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Suspendierte Befreiung

Ein Fall von quasi-kolonialer Herrschaft: der Irak

Thomas Uwer/Thomas v. der Osten-Sacken

"Der Kolonisierte entdeckt, daß sein Leben, sein Atmen, seine Herzschläge die gleichen sind wie die des Kolonialherren ... Diese Entdeckung teilt der Welt einen entscheidenden Stoß mit."
Frantz Fanon

Anfang September 2002 trafen in Cobham, in der Grafschaft Surrey, südwestlich von London, 32 irakische Wissenschaftler und Intellektuelle zusammen, um über die Zukunft des Irak zu beraten. Der Anlaß nicht weniger als die Wahl des Ortes erinnert an die Hinterzimmerkonferenzen und Geheimtreffen, die über Jahrzehnte das Schicksal der Region des arabischen Nahen Ostens mitbestimmt haben, mit dem Unterschied nur, daß diesmal weder Verträge noch Verpflichtungserklärungen über künftige Ausbeutungsrechte unterzeichnet wurden. Solche Treuepfänder hatten die Regierungen des Irak in der Vergangenheit nur allzu bereitwillig hinterlegt, um sich des Schutzes vor ihren Gegnern im eigenen Land zu versichern.

Gleiche Augenhöhe, ein Bewußtsein von Gleichheit als Voraussetzung der Aufhebung auch der materiellen Trennung der Welt, wurde dabei niemals hergestellt, die manichäische Trennung in Kolonialisten und Kolonisierte, von der Fanon spricht, vielmehr fortgeschrieben. Wenn die arabisch-nationalistischen Regimes bei jenen Mächten antichambrierten, die sie zugleich für die Teilung Arabiens verantwortlich machten, ging es ihnen um die Nutzung imperialer Machtinstrumente, nicht um deren Überwindung.

Auch Saddam Hussein und seine Ba'th-Elite sind immer Bittsteller geblieben, ungeliebte Helfer, im besten Fall gefürchtete Gegner. Der Blick, der aus den USA oder Europa auf den Irak fiel, war immer der auf ein Regime, dessen Barbarei man sich in gleichem Maße bewußt war, wie man sie zu nutzen pflegte. Das koloniale Verhältnis des weißen Herren zum barbarischen Wilden war nicht aufgehoben, sondern in die moderne Sprache von Rüstungshilfe und Diplomatie überführt worden, die Gewalt des Marktes trat an die Stelle der Nilpferdpeitsche. "Saddam is a monster", beschrieb Noam Chomsky dieses Verhältnis aus anderer Perspektive, "but he is our monster".

Daher kommt, daß zwar nicht der Welt, aber dem arabischen Nahen Osten, nunmehr ausgerechnet von einer Gruppe irakischer Exilintellektueller, die weder über militärische noch zivile Mittel der Macht verfügen, ein bedeutender Stoß versetzt worden ist. Denn was die Gruppe in Cobham vorstellte, mag gemessen am historischen Maßstab europäischer Geschichte wenig neues enthalten - vor dem Hintergrund der Geschichte des arabischen Nahen Ostens aber ist alleine die Existenz ihres Arbeitspapiers "The Transition to Democracy in Iraq" revolutionär.

Bürgerliche Freiheitsrechte, Gewaltenteilung, die Anwendung des Rechtsstaatsprinzips auch auf die Verantwortlichen der bestehenden Diktatur, ein föderales Verwaltungs- und parlamentarisch kontrolliertes Polizeisystem stellen nämlich nicht nur die konkrete Herrschaftspraxis arabischer Staaten in Frage. Als Konzept der nationalen Befreiung rühren sie an eine grundlegende Prämisse nahöstlicher Politik seit der Entstehung arabischer Nationalstaaten, wonach die Überwindung innerer (arabischer) Teilung und äußerer Bevormundung die unabdingbare Voraussetzung für jeden gesellschaftlichen Fortschritt seien. Der Unterschied wird markiert durch eine einfache Umkehrung der Vorzeichen. Nicht mehr die seit siebzig Jahren existierenden Nationalstaaten, sondern die in ihnen bestehende Herrschaft erscheint nunmehr veränderbar: "Eine historische Chance tut sich auf", heißt es in dem Papier, "von einer Bedeutung, die alles, was im Nahen Osten seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem Einmarsch britischer Truppen in den Irak 1917 geschah, übertrifft."

Als britische Kolonialtruppen, dem Sykes-Piquot Abkommen folgend, in dem Frankreich und Großbritannien die Region des Nahen Ostens unter sich aufgeteilt hatten, im Irak landeten, war das Ende der kolonialen Besatzung bereits besiegelt. Die Kolonisierung der arabischen Kernstaaten hatte - entgegen dem antikolonialen Mythos - nicht nur verhältnismäßig spät eingesetzt, sondern auch nur kurze Zeit gewährt. Die britisch verwalteten Mandatsgebiete blieben von den Schrecken klassisch kolonialer Politik weitgehend verschont. Im Unterschied zum Maghreb, wo die kolonisierten Nationen erst nach jahrelangen blutigen Befreiungskriegen in die Unabhängigkeit traten, wurde das hashemitische Königshaus des Irak und mit ihm der Staatsapparat von Großbritannien selbst eingesetzt und später mit britischer Unterstützung vor dem Völkerbund in die formelle Unabhängigkeit entlassen. Anstelle der unmittelbaren Gewalt des Kolonialregimes trat die vermittelte Herrschaft eines durch anglo-irakische Abkommen in weitgehender Abhängigkeit gehaltenen irakischen Regierung, an die Stelle von Kolonialtruppen mit der Entdeckung der Erdölvorkommen die Herrschaft der Trusts, denen die gesamte Schlüsselindustrie inklusive der Infrastruktur unterworfen war.

Der Unterschied mag gering erscheinen, blieb doch die Bedingung der Ungleichheit, die Abhängigkeit und die radikale Ausbeutung der Ressourcen, bestehen. Mit der unmittelbaren Herrschaft des Kolonialismus aber wurde scheinbar auch jener ihm eignende Widerspruch suspendiert, aus sich heraus die Bedingungen seiner Überwindung zu erzeugen. So geschah, was man in den Kolonien beobachte konnte, in den arabischen Kernstaaten des Nahen Ostens nicht. Dort bildete sich kein genuiner Befreiungsnationalismus aus den infolge kolonialer Grenzziehung entstandenen Nationen, der diese in den Kampf um Unabhängigkeit getrieben hätte. Die Mandatsgebiete des Nahen Osten waren weit weniger Nationalstaaten im Aufbau, als auf Eliten gestützte Verwaltungseinheiten. Die Dialektik des Kolonialismus, den Kolonisierten erst das universelle Gleichheitsversprechen vermittelt zu haben, das diese gegen die Realität kolonialer Herrschaft wandten, zündete nicht. Antikoloniale Bewegung und quasi-koloniale Herrschaft fielen im arabischen Nahen Osten in eins.

So wurde im Irak bereits 1921 die erste Regierung unter Faysal installiert, der die antiosmanischen Aufstände der Araber angeführt und dem "arabischen Rat" in Damaskus vorgesessen hatte. Mit dem Hashemiten Faysal, den Großbritannien bewußt als Gegengewicht zu Ibn Saud gewählt hatte, gelangte ein großer Teil der frühen arabischen Nationalisten zu Regierungsämtern, die, wie ihr Regent, größtenteils nicht aus dem Lande selbst stammten. Lokal verankert wurde die Regierung durch die Ernennung traditioneller Eliten. Die notwendige Rolle einer Modernisierungsklasse, die in anderen Staaten die nationale Bourgeoisie einnahm, wurde im Irak übernommen von ehemaligen Feudalherren, Militärs, hohen Beamten aus der osmanischen Nomenklatura, die sich einerseits als Träger einer antikolonialen Bewegung zur Überwindung der nationalstaatlichen Teilung verstanden und andererseits die Aufrechterhaltung quasi-kolonialer Ordnung vor Ort organisierten.

