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"Kein Volksaufstand ..."

Weil die Kurden im Irak George W. Bush lieber mögen als Saddam Hussein, hat die antiamerikanische Linke die Kurden aus ihrer Liste revolutionärer Völkerschaften gestrichen und interessiert sich nicht mehr für sie. Thomas von der Osten-Sacken sprach mit Ahmed Berwari, Vertreter der Patriotischen Union Kurdistans in Deutschland, über die Situation im Irak, die verzerrte Wahrnehmung in Europa und die Entsolidarisierung der Linken.

Interview:

Thomas von der Osten-Sacken


Thomas von der Osten-Sacken: Nach den verheerenden Anschlägen auf das Gebäude der UN in Bagdad und in Nadjaf heisst es in den Medien, dass der Irak jetzt im Chaos zu versinken drohe, ja gar eine «Afghanisierung» des Landes bevorstehe, die nur durch eine Stärkung der Rolle der UN abzuwenden wäre. So jedenfalls klingen die Erklärungen vor allem Deutschlands und Frankreichs.

Ahmed Berwari: Zunächst: Der Anschlag in Nadjaf stellt ein äusserst trauriges und verurteilenswertes Ereignis dar. Nicht nur, weil über hundert Menschen dabei umkamen, sondern weil eine bedeutende Persönlichkeit der ehemaligen irakischen Opposition Ayatollah al-Hakim getötet wurde. Er spielte eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des neuen Irak. Aber das Bild, das von den Medien verbreitet und von gewissen Kreisen in der Politik unterstützt wird, dass im Irak nur Chaos herrsche und das Leben von Anschlägen dominiert werde, ist übertrieben und einseitig.

Im Irak gibt es bedeutende Fortschritte, über die man so gut wie gar nicht redet. Die Elektrizitätsversorgung ist wesentlich besser geworden, das Schulsystem funktioniert und ebenso die Universitäten. Die Verheerungen von 35 Jahren Diktatur lassen sich nicht in zwei Monaten beheben. Aber es gibt viele sehr positive Entwicklungen überall im Land. Auch die Schaffung des Übergangsrates und die Ernennung von Ministern ist ein solches Zeichen.

Die Frage, ob die UN eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau des Irak oder bei der Gewährleistung von Sicherheit spielen sollte, wirkt auf mich etwas überholt. Die UN hätte eigentlich bei der Befreiung Iraks eine wichtige Rolle spielen sollen, so wie es die USA und England gerne gehabt hätten. Die Probleme, die heute im Irak herrschen, kann man durch die UN - eine extrem bürokratisierte Organisation - nicht lösen. Auch wenn die UN heute im Irak etwas schaffen will, kann sie ohne die Koalition nichts erreichen. Wir sind nicht gegen die UN, aber wir sind der Meinung, dass die Probleme im Irak nur zu lösen sind, wenn man die Iraker selbst bei der Entscheidung einbezieht. Es gibt aber andere Möglichkeiten den Irak zu unterstützen, finanziell etwa. Das alte irakische Regime hatte bei den meisten europäischen Ländern große Schulden, etwa 4 Milliarden in Deutschland, teilweise sogar noch aus der Zeit, als dem Irak das Know-How zur Produktion von chemischen Waffen geliefert wurde. Wenn es die europäischen Länder ernst meinen, dann sollten sie uns diese Schulden, die nicht wir, sondern Saddam Hussein gemacht hat, erlassen. Solche Formen der Hilfe werden benötigt. Wir fordern, dass unsere politischen Bemühungen unterstützt werden. Es wäre sehr erfreulich, wenn die Europäer die Bildung der Übergangsregierung und die neue irakische Regierung praktisch unterstützen würden. Dies würde weit mehr zur Stabilisierung des Irak beitragen als das Gerede über die Rolle der UN. Wir können nicht warten, bis die Streitereien zwischen den Staaten, für die die UN nur der Vorwand ist, ausgetragen sind. Die Amerikaner und Briten und ihre Alliierten sind aktiv vor Ort und unterstützen uns. Wir freuen uns über jede Hilfe und sind der Meinung, dass die Probleme des Irak, vor allem die Sicherheitslage, durch die UN gelöst werden können. Die UN konnte noch nicht einmal für die Sicherheit ihres eigenen Hauptquartiers sorgen, weil - soweit ich informiert bin - sie sich geweigert hat, Schutz von den Amerikanern anzunehmen, um nicht den Eindruck entstehen zu lassen, dass dies eine Einrichtung der Amerikaner sei. Kurz: Blauhelme sind keine Option, um die Sicherheit im Irak zu garantieren.

