Verletzt – verstümmelt – verkannt
Genitalverstümmelung im Nordirak
von Arvid Vormann
Die Genitalverstümmelung von Frauen im Nordirak ist das Ergebnis eines gesellschaftlichen Gewaltverhältnisses. Jeder Vollzug der Female Genital Mutilation (FGM) ist ein Eingriff in die individuelle Integrität einer Frau. Die kulturrelativistische Erklärung von Genitalverstümmelung birgt die Tendenz zur Verharmlosung.
Fast drei Viertel aller Frauen im kurdischen Nordirak sind, einer neueren Studie zufolge, an den Genitalien verstümmelt (1). In den Städten ist FGM nicht weniger üblich als in abgelegenen ländlichen Gegenden. Die Praxis, bei der Mädchen meist im Alter von vier bis acht Jahren eine Amputation ihrer Klitoris über sich ergehen lassen müssen, wird je nach Region entweder als religiöse Pflicht oder als kulturelle Tradition angesehen und dadurch legitimiert.
In der unmittelbar an den Zentralirak angrenzenden Region Germian überwiegt die religiöse Begründung. Viele Frauen, nämlich etwa ein Viertel der Befragten, befürworten Genitalverstümmelung ausdrücklich. Ersten Erkenntnissen zufolge werden in der Region oft zusätzlich die Schamlippen abgetrennt. Durchgeführt wird die Prozedur meistens von der Großmutter oder von einer so genannten »alten Frau«, die als professionelle Verstümmlerin entweder vor Ort ansässig ist oder übers Land zieht und sich auf diese Weise ihren Lebensunterhalt verdient. Die Mutter spielt bei der Organisation im Vorfeld eine wichtige Rolle, und sie ist so gut wie immer bei der Tat anwesend. Oft hilft sie, das Kind festzuhalten, führt aber fast nie selbst die Rasierklinge.
Männer sind kaum involviert. Viele Männer, vor allem in der Region Erbil, wo FGM in erster Linie als kultureller Brauch gesehen wird, wissen wenig über die traumatisierenden und gelegentlich auch tödlich endenden Operationen an ihren Schwestern und Töchtern. Die brutale »Tradition« wird ausschließlich unter Frauen weitergegeben. Die Großmutter (Schwiegermutter) ist dabei eine treibende Kraft. Die Rolle der Mutter ist eher vom Zwiespalt geprägt: Sie fügt sich dem von ihrer Schwiegermutter repräsentierten System und ist Tatbeteiligte. Zugleich regt sich in ihr bisweilen Mitleid, und sie will der Tochter beistehen.
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine unbedingt erklärungsbedürftige Verhaltensweise. Immer wieder kommen ähnliche Fragen auf, zum Beispiel: »Wie können Mütter ihren Töchtern so etwas antun? Sie haben doch am eigenen Leib erlebt, wie schmerzhaft und folgenreich das ist!« Bekanntlich können Komplikationen bis hin zu Todesfällen auftreten, und lebenslange sexuelle Unlust ist häufig die Folge, oft verbunden mit körperlichen und psychischen Leiden.
Zweierlei Maß
Zugleich neigen insbesondere so genannte »ExpertInnen« häufig zu einer Rationalisierung, die von einer Sichtweise bestimmt ist, die – in Anlehnung an einen aus der Orientalismuskritik (Edward Said) stammenden und heute im kulturrelativistischen Sinne gebrauchten Terminus – hier als »westlicher Blick« bezeichnet werden soll. Wenngleich FGM im Rahmen des auf Akzeptanz kultureller Andersartigkeiten fixierten Diskurses nur selten direkt entschuldigt wird, so birgt der Diskurs in diesem Kontext doch ein Problem: Das Psychologisieren der Beweggründe für FGM, das im individuellen Umgang mit Opfern und Täterinnen unvermeidbar ist, wird zur Analyse von gesellschaftlich verankerten Gewaltstrukturen herangezogen – und verharmlost damit die Gewalt. Deshalb soll hier der »westliche Blick« gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt werden.
