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Treue zum Warlord

Die Wiederkehr des Ethnischen in Afghanistan und Irak

Der Rückgriff auf ethnisierende und religiöse Konzepte von Wir-Gruppen scheint die derzeitigen Staatszerfallskriege in Afghanistan und im Irak miteinander zu verbinden. Was auf den ersten Blick als ähnlicher Prozess wahrgenommen werden kann, unterscheidet sich jedoch hinsichtlich der historischen Ursachen ebenso wie in den Aussichten, überwunden zu werden.

von Thomas Schmidinger

Die irakische und afghanische Staatlichkeit unterscheiden sich bereits in ihrer Entstehungsgeschichte diametral voneinander. Der Irak als Überrest des zerfallenen osmanischen Reiches wurde nach 1918 als britisches Völkerbundmandat Teil des britischen Kolonialreichs. Unter der kolonialen Herrschaft machte er einen autoritären Modernisierungsprozess durch, der schließlich zur Schaffung eines unabhängigen modernen Nationalstaates führte. Dieser stand zwar unter formaler Herrschaft des haschemitischen Königshauses, war aber stark von der britischen Politik beeinflusst.

Der afghanische Staat entstand hingegen nicht unter kolonialer Herrschaft, sondern festigte sich erst im Zuge mehrerer Kriege gegen das koloniale Vordringen der Briten aus Britisch-Indien zu einem Staatsgebilde. Erste Ansätze der Staatsbildung kamen Anfang des 18. Jahrhunderts von der paschtunischen Stammesföderation der Ghilzai. Ab 1729 ergriffen die Abdalis, ein rivalisierender paschtunischer Clan, unter ihrem Khan Ahmad Schah die Gelegenheit, sich von der Paschtunen-Metropole Kandahar aus unabhängig zu machen.

Zwar existieren über die Anfänge des von Ahmed Schah errichteten Durrani-Reiches unterschiedliche Versionen. Sie stimmen aber darüber ein, dass er von einer loya jirga, einer großen Ratsversammlung der paschtunischen Stämme, zum Anführer gewählt worden war. Diese Vorstellung von der loya jirga spielt für den afghanischen Nationalmythos bis heute eine wichtige Rolle. Sie erhebt Ahmed Schah zum mythischen Reichsgründer, verdeutlicht jedoch zugleich, dass der afghanische Staat von Anfang an als paschtunische Stammesföderation und nicht als moderner Nationalstaat konzipiert war.

Äußerst differenziert

Das Durrani-Reich, das seit dem 19. Jahrhundert als Afghanistan bezeichnet wurde, hielt vor allem durch die personale Herrschaft des Schahs über "seine Stämme" zusammen. In ein klar abgegrenztes staatliches Territorium verwandelte sich das Durrani-Reich erst im Zuge des "Great Game" der Kolonialmächte Russland und Großbritannien in Zentralasien. Sie verständigten sich - nach einigen Versuchen Großbritanniens, Afghanistan militärisch zu überrennen - über die Akzeptanz eines afghanischen Pufferstaates zwischen den beiden Kolonialreichen. Afghanistan hatte damit formale Grenzen, stellte aber immer noch die alte paschtunische Stammesföderation dar.

Diese war jedoch alles andere als homogen. Während der Süden Afghanistans paschtunisch dominiert war, sah die - bis heute im Wesentlichen fortbestehende -Bevölkerungszusammensetzung im Rest des Landes wesentlich komplexer aus: Der Nordwesten wurde von Usbeken und Turkmenen besiedelt. Im Westen um die alte Handelsstadt Herat dominierte das persische Element. In Zentralafghanistan siedelten die schiitischen Hazara, die als Nachkommen der Mongolen betrachtet und oft von anderen Afghanen diskriminiert wurden.
Während die Hauptstadt Kabul die multiethnischste Stadt Afghanistans war (und ist), lebten im Bergland zur pakistanischen Grenze eine Reihe kleinerer Bevölkerungsgruppen, die unter dem Begriff Nuristani zusammengefasst werden.

Für das Leben der Afghanen spielten jedoch über das gesamte 20. Jahrhundert nicht nur die Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen eine wichtige Rolle, sondern auch die wesentlich kleineren Einheiten der Stämme, Clans und Großfamilien. Parallel dazu ist Afghanistan auch religiös äußerst differenziert. Neben Sunniten, Schiiten und Ismailiten leben hier auch Minderheiten der Sikhs und Hindus.