Der arabische Nationalismus, der nicht umsonst im Irak der zwanziger und dreißiger eine theoretische Hochphase erlebte, trug diesen Widersprüchen der mandatierten Selbstverwaltung Rechnung. Nicht nur legitimierte er die Herrschaft der arabisch-sunnitischen Staatselite, er entsprach vor allem der Schizophrenie der Staatsklasse, indem er als Panidee antikolonial auftrat und zugleich die national durchgesetzten Herrschaftsstrukturen unberührt ließ. Befreiung, so der panarabische Kerngedanke, wird erreicht durch die Überwindung nationalstaatlicher Aufspaltung, nicht durch die Überwindung von Herrschaft.

Allen panarabischen Theoretikern gemein ist, daß sie auf der Grundlage einer rückwärtsgewandten Idealvorstellung (eines arabisch-islamischen Großreichs) nationale Gemeinsamkeiten über eingeborene kulturelle Merkmale formulierten und nicht auf der Grundlage bestehender politischer und/oder staatlich-institutioneller Gefüge. Die sunnitischen Araber, auf die sich panarabische Ideologie stützte, stellten im Irak gerade mal 20 Prozent der Bevölkerung. Die Panarabischen "rassisierten ihre Ansprüche" (Fanon) als historisch-kulturelles Anrecht der Araber, "inventarisierten" sie als Nationalkultur und stellten deren vermeintliche Essenz in Gegensatz zu anderen. Die "arabische Nation" existiere, nur fehle ihr der Staat.

Die Ursache dafür wurde in den Interessen fremder, nicht-arabischer Mächte gesucht - einerseits den Kolonialstaaten Frankreich und Großbritannien, andererseits in den nicht-arabischen Volksgruppen, die Anspruch auf Macht oder nationale Selbstbestimmung erhoben. So wurden, durch die erfolgreiche Unterdrückung nationaler Bewegungen, absurderweise ausgerechnet die panarabischen Regime zu den besten Garanten der Aufrechterhaltung bestehender nationaler Ordnung in Nahost und damit zu willkommenen Bündnispartnern jener "imperialistischen" Staaten, denen sie den Kampf angesagt hatten. In der Vorstellung vom äußeren Feind, der für die Spaltung des arabischen Großreichs genauso verantwortlich ist wie für kapitalistische Modernisierung und den beklagten Zusammenbruch der islamischen Umma, ist auch der Grundzug jener antisemitischen Wahnvorstellung enthalten, die heute Islamisten und Panarabisten beseelt.

Der Erfolg des Panarabismus liegt aber nicht zuletzt in seiner Verwertbarkeit für die an der Region interessierten Eliten. Der Hass der Panarabisten richtete sich bis auf wenige Ausnahmen nicht gegen französische Einrichtungen oder die Verbindungsbüros britischer Konsortien, sondern gegen ethnische Minderheiten wie die Assyrer oder die zum Inbegriff des feindlichen Fremden stilisierten arabischen Juden. Noch während der Mobilisierung gegen den neugegründeten Staat Israel als Ausdruck "anglo-zionistischer" Fremdbestimmung, bereitete die irakische Regierung 1948 die Unterzeichnung eines Vertrags vor, der die gesamte Wirtschaft des Landes auf 30 Jahre an Großbritannien auszuliefern vorsah.

Der Rückgriff auf einen mythisierten Urzustand, den panarabische und panislamische Ideologie teilen, begünstigt dabei die um Machterhalt ringenden Eliten. Denn indem die Vorstellung einer Rückkehr zu vergangener Größe sich in erster Linie gegen die bestehende nationalstaatliche Ordnung wendet, negiert sie zugleich alle Versuche gesellschaftlicher Modernisierung innerhalb dieser Staaten, die der Staatsklasse gefährlich werden könnten. Im Irak läßt sich verfolgen, wie sich der Panarabismus der Staatsklasse immer dann radikalisierte und in einen Militärputsch mündete, wenn diese sich durch eine andere zu Macht und Einfluß strebende Gruppe oder Klasse gefährdet sah.

