zurück


Tod in Basra

Der amerikanische Journalist Steven Vincent starb im Kampf gegen die Unvernunft

Von Thomas Uwer

»Sie haben hier Da'wa und SCIRI, die wie Mafiafamilien ihre Finger in allem drin haben - legalem und illegalem. Dabei ist es nicht einmal so, daß sie den Befehl erteilen, jemanden zu erschießen oder irgendeinen Schnapsladen dicht zu machen - sie geben einfach eine Losung aus und irgendwelche Bewaffneten erledigen das dann für sie. Dann gibt es da noch die ,demokratischen Organisationen'. Sagen wir mal Ahmed und seine Brüder wollen einen Autoschieber-Ring aufmachen. Was wäre eine bessere Ausrede, die ganze Nacht draußen rumzuhängen, als eine eigene 'politische Partei'? Solche Gangs haben die Kontrolle über ganze Häuserblocks übernommen und nutzen sie als Basis für Schnaps- und Drogenschiebereien, Prostitution, Schutzgelderpressung und Erpressung.« Ein amerikanischer Nachrichtendienstoffizier erklärt einem Landsmann die Lage in der Stadt: Politik und organisiertes Verbrechen sind so eng miteinander verwoben, daß niemand mehr weiß, wer zuerst da war, der korrumpierte Politiker oder der politisierte Gangster. Banden kontrollieren die Straßen, beherrschen die Behörden und schmieren die Polizei. Als Polizisten verkleidete Killer und Polizisten, die sich als Auftragsmörder verdingen, bringen um die Ecke, wer störend in Erscheinung tritt: Zwei Universitätsprofessoren, einen Beamten, der gegen die verbreitete Korruption ermittelte, Ladenbesitzer, die das Schwarzmarktmonopol mißachten und öffentlich Alkohol verkaufen, einen Journalisten. 65 Mordopfer seit Mai zählte die Statistik im August, also ein paar weniger als in New York und ein paar mehr als im Chicago der Badenkriege zur Zeit der Prohibition.

Nun heißt die Stadt allerdings nicht Chicago oder Peaceville, sondern Basra, und die Schieber nicht Flüster-Max und Ike Bush, sondern Ahmed und Muqtada, auch wenn das, was in der irakischen Stadt mit rund anderthalb Millionen Einwohnern geschieht, vordergründig an jene Formen primärer Akkumulation erinnert, die John Torrio, Al Capone und Hymie Weiss einst zur Verkörperung der strukturell kriminellen Wesenszüge des Kapitalismus werden ließen. Nur tragen die Paten von Basra keine Gamaschen sondern Turbane und auch das Bewußtsein eines Capone, der stets beteuerte kein Radikaler zu sein, sondern das amerikanische System zu unterstützen, teilen sie nicht. Lebte Capones System von der Öffnung eines Marktes gegen den Gesetzgeber, indem er die Nachfrage nach verbotenen Dienstleistungen befriedigte, so sind die Paten von Basra Gesetzgeber, Exekutive und Gangster zugleich. Die Mahdi-Armee des schiitischen Mobsters Muqtada Sadr brennt die Schnapsläden erst nieder, bevor sie vom illegalen Alkoholschmuggel profitieren kann. Sah sich Capone als cleveren Kapitalisten, dem die Prohibition die einmalige Gelegenheit auf große Gewinne beschert hatte, so ist die Wertschöpfung nicht eigentliches Ziel der Islammafia, sondern lediglich das Mittel, mit dem dieses besser erreicht werden kann. Rein formal besteht dieses Ziel in der Schaffung eines religiösen Staates.

Es liegt zugleich auf der Hand, daß damit nur unzureichend erklärt werden kann, was in der irakischen Stadt Basra geschieht. Sicher, die Iraner, fährt der Geheimdienstler fort, hingen tief drin im Schmuggelgeschäft. Öl werde auf Tanker im Schatt al-Arab geschmuggelt, den Erlös nutze Teheran als Kriegskasse mit der die Einmischung in irakische Angelegenheiten finanziert werde. Dies geschähe durch die Finanzierung religiöser Gruppen genauso wie terroristischer Organisationen. »Basra ist der Dreh- und Angelpunkt iranischer terroristischer Aktivitäten im Irak.«