Diese von Segmentierung geprägte Gesellschaft weichte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts lediglich in den städtischen Milieus, insbesondere in Kabul, etwas auf. Der Versuch dieser Schichten, durch eine sozialistische Modernisierungsdiktatur das Land zu einem modernen Nationalstaat zu machen, scheiterte jedoch. Dieses Modernisierungsprojekt, das nicht erst 1978 mit der Herrschaft der Demokratischen Volkspartei (DVPA), sondern bereits 1973 mit Republikgründung begonnen hatte, wurde nicht nur im Kalten Krieg zerrieben. Vielmehr scheiterte es auch an den innerafghanischen Widerständen gegen die Modernisierung. Insbesondere die bis zur Machtergreifung der DVPA das Land dominierenden Paschtunen wehrten sich erbittert gegen alle Versuche, ihren tribalen Rechts- und Ehrenkodex durch eine moderne nationalstaatliche Verwaltung ersetzen zu lassen. Aber auch andere Gruppen zeigten sich auf Dauer stärker als der schwache Zentralstaat, dessen autoritäres Modernisierungsprojekt schon nach kurzer Zeit blutig scheiterte.

Die ethnische Fragmentierung Afghanistans zeigte sich auch im Kampf der Mujaheddin 1 gegen die sowjetische Besatzung ab 1979. Sämtliche Mujaheddin-Parteien waren an eine ethnische Gruppe oder an noch kleinere Clanstrukturen gebunden und sorgten damit für die extreme Zersplitterung der politischen und militärischen Szene Afghanistans. Während der sowjetischen Besatzung regierten lokale Stammesfürsten oder Mujaheddin-Kommandanten weite Teile des Landes autonom. Die Macht des Staates reichte über Kabul und einige wichtige Verkehrsadern nicht hinaus. Auch nach dem Sturz des letzten sozialistischen Regierungschefs Najibullah konnten sich die so fragmentierten Mujaheddin-Parteien nicht auf einen gemeinsamen Wiederaufbau des Landes einigen. Die ethnische und regionale Zersplitterung des Landes blieb bis zur Machtübernahme der Taliban ab 1996 bestehen. Mit diesen übernahmen nicht nur die Fanatischsten unter den islamistischen Jihadisten die Macht im Lande, es kehrte auch die Vorherrschaft der Paschtunen wieder.

Ein gesamtirakisches Projekt

Völlig anders verlief die Entwicklung im Irak. Schon bei der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft 1932 konnte der neue irakische Staat auf eine lange Tradition von staatlich verwalteten urbanen Zentren zurückblicken, in denen tribale Identitäten keine oder nur eine geringe Rolle spielten. Zwar war auch der Irak mit seiner großen kurdischen und seinen kleineren assyrischen/ chaldäischen, armenischen und anderen Minderheiten keineswegs ein einheitlicher Nationalstaat. Er war jedoch von Anfang an durch eine arabische Dominanz geprägt. Immerhin machte die arabischsprachige Bevölkerung rund dreiviertel der Gesamtbevölkerung aus und dominierte in den Zentren wie Bagdad, Basra oder Mossul.

Die religiöse Zersplitterung des Landes in Sunniten und Schiiten mit bedeutenden jüdischen, christlichen, yezidischen und mandäischen Minderheiten war größer als die ethnische Vielfalt, sie spielte allerdings in den ersten Jahren des Staates kaum eine Rolle. So konnten sich im Irak moderne politische Parteien herausbilden, die nicht nur an eine ethnische Gruppe gebunden waren, allen voran die starke Irakische Kommunistische Partei. Sie spiegelte als erste ein gesamtirakisches Projekt wieder, das durch gemeinsame Interessen und Ziele und nicht durch ethnische oder religiöse Zugehörigkeit definiert wurde.

Nach dem Sturz des haschemitischen Königshauses 1958 und der Errichtung der Republik durch die linksnationalistischen Militärs unter Abdel Karim Qasim behielten die modernisierenden Kräfte des Irak zunächst die Oberhand. Als hinderlich zeigte sich jedoch nicht nur das Fehlen einer dauerhaften Lösung des Konflikts zwischen dem arabischen Nationalismus und der kurdischen Autonomiebewegung, sondern auch der blutige Sturz Abdel Karim Qasims und die folgenden Umstürze, an deren Ende 1968 die Machtergreifung der Ba´th-Partei stand. In den 1970er Jahren sah es unter deren Herrschaft vorerst so aus, als gelänge es der Regierung, einen zwar autoritär und zunehmend totalitär regierten, aber funktionierenden Nationalstaat aufzubauen. Mit einer Strategie aus Zuckerbrot und Peitsche, bestehend aus Bildungsprogrammen und einer durch die Ölrentenökonomie finanzierten Sozialpolitik gepaart mit der blutigen Verfolgung politischer Gegner, konnte die Partei ihre zum Zeitpunkt der Machtübernahme 1968 nicht vorhandene Massenbasis ausbauen und die staatlichen Institutionen festigen.