So zielte der vom Militär und dem Königshaus getragene faschistische Putsch im Irak 1941 auf eine im Windschatten der Industrialisierung entstandene nationale Bourgeoisie und den mit ihr verbundenen Premierminister Nuri as-Said. Die offene Gewalt der Faschisten richtete sich gegen die irakischen Juden, die mit dem städtischen Bürgertum Bagdads assoziiert wurden. Mit dem Putsch der Ba'thisten im Frühjahr 1963 wurde die erste nationale Regierung unter Karim Qasim gestürzt. Unterstützt von den USA und vorsorglich mit detaillierten Namenslisten ausgerüstet machten sich die panarabischen Milizen der Partei daran, die gesamte Funktionärsriege der Kommunistischen Partei zu ermorden. In beiden Fällen sollte es der durch Umstürze und Militärcoups bis auf die Offizierselite ausgedünnten Staatsklasse gelingen, den losgetretenen panarabischen Putsch wieder unter Kontrolle zu bringen.

Die Herrschaft der Ba'th-Partei, die seit 1968 ununterbrochen im Amt ist, hat diese Geschichte fortgeschrieben. Mit der Vernichtung der Kommunisten und der Ausschaltung der städtischen Bourgeoisie ging nunmehr allerdings ein Austausch auch der Staatsklasse einher. Mit Saddam Hussein, der 1979 den letzten Vertreter der alten militärischen Nomenklatura, seinen Vorgänger und Ziehvater Al-Bakr, aus dem Amt drängte, hat sich eine neue Staatsklasse an die Macht gebracht, deren radikaler Panarabismus jeden Gedanken an Befreiung obsolet macht. In Saddam Husseins militärischen Aggressionen wird deutlich, daß der maßgeblich im Irak entwickelte arabische Nationalismus nicht auf die Befreiung von Nationen, sondern umgekehrt auf die koloniale Rückeroberung der Region durch die Araber zielt.

Saddam Hussein hat den Irak kolonisiert, seine Bevölkerung unterdrückt und die gesamte Wirtschaft einer rücksichtslosen Wertabschöpfung unterworfen. Große Teile des abgeschöpften Mehrwerts in Form der Ölrente werden von einer identischen Staats- und Wirtschaftselite direkt oder über den Umweg teurer Rüstungs- und Luxusimporte ins Ausland transferiert, während alle exportungeeigneten Wirtschaftsbereiche brach liegen. Das Land wird regiert wie im Belagerungszustand, militärische Sondereinheiten und Sicherheitsdienste agieren heute wie einst Kolonialtruppen aus massiven Festungen und Sicherheitszonen, die den gesamten Irak durchschneiden und deren Betreten der Bevölkerung untersagt ist.

Hussein hat zugleich erreicht, was der Kolonialismus im Irak unterließ: Er hat eine Gemeinschaft der Unterdrückten geschaffen, indem er lokale und traditionale Bündnisse zerschlug, regionale Eliten vernichtete und den gesamten Irak der selben rücksichtslosen Gewaltherrschaft aussetzte. Und damit ungewollt die Bedingungen geschaffen, die das Ende der panarabischen Herrschaft im Irak erst möglich machen, ohne den irakischen Nationalstaat in Frage zu stellen. Im Irak steht das Regime heute zur Disposition. Und mit ihm die arabische Panidee, die half, daß "seit dem Machtantritt Hafiz al-Assads im Januar 1970 nicht ein einziges arabisches Regime (mit der Ausnahme der Randstaaten Jemen und Sudan) während der folgenden 30 Jahre gestürzt wurde" (Barry Rubin). In den meisten dieser Staaten, die hinter fast jeder Region der Erde rangieren, was die wirtschaftliche und soziale Entwicklung angeht, wird gehungert, in allen wird gefoltert.

Die Geschichte, die in Cobham, Surrey, begann, ist gut. Sie hat durch die einfache Umkehrung dessen, was als veränderbar angenommen wird und was nicht, die bürgerliche Befreiung des Nahen Ostens, die seit 1920 überfällig ist, auf die Tagesordnung gesetzt. Doch der geübte Leser derartiger Geschichten weiß auch, daß sie zu gut ist, um ohne weiteres wahr zu werden. Sie stellt nicht weniger in Frage als die herrschenden Eliten im arabischen Nahen Osten. Und damit auch die Stabilität, um deretwillen diese an der Macht gehalten wurden.

erschienen in konkret 2/2003


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