Europa hielt sich einst für die Krone der Schöpfung. Man kultivierte Vorstellungen von den Fremden, die sich sowohl in der Exotisierung als »Edle Wilde« als auch in direkt abwertender Beschreibung als kultur- und geschichtslose Wesen äußerten. Mit der in den 1960er Jahren massiv einsetzenden Infragestellung des westlichen Gesellschaftsmodells und damit verbundener Werte änderte sich auch der Blick auf nichtwestliche Gesellschaften radikal. Abwertungen fremder Kulturen hatten keinen Platz mehr im neuen Denken. Viele postulierten nun eine Gleichwertigkeit in der Verschiedenheit, legten dabei jedoch die ethnologische Brille nicht ab und redeten weiter von Kulturen – statt von Individuen.
Die behauptete Gleichwertigkeit erwies sich in der Praxis als menschenverachtende Indifferenz. Zum einen wurde die »westliche« Zivilisation inklusive so zentraler Errungenschaften wie Demokratie und Menschenrechte, die mit ihr identifiziert wurden, zu einer partikularen »Kultur« unter anderen erklärt. Zum anderen wurden beliebige »Kulturen« samt repressiver Strukturen und menschenfeindlicher Praktiken zu praktisch unhinterfragbaren Instanzen geadelt – verschieden, aber gleichwertig. Der Hinweis auf kolonialistische Verbrechen genügte oft, um zu unterstreichen, dass der Westen jedes moralische Recht verwirkt habe, andere Kulturen zu beurteilen.
Nicht nur Enthaltung, sondern auch Einfühlung wurden gefordert: Noch heute ist es nicht ungewöhnlich, wenn in ethnologischer, soziologischer oder anthropologischer Fachliteratur nahe gelegt wird, dass gewisse Kulturen wegen ihrer vermeintlich »ursprünglicheren« Lebensweise besonders schützenswert seien. Der einfache Gedanke, dass Kulturen samt ihren Sitten, Religionen und Herrschaftsstrukturen gesellschaftlichen Ursprungs und damit grundsätzlich menschengemacht und wandelbar sind, erschließt sich auch WissenschaftlerInnen häufig nicht.
Der moderne »westliche Blick« kann wohl als Überkompensation der Defizite des alten, rassistischen Blicks verstanden werden. Der Rassismus freilich währt unter umgekehrtem Vorzeichen fort, was vor allem der Annahme geschuldet ist, das Individuum gehe vollständig in seiner kollektiven Identität auf. Damit eng verbunden ist die Vorstellung, Freiheit und Menschenrechte seien rein westliche Werte, die in anderen Kulturkreisen womöglich schädlich und kulturzersetzend wirken könnten. So werden für Angehörige fremder Kulturen andere, de facto niedrigere Maßstäbe geltend gemacht als für den »weißen Mann«.
Im Westen verharmlost ...
Der »westliche Blick« ist ganz besonders hinderlich beim Versuch, das Phänomen FGM zu verstehen. In der einschlägigen Fachliteratur werden meist verharmlosende Begriffe wie »Beschneidung« oder »Cutting« verwendet, und es drängt sich bisweilen der Eindruck auf, nicht die praktizierende Gesellschaft, sondern vielmehr die internationale LeserInnenschaft solle aufgeklärt werden, und zwar über vermeintliche Vorurteile gegenüber der Genitalverstümmelungspraxis. Exemplarisch seien hier nur Janice Boddy und Bettina Shell-Duncan sowie im deutschen Raum Fana Asefaw und Daniela Hrzán genannt.
Leider macht dieser Trend auch vor Hilfsorganisationen nicht halt. Die Patenschaftsorganisation Plan International beispielsweise hat zum Thema FGM eine Publikation (2) herausgegeben, in der nicht einmal am Rande erwähnt wird, dass FGM systematisch verübte, schwerste Gewalt an Kindern darstellt. Stattdessen wird unter anderem behauptet, FGM sei oft eine geschätzte Tradition und helfe den Frauen zu definieren, wer sie seien. Bei solcher Verständnissinnigkeit nimmt es kaum Wunder, dass Plan International und ihre Konkurrenten World Vision und Kindernothilfe sich seit Jahren beharrlich weigern, den Schutz ihrer Patenmädchen vor Genitalverstümmelung in die Förderkriterien mit aufzunehmen (3).