T. v. 0.: Sie denken aber, dass insgesamt die Entwicklung im Irak auf dem richtigen Weg ist?

A. B.: Auf jeden Fall. Das Wichtigste ist und bleibt, dass die

Iraker von der Diktatur Saddam Husseins befreit wurden. Dies ist die Einstellung der überwältigenden Mehrheit der Iraker, auch wenn sie nicht dauernd darüber sprechen. Diese Dankbarkeit ist fast überall zu bemerken. Sicher, es finden sich auch Leute, die anders reden, aber die sind in der Minderheit. Allerdings wird das Leben der Menschen im Irak jetzt von alltäglichen Problemen dominiert. Sicherheit, Arbeitslosigkeit oder Elektrizität sind die bestimmenden Themen, und die Koalition ebenso wie der Übergangsrat werden für Fehler oder Versäumnisse verantwortlich gemacht. Denn die Probleme, die die Iraker unter der Diktatur belastet haben, sind vorbei. Heute haben die Iraker die Sorge, wie man neben dem eigenen Leben das neue System im Irak gestalten kann.

T. v. 0.: Der aussenpolitische Sprecher der SPD, Gernot Erler, erklärte, dass inzwischen eine wachsende Mehrheit der Irakis gegen die Amerikaner eingestellt sei und sie als Besatzungsmacht wahrnehmen würde. Sie halten das für eine falsche Einschätzung?

A. B.: Ja, unbedingt. Ich vertrete eine kurdische Partei. Wenn man alleine von den Kurden redet, also von fünf bis sechs Millionen Irakern, so waren die nicht nur froh, sondern haben die Amerikaner und Briten als Befreier begrüßt. Und die Schiiten, die die Mehrheit, also etwa 60% der irakischen Bevölkerung ausmachen, haben die Amerikaner und Briten auch als Befreier gesehen. Auch in Bagdad wurden die Koalitionstruppen jubelnd begrüsst. Wer die Amerikaner als Besatzer bezeichnet und zum Kampf gegen sie aufruft, spricht nicht im Namen der Iraker. Das sind entweder Anhänger des alten Regimes, islamische Fundamentalisten oder arabische Nationalisten. Wenn Leute wie Herr Erler die arabischen Nationalisten und islamischen Fundamentalisten und die ehemaligen Baathisten als das irakische Volk ansehen, dann ist das ihre Sache.

T. v. O.: Aber wie erklären Sie sich dann die fast durchgängig von allen Medien - mit ganz wenigen Ausnahmen - geteilte Einschätzung, dass im Irak nun eine Art von Intifada gegen die Amerikaner und Briten als Besatzungsmacht ausbrechen wird, die USA im Irak mehr oder weniger gescheitert sind, und wenn überhaupt das Land noch "gerettet" werden kann, dann mit völlig neuen Konzepten, etwa unter Aufsicht der UN und Europas?

A. B.: Im Irak findet kein Volksaufstand statt, sondern es handelt sich um Terroranschläge und Sabotageaktionen gegen Iraker. Auch die UN-Hilfsorganisationen sind nicht Amerikaner oder Besatzer. Al Hakim und SCIRI sind nicht Amerikaner. Al Hakim ist eine irakische Persönlichkeit, die die Interessen der Schiiten im Irak vertritt. Anschläge gegen Ölpipelines, Elektrizitätswerke und Polizeistationen und die Wasserversorgung sind kein Widerstand, sondern Sabotage. Wir Kurden haben eine lange Tradition des Widerstandskampfes und wären nie auf die Idee gekommen, etwa Wasserleitungen zu sprengen. Anhänger des alten Regimes und islamisch-fundamentalistische Kreise versuchen das Land zu destabilisieren und so einen demokratischen Wiederaufbau zu verhindern.

T. v. O.: Was ist dann das Interesse der Europäer, die Lage so hoffnungslos darzustellen?

A. B.: Man kann von den Europäern nicht als homogenem Gebilde sprechen. Die Briten, Spanier und Dänen etwa haben eine andere Position und auch die Russen haben nach der Befreiung des Irak eine etwas andere Haltung eingenommen. Aber in Deutschland ist man leider völlig passiv, möchte nicht aktiv werden, indem man bestimmte Ereignisse übertrieben darstellt. Man will die Verantwortung nicht tragen.

Das erinnert an die Situation vor dem Krieg, als man die Befreiung des Irak verhindern wollte, in dem man behauptet hat, Kriege dienten nicht der Befreiung, ohne andere Alternativen bieten zu können. Man hat uns durch diese Argumentation signalisieren wollen, dass wir uns mit dem Regime Saddam Husseins abfinden müssten, auch wenn nach europäischen Massstäben das Regime nicht akzeptabel ist. Heute will man durch die übertriebene Darstellung der Lage einerseits im nachhinein Recht behalten und sich andererseits am Wiederaufbau unter den gegebenen Möglichkeiten nicht wirklich beteiligen. Die Deutschen könnten sich - und wir haben sie darum gebeten - in einer anderen Art und Weise am Wiederaufbau beteiligen: Weder vor dem Krieg noch heute hat man eine militärische Beteiligung von ihnen verlangt. Ich persönlich glaube, die Deutschen beobachten die Lage zwar genau, wollen sich aber nicht beteiligen. Sollte sich aber die Situation stabilisieren und sich ein neues System etablieren, dann werden sich die Deutschen als Freunde der Iraker hinstellen wollen. Und eine solche Position ist von irakischer Seite nicht einfach hinnehmbar.

T. v. O.: Wie ist denn die Stimmung im Irak gegenüber Deutschland und Frankreich?

A. B.: Die allgemeine Stimmung ist für die Präsenz der Koalitionstruppen. Wahrend des Krieges und kurz danach herrschte in bestimmten Gebieten des Irak, vor allem im Norden und Süden, eine offen ablehnende Haltung, weil der Eindruck vorherrschte, dass Deutschland, Frankreich und Russland alles getan hatten, um diesen Krieg zur Befreiung des Irak zu verhindern. Und die Menschen auf der Strasse denken nicht besonders differenziert. Die einfachen Menschen sehen die Amerikaner und Briten als Befreier und die anderen als Staaten, die bei dieser Befreiung nicht geholfen, ja sogar versucht haben, sie zu verhindern. Die Anhänger des alten Regimes haben dagegen in der Haltung Deutschlands ein positives Signal gesehen und sehen das noch immer.

T. v. O.: Sie leben seit über zwanzig Jahren in Deutschland und haben die Welle der Kurdistansolidarität Anfang der neunziger Jahre miterlebt. Nun stiessen Sie in den letzten 1 1/2 Jahren vornehmlich auf Ablehnung auch bei denen, die früher die Sache der Kurden auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ich denke da an Politiker der Grünen etwa, wie Claudia Roth oder Angelika Beer.

A. B.: Es gibt da einen Unterschied zwischen Europäern und Orientalen. Wir haben schöne Worte und Gesten als eine Absichtserklärung ver- bzw. missverstanden. Mit der Zeit haben wir dann verschiedenes verstanden, etwa, dass wir Kurden meistens von Parteien unterstützt wurden, die in der Opposition waren und als diese Parteien an die Macht kamen, haben sie ihre Versprechungen vergessen. Daher haben wir wenig davon, wenn bestimmte Personen oder Parteien sich als unsere Freunde bezeichnen und wir sie auch als Freunde betrachten und dann, wenn es darauf ankommt, uns zu helfen - vor allem wenn man an der Regierung ist und damit konkret die Möglichkeit hat, uns zu helfen -, wurden wir sehr enttäuscht. Und seit der Rot-Grünen Regierung erleben wir keine Politik zugunsten der Kurden. Dies ist vor allem an der Haltung der Regierung bezüglich des Krieges zu sehen. Die Grünen etwa haben immer erklärt, dass sie Freunde der Kurden sind, das ist sehr schön, aber solche Absichtserklärungen helfen uns wenig; man erwartet Taten.

T. v. O.: Und die Linke? In der Vergangenheit war die Kurdistan-Solidarität ja ein fast klassischer Topos. Nun hat Berham Saleh, der kurdische Premier, kürzlich gesagt, die Linke hätte die Kurden unterstützt, als die USA Saddam Hussein unterstützen, nun da die Kurden mit den Amerikanern alliiert seien, würde sie sich gegen sie wenden. Wie ist Ihre diesbezügliche Erfahrung?

A. B.: Berham Saleh hat den Punkt getroffen. Er wollte damit unsere Ansicht verdeutlichen, dass bestimmte Kreise in der Linken die Kurden nicht unterstützt haben, weil ihnen unser Anliegen am Herzen lag, sondern man hat uns aus ideologischen Gründen unterstützt. Und in dem Augenblick, wo das Thema Kurden nicht mehr zu dieser antiimperialistischen oder antiamerikanischen Ideologie passt, lässt man es fallen. Die Kurden waren interessant, als sie unterdrückt wurden, Opfer waren und von Staaten Repressionen erlitten, die von den USA und den Europäern unterstützt wurden. Jetzt, wo vor allem bei den irakischen Kurden, die Lage anders ist, sieht man uns plötzlich im «Lager der Imperialisten». Das ist natürlich lächerlich.

T. v. O.: Ein Argument taucht aus diesen Kreisen immer wieder auf. Da bislang die USA die Kurden immer wieder fallen gelassen haben, wenn sie sie denn mal unterstützt haben wie 1975 , werden sie sie auch diesmal fallen lassen. Haben Sie keine Angst, dass sich 1975 wiederholen könnte?

A. B.: Wir sind erstens im Gegensatz zu diesen Linken reif genug, um zu wissen, dass es nicht nur um Ängste und Ideologien geht in der Politik, sondern um Interessen. Und die Beziehungen zu den Amerikanern - aber auch zu vielen europäischen Staaten - haben sich so weit entwickelt, dass wir inzwischen diplomatische Beziehungen unterhalten. Damals gab es Kontakte nur auf der Sicherheitsebene. Zweitens: wir überlassen ja unser Schicksal nicht den Amerikanern. Wir versuchen auch, unsere Interessen eben in Zusammenarbeit mit der Koalition durchzusetzen. Aber es ist eben eine historisch neue Situation eingetreten, weil wir jetzt grösstenteils die gleichen Interessen wie die Amerikaner in der Region haben, nämlich die Beseitigung Saddam Husseins und die Schaffung eines demokratischen Irak. Dies war in den vergangenen Jahrzehnten anders, aber heute haben wir die Gelegenheit und die Möglichkeit, und die wollen wir nutzen.

T. v. O.: Die Zusammenarbeit der USA mit der Türkei liegt aber wohl kaum im Interessen der Kurden. Wie beurteilen Sie die mögliche Entsendung von türkischen Truppen?

A. B.: Humanitäre Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau des Irak durch die Nachbarstaaten sind willkommen und notwendig. Die Entsendung von Truppen aller Nachbarstaaten in den Irak, darunter natürlich auch türkische Truppen, würde die Sicherheitsprobleme im Irak nicht lösen, sondern zusätzliche Probleme schaffen. Deshalb hat der irakische Regierungsrat sich gegen die Entsendung von türkischen Truppen in den Irak ausgesprochen und vor einer Eskalation der Sicherheitsprobleme gewarnt. Wir sind uns des Dilemmas der amerikanischen Armee bewusst, die im Zentralirak in den Provinzen al-Anbar und Saleehdin, dem so genannten Sunnitischen Dreieck, die Hauptlast des selbst erklärten Widerstandes zu tragen und viele Tote zu beklagen hat. Wir haben den Amerikanern jede Art der Unterstützung, auch kurdische Truppen, angeboten, um sie zu entlasten. Bislang wurde auf diese Angebote nicht zurückgegriffen. Momentan nehmen wir erleichtert wahr, dass die Amerikaner unsere Bedenken und Einwände sehr ernst nehmen. Würden sich aber die Europäer nicht derart weigern, sich an der Schutztruppe für den Irak zu beteiligen, dann wäre die Diskussion um türkische Truppen nicht so virulent geworden. Das sollte man nicht vergessen.

T. v. O.: Was wären die nächsten Schritte, die aus Ihrer Sicht zu einer Stabilisierung des Irak getätigt werden müssten? Was ist die Hoffnung dabei für die irakischen Kurden?

A. B.: Die Interessen der irakischen Kurden werden durch die Etablierung eines demokratischen und föderalen Irak gesichert, und Föderalismus ohne Demokratie ist nicht denkbar. Daher sind wir der Meinung, dass diese Kombination unseren Interessen am besten dient. Das heißt aber nicht nur, dass wir unser Gebiet verwalten werden, sondern auch durch eine aktive Beteiligung an der Zentralregierung die Kurden repräsentieren und für die Belange des Irak einsetzen werden. Das tun wir, indem wir Minister stellen - der neue irakische Außenminister Hoshiar Zebari etwa ist ein Kurde - und uns aktiv an der Übergangsregierung beteiligen. Wichtigste Herausforderung für diese neue Übergangsregierung im Irak ist es, die Sicherheit wieder herzustellen. Die Übertragung dieses Bereiches an die Iraker ist auch die Schlüssellösung. Die Kurden sollten da als Vorbild dienen; unsere Sicherheitskräfte sind sehr erfolgreich bei der Festnahme von Baathisten und Islamisten, und anders als im Zentralirak herrscht bei uns Ruhe. Niemand muss sich fürchten, wenn er auf die Strasse geht. Die Amerikaner beschleunigen in der letzten Zeit diesen Prozess, den wir schon im April als notwendig erachtet haben. Dann steht der Wiederaufbau der zerstörten Ökonomie und Infrastruktur an.

T. v. O.: Weist die neue UNO-Resolution in die richtige Richtung?

A. B.: Wir begrüssen die endlich verabschiedete neue UN-Resolution. Der irakische Regierungsrat hat sie ebenfalls begrüsst und ist bereit, einen ungefähren Zeitplan für Verfassung und Wahlen im Irak vorzulegen. Nur die Diskussion im Sicherheitsrat über die Resolution hat uns insofern gestört, weil es bei der Debatte nicht nur um den Irak ging, sondern mehr um die Interessen der Staaten des Sicherheitsrates. Vor allem den Franzosen, Russen und Deutschen ging es nicht um die Verbesserung der Sicherheitslage und den anderen Sorgen der Iraker, sondern mehr um die Durchsetzung eigener Ideen, ohne mit Irakern bzw. mit dem irakischen Regierungsrat darüber zu beraten. Der neue Aussenminister Hoshiar Zebary hat völlig recht, wenn er beklagt, dass niemand die Deutschen und Franzosen gebeten hat, sich plötzlich «irakischer als die Iraker» aufzuführen. Anders als Deutschland und Frankreich tauschen die USA und England ihre Ideen zumindest mit dem irakischen Regierungsrat im Vorfeld von solchen Debatten aus und beteiligen die Iraker so am Entscheidungsfindungsprozess.

T. v. O.: Nun gelten vielen die seit 1991 selbst verwalteten kurdischen Gebiete als eine Art Vorbild für den Irak. Glauben Sie, der ganze Irak wird sich so entwickeln?

A. B.: Sicherlich kann der ganze Irak ein solches Niveau erreichen, sogar ein höheres. Denn die kurdischen Gebiete waren durch die systematische Vernichtungspolitik des Saddam-Regimes völlig zerstört. Gesellschaftlich und ökonomisch war Kurdistan deshalb sehr rückständig und im Vergleich zu der Situation in Bagdad oder Mosul vernachlässigt. Wenn es also unter solchen Umständen den Kurden - ohne internationale Anerkennung! - gelingt, gewisse demokratische und zivilgsellschaftliche Strukturen zu etablieren, dann sind wir hundertprozentig sicher, dass die Bevölkerung in Bagdad und anderen Gebieten Iraks dazu nicht nur in der Lage ist, sondern es sogar besser machen kann.