Die an den deutschen Nationalsozialismus und andere faschistische Bewegungen in Europa angelehnte Ideologie der Ba´th-Partei sah als Endziel nicht einen staatsbürgerlich definierten Nationalstaat, sondern einen völkisch definierten Staat, in dem partikulare Identitäten keinen Platz hatten.
Dieser ideologisch bedingte Versuch der Arabisierung des Irak führte jedoch zu einer Mobilisierung partikularer Gegenkräfte, wie der kurdischen Peschmerga oder der schiitschen Bewegungen im Untergrund.

Der totalitäre, vordergründig stabile Staat änderte seinen Charakter erst im Laufe des Angriffskrieges gegen den Iran und verstärkt noch seit der Niederlage im Zweiten Golfkrieg 1991. Das nun durch zwei Kriege ausgeblutete Land litt ebenso schwer unter dem UN-Embargo wie unter dessen Umgehung.
Nachdem sich im kurdischen Nordirak unter dem Schutz der Koalitionstruppen eine prekäre kurdische Autonomie etablieren konnte, während die Aufstände im schiitisch dominierten Südirak mit Massakern an zehntausenden Zivilisten und Aufständischen niedergeschlagen wurden, begann der irakische Staat zunehmend von innen zu erodieren. Zwar konnte Saddam Hussein in seinem verbliebenen Herrschaftsgebiet mit brutaler Repression weiterregieren, allerdings verloren die staatlichen Institutionen zunehmend an Macht, zugunsten personaler Machtstrukturen der Familie Saddam Husseins. Während der Staat verarmte, häuften Saddam Hussein und seine Günstlinge nie mehr Besitztümer an als während der Embargo-Zeit, in der Saddams Tikriti-Clan am meisten am Schmuggel und anderen illegalen Geschäften zur Umgehung des Embargos verdienten.

Ähnliche ökonomische Strukturen entstanden teilweise auch im kurdisch regierten Nordirak, wo die politischen Parteien – insbesondere die an der lukrativen türkischen Grenze angesiedelte KDP – vom Ölschmuggel profitierte, während den Institutionen der Autonomiebehörden kaum finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Angesichts der anhaltenden Unsicherheit im Autonomiegebiet, der ständigen Anschläge gegen kurdische Einrichtungen durch Agenten der Zentralregierung und der internationalen Isolation des Gebietes konnte sich keine gemeinsame Staatlichkeit des Autonomiegebietes entwickeln.
Vielmehr kam es zu ständigen Kämpfen der großen Parteien gegen die türkisch-kurdische PKK oder die Islamische Bewegung in Kurdistan (IBK). Die ökonomische und politische Vormachtstellung von PUK und KDP gegenüber gemeinsamen Institutionen trug mit dazu bei, dass sich auch innerhalb des Autonomiegebietes keine stabilen Strukturen entwickeln konnten.

Rückbau des Staates

Angesichts dieser Entwicklung zerbröckelte im Irak der 1990er Jahre der Nationalstaat langsam aber sicher von innen. In allen Teilen des Landes nahmen Warlord-artige Strukturen einer unmittelbaren, von Rackets (Banden) kontrollierten Klientelherrschaft zu. Saddam Hussein agierte dabei zwar als Ober-Warlord, stellte aber keinesfalls der einzige Nutznießer dieses Staatszerfalls dar.