Der »westliche Blick« neigt dazu, nichtwestliche Gesellschaften als homogene Einheiten zu sehen. Er ignoriert damit einen fortdauernden Kulturkampf, der in erster Linie in diesen Ländern selbst – und nicht etwa gegen den Westen – ausgetragen wird. AktivistInnen vor Ort sehen FGM nicht als »geschätzte Tradition«, und sie sind entsetzt, wenn sie von derartigen Formulierungen hören.
... im Osten sanktioniert
Grundsätzlich verbietet sich jede Romantisierung der Verhältnisse. FGM wird durchweg in Ländern praktiziert, in denen Gewalt allgemein und insbesondere gegen Frauen weit verbreitet ist. Gewalt gegen Frauen ist im Rahmen der patriarchalen Ordnung strukturell bedingt und wird vom Islam nach gängiger Interpretation positiv sanktioniert. Das System der Geschlechterapartheid regelt das Leben bis in die Einzelheiten.
In der nahöstlichen Gesellschaft wird der private, häusliche Bereich der Frauenwelt zugerechnet. Daher wird er oft gering geschätzt und der Aufmerksamkeit der Männer für nicht würdig befunden. Auch die Frauen tragen aktiv dazu bei, den Ausschluss der Männer aus dem privaten Raum aufrechtzuerhalten, und sie profitieren davon: Zeitweise und in beschränktem Umfang können sie in diesem Bereich autonom handeln, Entscheidungen treffen und selbst Macht ausüben.
Die prekäre Macht der Frauen
Unter dem Strich allerdings begünstigt die Geschlechtertrennung immer die Männer. Die Macht der Frauen kann nicht mit der der Männer konkurrieren, weil sie immer bloß informeller Natur ist, weder öffentlich legitimiert noch anerkannt. Weibliche Macht findet sich daher oft hinter den Kulissen. Dabei wird das traditionelle Geschlechterverhältnis durch die informelle Macht der Frauen in keiner Weise in Frage gestellt, denn die Klaviatur, auf der die Frauen spielen, ist die des Patriarchats.
Frauen sind nicht nur Opfer, sondern auch tätige AgentInnen ihrer eigenen Unterdrückung, indem sie kleine Spielräume im System zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen. In diesem Zusammenhang muss auch das Verstümmeln weiblicher Genitalien gesehen werden. Die Mutter sorgt mit der Verstümmelung ihrer Tochter aktiv dafür, dass der Ruf gewahrt bleibt und die Familie nicht ins Gerede kommt. Sie nutzt die Tochter als Ausweis der eigenen Ehre.
Tatsächlich geht es hier um Nutzung im Sinne einer Ökonomie von Ehre und Schande. Das »Gut« wird durch die Verstümmelung »veredelt« und erhält dadurch einen höheren Tauschwert. Mit der Überzeugung, durch das Abschneiden des »Lustzentrums« eine Art Garantie für die Keuschheit des Mädchens bis zur Ehe zu erlangen, tritt auch der Aspekt der Werterhaltung hinzu.
Studienergebnisse aus der Missbrauchsforschung lassen sich direkt auf FGM übertragen. So spielt die bekannte Dynamik der intergenerationellen Weitergabe von Gewalterfahrungen eine erhebliche Rolle. Die vielfach anzutreffende Einschätzung, die Mutter wolle nur das Beste für ihre Tochter und unterwerfe sie deshalb dem »Ritual«, ist dagegen nicht ohne weiteres zu halten. Individuell mag der Gedanke, nichts Schlechtes gewollt zu haben, betroffenen Täterinnen beim Umgang mit ihrer Schuld helfen. Als gesellschaftliche Analyse ist er aber untauglich und wirkt vor Ort kontraproduktiv.
Anmerkungen
1) WADI e.V.: Female Genital Mutilation in Northern Iraq
2) Plan International: »Tradition and Rights: Female Genital Cutting in West Africa«
3) siehe www.patenmaedchen.de
Artikel erschienen in den Blaetter des IZ3W, November 2010