Tatsächlich treten schiitische Stiftungen mittlerweile als kapitalistische Unternehmer auf und verfügen zumindest im Südirak über ein derart beachtliches Kapital, daß längst von der Sistani AG die Rede ist. Doch ist auch der Versuch der steigenden gesellschaftlichen Einflussnahme durch die Kontrolle lokaler Märkte nur ein Aspekt der schiitischen Politik im Südirak. Das politische Gewaltunternehmertum der lokalen Milizen mag zwar bei der Eroberung von Märkten in Einzelsegmenten durchaus hilfreich sein, bspw. wenn der lokale Buch- und Zeitungsmarkt gewaltsam von nicht-islamischen Produkten gesäubert wird. Und zweifelsohne sind die Banden junger Eiferer mit Kalaschnikowgewehren ein wirksames Instrument, die Befolgung islamischer Tugendregeln in der Bevölkerung auch durchzusetzen, bspw. wenn diese Studenten mit »westlichen« Haarfrisuren aus der Universität prügeln oder Frauen dazu zwingen, sich zu verhüllen und auf Schminke zu verzichten. Doch untergräbt die Macht, die den islamischen Rackets damit in die Hände gegeben wird, tendenziell auch die langfristige Strategie der schiitischen Parteien und des in der Hawza organisierten Klerus, die auf staatliche Kontrolle und gesellschaftliche Hegemonie zielt. Beides ist erstens nur auf dem Wege einer zumindest mittelfristigen Beruhigung der Lage und wirtschaftlicher Stabilisierung (wenn auch unter islamischen Vorzeichen) zu haben, wobei zweitens zwar die Einbindung des überdurchschnittlich großen Anteils junger männlicher Bevölkerung - die überwiegend schlecht ausgebildet und sozial perspektivlos ist - einen wichtigen Anteil am Erfolg der islamischen Parteien hat, diese allerdings nicht gewillt sind, dauerhaft den Preis des Machtverlusts durch deren Verselbständigung in kriminellen Rackets zu bezahlen.

Welche Dynamik eine solche Verselbständigung entfalten kann, zeigt die Mahdi-Armee Muqtada Sadrs, die zu einem bedrohlichen Konkurrenten der etablierten schiitischen Parteien wie auch des hierarchisch organisierten Klerus geworden ist, innerhalb dessen ihr Anführer dem Rang nach ein Niemand ist. Die regelmäßigen Auseinandersetzungen zwischen den SCIRI nahestehenden Badr-Brigaden und den Anhängern Sadrs belegen, daß neben den klassischen Konflikt des politischen Gewaltunternehmertums, bei dem es darum geht, sich die kontrollierten Gebiete gegenseitig streitig zu machen, zumindest noch ein vertikaler Konflikt um Macht und Einfluss innerhalb der Schia getreten ist. Um sich gegenüber Sadr zu behaupten, hat auch der schiitische Klerus wiederholt auf die Hilfe der irakischen Armee und hilfsweise auch der Koalitionstruppen zurückgegriffen. Die machtvolle Rolle der schiitischen Parteien innerhalb der irakischen Regierung mag zwar zu einer teilweisen Islamisierung des Irak beitragen, andererseits zwingt sie diese zugleich in einen inneren Widerspruch zu ihrer bewaffneten Basis hinein. Denn während die gerne mit Granatwerfern inmitten von Wohngebieten ausgetragenen Scharmützel zwischen schiitischen Fraktionen nicht eben dazu angetan sind, deren Ansehen in der Bevölkerung zu steigern, sehen sich die schiitischen Parteien SCIRI und Da'wa dem Problem gegenüber, dass ihre Rackets vor Ort beständig den eigenen Anspruch auf die Regierungsmacht unterminieren, indem sie die von ihnen kontrollierten Gebiete unregierbar machen.

Daß es darüber hinaus auch ein ökonomisches Interesse daran gibt, dem Zerfall staatlicher Institutionen und der Zernierung des Staates in kleinste, von politischen Raubritterorganisationen kontrollierte Parzellen entgegenzuwirken, liegt in der Natur des irakischen Rohstoffreichtums begründet. Im Gegensatz zu Diamanten oder Opium ist eine effektive Ausbeutung der Ölfelder an technische Voraussetzungen gebunden, über die Islamrackets nun einmal nicht verfügen, und setzt weiter eine großflächige Gebietshoheit voraus, die sich mit den Revierkonflikten politischer Gewaltunternehmer nicht verträgt. Für die unter dem Terror der Islammafia leidenden Basrawis indes mag die Aussicht darauf, daß der Markt dem Spuk irgendwann ein Ende bereitet, bestenfalls ein schwacher Trost sein. Wer unter islamischem Kuratel zu leben gezwungen ist, weiß, daß Rationalität keine der Tugenden darstellt, um deren Einhaltung bärtige Männer abends an die Haustüre klopfen.