T. v. O.: In letzter Zeit wird immer wieder die Befürchtung geäussert, auch im Irak könne sich der Islamismus ausbreiten. Die arabischen Nachbarländer des Irak ebenso wie der Iran haben keinerlei Interesse, dass sich der Irak positiv entwickelt und unterstützen direkt oder indirekt die verschiedenen Gruppierungen, die gegen die Amerikaner im Irak kämpfen. Ist also eine positive Entwicklung im Irak überhaupt möglich, ohne dass sich die Nachbarn des Irak auch radikal verändern?

A. B.: Sicher versuchen unsere Nachbarn, ihre Interessen durchzusetzen. Und wir müssen versuchen, dagegen die Interessen Iraks zu vertreten und für die Sicherheit unserer Bevölkerung zu kämpfen. Der Islamismus - und ich meine den fundamentalistischen terroristischen Islamismus - ist ja ein nicht nur im Irak virulentes Problem, sondern dieses Problem existiert in der gesamten islamischen Welt und auch in Europa und Deutschland gibt es eine solche Bewegung, etwa Metin Kaplan. Es handelt sich um ein globales Problem. Wir glauben nicht, dass sich im Irak ein größeres Problem mit dem Islamismus entwickelt. Aber was man hier nicht versteht: die Brutalität des Saddam-Regimes verbot jede Form der freien Meinungsäußerung. Jetzt herrscht im Irak Meinungsfreiheit. Man kann sagen: ich bin Nationalist, Kommunist, Islamist oder Demokrat. Deshalb hört man auch plötzlich islamistische Stimmen aus dem Irak. Aber unserer Erfahrung zufolge ist die Mehrheit der Iraker nicht für extremistische religiöse Parolen zu erwärmen. Das werden Minderheitspositionen bleiben.

T. v. O.: Man hatte ja den Krieg mit der Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak legitimiert. Bislang wurde nichts gefunden. Sowohl in den USA als auch in Europa löste dies Diskussionen aus. Spielen diese Diskussionen im Irak eine wichtige Rolle?

A. B.: Zunächst: Der Irak hat über Massenvernichtungswaffen verfügt und diese eingesetzt. Im Iran-Irak-Krieg wurden chemische Waffen gegen die Iraner eingesetzt. Ich war damals, Anfang der achtziger Jahre, noch im Irak. Jede Stunde mussten wir Fernsehbilder von im Gas gestorbenen Iranern sehen. Die Lieferung von Know-How, vor allem von bundesdeutschen Firmen, sind ja durch entsprechende Gerichtsurteile aktenkundig. Der Einsatz von chemischen Waffen gegen die eigene Bevölkerung, vor allem gegen die Kurden bei der Anfal-Kampagne und in Halabja, sind weitere Belege, die man nur schwer verleugnen kann. Und die Struktur des Baath-Regimes selbst ist ein Hinweis darauf, dass dieses Regime bereit war, die Bevölkerung und das ganze Land aufs Spiel zu setzen, um seine Macht zu behalten. Für uns aber spielen die Massengräber und die Bilder aus den befreiten Gefängnissen eine weit grössere Rolle. Denn für die Iraker ist die Frage nach den Massenvernichtungswaffen nicht von zentraler Wichtigkeit; wir haben den Sturz Saddam Husseins aus anderen Gründen gefordert. Ich bin der Meinung die Debatte um die Massenvernichtungswaffen war nur ein Ausdruck machtpolitischer Spiele. Die Amerikaner wollten Saddam Hussein stürzen; für uns war das die lang ersehnte Befreiung von diesem Regime und wir sind den Amerikanern dafür dankbar. Die Länder, die uns nicht geholfen haben, werden vielleicht weiter argumentieren, dass bislang keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden und deshalb der Krieg nicht gerechtfertigt war. Dies heisst für uns: wir sollten ihrer Ansicht nach weiter unter Saddam Hussein leben. Das mag im Ausland eine Option sein. Im Irak ist es das nicht.


Thomas von der Osten-Sacken ist Mitarbeiter der im Irak tätigen Hilfsorganisation WADI e.V. und Mitherausgeber des Buches «Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg», Hamburg 2002


Interview erschienen in Risse Nr. 6 www.risse.info


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