenheiten bleiben läßt und die Größe Israels ein wenig »reduziert«. Darunter ist eine laizistische Diktatur auch heute nicht zu haben.


Der Text ist - unter anderer Überschrift - erschienen in Konkret 12/2006.


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