Durch den Rückbau des Staates auf seine ausschließlich repressiven Funktionen gerieten ethnische und religiöse Strukturen, die die bereits seit den 1950er Jahren immer unwichtiger geworden und von der Ba´th-Partei in den 1970ern sogar bekämpft worden waren, wieder in den Vordergrund. Nicht nur Saddam Hussein scharte plötzlich wieder Stammesführer und religiöse Notabeln um sich, auch für den einzelnen Iraker wurden überwunden geglaubte Solidargemeinschaften wie die Großfamilie, der Clan, der Stamm und die eigene religiöse Gruppe wieder überlebensnotwendig. Die Rückkehr zum überwunden geglaubten Ethnischen ist damit nicht nur der ethnisierenden Politik nach 2003, der sowohl von Teilen der Koalitionstruppen als auch von den neuen politischen Kräften im Irak Vorschub geleistet wurde, sondern auch der Entwicklung zwischen 1991 und 2003 geschuldet.

Während Programmparteien wie die Kommunistische Partei des Irak die Repression des Ba´th-Regimes nur äußerst geschwächt überlebten, konnten sich ethnisch oder religiös definierte Parteien wie die kurdischen, christlichen oder schiitischen Parteien nach der Intervention 2003 relativ rasch wieder erholen. Deren Basis war trotz aller Massaker durch den Bezug auf eine partikulare Gruppe auch in der Zeit des ba´thistischen Totalitarismus als erhalten geblieben.

Formale Bekenntnisse

Zwar bekennen sich sowohl im Irak als auch in Afghanistan fast alle politischen Kräfte formal zur Einheit ihrer Länder. De facto hat sich jedoch in beiden Staaten eine ethnisierte Politik durchgesetzt. Nach dem Sturz der Taliban durch die US-Truppen ist Afghanistan mehr oder weniger zur parastaatlichen Fragmentierung der alten Mujaheddin-Parteien zurückgekehrt.
Die Macht der Zentralregierung beschränkt sich auf Kabul, einige größere Städte und Verkehrswege. Auf dem Land regieren wieder Stammesführer und lokale Mujaheddin-Kommandanten, teilweise sogar Reste der Taliban.

Im Irak wird der Süden von den schiitischen Parteien SCIRI, Da´wa und den Anhängern Muqtada al-Sadrs mit ihren Milizen beherrscht. Der kurdische Norden wird von PUK und KDP mit ihren Peschmerga regiert. Der sunnitisch-arabisch dominierte Zentralirak ist derzeit Kampfgebiet zwischen sunnitisch-jihadistischen Warlords und Resten des Ba´th-Regimes auf der einen und den Truppen der Zentralregierung und der Besatzungssoldaten auf der anderen Seite. Immerhin gibt es im Irak nach der Zustimmung zur Verfassung im Oktober 2005 gewisse Fortschritte im Aufbau gesamtirakischer Strukturen. Die Frage ist, ob diese rasch genug aufgebaut werden können, um den endgültigen Zerfall des Irak aufzuhalten.

Der Irak hat mit seiner Erinnerung an eine funktionierende Staatlichkeit und seine urbanen Zentren vielleicht bessere Voraussetzungen als Afghanistan, das nie eine moderne staatliche Verwaltung erlebte. Während im Irak zumindest der Versuch unternommen werden kann, eine moderne Staatsbürgernation zu schaffen, bleibt der derzeitigen afghanischen Regierung unter Hamid Karsai gar nichts anderes übrig, als einen gefährlichen Seiltanz zwischen den Stämmen und Warlords zu führen, um wenigstens das alte labile Gleichgewicht wiederherzustellen. In beiden Staaten steht am Ende zweier sehr unterschiedlicher Versuche, einen einheitlichen Nationalstaat zu schaffen, vorerst die Wiederkehr des Ethnischen - und damit entweder der Beginn eines alternativen Staatsbildungsprozesses oder das Ende desselben.

Thomas Schmidinger ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft in Wien, Mitarbeiter der im Irak tätigen Hilfsorganisation Wadi und Redakteur der Zeitschrift Context XXI.


Anmerkung:

1) Als Mujaheddin bezeichneten sich jene Guerilla-Gruppierungen, die ab 1979 gegen die sowjetischen Besatzung in Afghanistan kämpften. Sie wurden von Pakistan, Saudi-Arabien, den USA und Großbritannien unterstützt. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989 kam es zum Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Mujaheddin-Gruppierungen. Ab 1993 griffen die Taliban in die Auseinandersetzungen ein. Diese rekrutierten sich vor allem aus paschtunischen Afghanen, die als Kriegsflüchtlinge im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet lebten. Ihre Gründung wurde von Pakistan gefördert. 1995 erlangten die Taliban mit der Einnahme der Hauptstadt Kabul 1996 eine Vormachtstellung.


aus: iz3w, Nr. 290 - Januar/Februar 2006


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