Die gesellschaftlichen Folgen des politischen Gewaltunternehmertums im Südirak sind folgerichtig schwerer kalkulierbar als das strategische Verhalten der Parteien. Nach wie vor besteht die Hoffnung, daß der Terror der Rackets die Bevölkerung mehr gegen die Islamisten aufbringt, als er sie mit Gewalt an diese zu ketten vermag. Gewiß ist, daß - wie im Zentralirak auch - Sicherheit zum wichtigsten Gut geworden ist, das bürgerliche Rechte und Freiheiten in den Schatten stellt, und das zugleich am wirkungsvollsten nicht mit Geld (wobei auch das helfen kann) sondern mit Loyalität erkauft wird. Kurzfristige Gewinner des Chaos sind daher primordial organisierte Klientelstrukturen. So werden bspw. die Strommasten zwischen den südirakischen Städten Basra und Amara exklusiv von Mitgliedern des Garamsha Stammes beschützt, der dafür Geld von der lokalen Verwaltung erhält. Daß es zugleich der Garamsha Stamm war, der die Strommästen im Stammesgebiet gesprengt hat, und Geld also lediglich dafür bezieht, diese vor sich selbst zu schützen, ist kein Widerspruch, sondern der Kern des tribalen Systems. Ähnliche Gefolgschaft suchen die schiitischen Parteien zu organisieren.

Dieses auf die Distribution von Gütern nach Maßgabe der Zugehörigkeit und Loyalität fußende System, dessen modernere und von der reinen Abstammungsgemeinschaft losgelöste Variante auch als »Modell Arafat« bekannt ist, befördert zugleich, was Herfried Münkler als das »Abschmelzen von Zeit« bezeichnet. Unproduktivität und Abhängigkeit auf der einen Seite, auf der anderen korrupte, sich selbst bereichernde Eliten, die unfähig sind, große Teile der Bevölkerung in den Verteilungszyklus einzubinden, erzeugen eine wachsende Gruppe von Menschen, die um jede Zukunftsperspektive gebracht, einzig in der gewaltsamen und kurzfristigen Aneignung von Gütern eine Überlebenschance sehen. Ohne eine Perspektive auf Zeit aber läßt sich keine Gesellschaft aufbauen. Der stete Zulauf junger Männer zu bewaffneten Rackets scheint diese Tendenz zu bestätigen.

Andererseits droht sich in der Bevölkerung jene Routine wieder einzustellen, die es mit dem Sturz des ba'thistischen Regimes unter anderem zu beseitigen galt: Den Rückzug in einen sicheren, privaten Raum, während vor der Haustüre der Terror wütet, und damit verbunden die Flucht in einen - auch politischen - Obskurantismus. Der amerikanische Journalist Steven Vincent, der monatelang in Basra lebte, sah in dieser Unvernunft (»unreason«) eine der schwersten Hürden, die eine dauerhafte Befreiung des Irak nehmen muß. Unvernünftig ist es, wenn eine Frau bei ihrer Familie bleibt, obwohl sie dort geschlagen wird. Unvernünftig ist es auch, sich über den Sturz Saddam Husseins zu freuen, aber die amerikanischen Soldaten, die den Sturz erst ermöglicht haben, zu hassen. Daß beides dennoch Haltungen sind, die von einem großen Teil der Bevölkerung eingenommen werden, verweist auf den Zustand, indem sich die irakische Gesellschaft befindet. »Haben wir uns also geirrt im Irak?«, fragt Vincent daher und fährt fort: »Ja, in einem bedeutenden Sinne (...): Wir verstanden und verstehen noch immer nicht die regressive, parasitäre und unvernünftige Realität des tribalen Islam - das schwarze Loch in der irakischen und arabischen Kultur, das die besten und positivsten Energien verschlingt.« Damit hat er zugleich die eigentliche Aufgabe im Irak benannt, die in der Schaffung gesellschaftlicher Verhältnisse besteht, die Vernunft überhaupt erst zu einer vernünftigen Option machen. Der Sturz Saddam Husseins war lediglich ein erster Schritt dahin.

Vincent selbst, aus dessen Reportagen die Zitate in diesem Text stammen, hat an der Schaffung dieser Verhältnisse gearbeitet, indem er aus Basra berichtete anstatt aus der Bar des Hotel Palestine, jene interviewte, die unter dem Terror der Rackets leiden und das politische Gewaltunternehmertum der schiitischen Parteien offen legte. Am 2. August 2005 wurde Steven Vincent in Basra von Unbekannten ermordet.


Steven Vincent: In the Red Zone - A Journey into the Soul of Iraq, Spence Publishing Company, Dallas 2004, 245 Seiten.


erschien in Konkret 8/05


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: