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Kampf um die Schlüssel

Die Nationalkonferenz im Irak hat ein von den meisten Parteien getragenes Übergangsparlament gebildet. Doch die Regierung wird vor allem an ihren Erfolgen im Kampf gegen die Milizen gemessen.

von Thomas Schmidinger

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Die Konferenz begann einen Monat später als geplant, und sie blieb bis zum Schluss turbulent. Die Teilnehmer stritten über die Kandidaten für den Nationalrat, einige Delegierte beklagten sich über Manipulationen, und man hatte Probleme, genügend Kandidatinnen für die zuvor beschlossene Frauenquote von 25 Prozent zu finden. Doch niemand verließ die Konferenz, und am Mittwoch der vergangenen Woche konnte der Organisator Fuad Masum verkünden: »Heute wurde der Übergangsnationalrat gebildet.«

Vier Tage lang hatten etwa 1 000 Vertreter politischer Parteien, Repräsentanten diverser Bevölkerungsgruppen und so genannte Stammesführer während der Nationalkonferenz debattiert. Bestimmt wurden die Mitglieder des Nationalrats dann allerdings nicht durch eine demokratische Kampfabstimmung. Nachdem eine konkurrierende Liste ihren Vorschlag zurückgezogen hatte, wurde eine Liste der Delegierten der »Nationalen Einheit« angenommen. 81 Sitze fallen nun dieser Koalition zu, 19 Mitglieder waren bereits im Vorfeld für die ehemaligen Mitglieder des Regierungsrates reserviert worden.

Das Bündnis der »Nationalen Einheit« vereinigt sämtliche in der Regierung und im ehemaligen Regierungsrat vertretenen Organisationen, von der Kommunistischen Partei über die kurdischen Parteien, die gemäßigten schiitischen Islamisten von Sciri und Da’wa bis zu den ehemaligen ba’athistischen Nationalisten um Ministerpräsident Iyad Allawi; auch tribale und religiöse Notablen gehören dazu. Der Nationalrat, der bis zu den Wahlen das Parlament ersetzt, hat zwar keine direkte legislative Gewalt, kann aber Gesetze der Übergangsregierung mit einer Zweidrittelmehrheit außer Kraft setzen.

Für die irakische Regierung war die Nationalkonferenz ein wichtiger Erfolg, denn trotz aller Streitigkeiten haben sich die meisten politischen Fraktionen des Landes auf eine weitere Zusammenarbeit verpflichtet. Die bewaffneten Aufständischen ließen sich davon allerdings nicht beeindrucken. Der von Delegierten der Konferenz unternommene Versuch, zwischen der Regierung und den Mahdi-Milizen des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr zu vermitteln, scheiterte.

Allerdings scheint es den irakischen und den US-Truppen zu gelingen, Sadrs Miliz zurückzudrängen. Nach über eine Woche andauernden Kampfhandlungen war am 13. August erstmals ein Waffenstillstand zwischen der Miliz und der Regierung verkündet worden. Muqtada al-Sadr selbst weigerte sich jedoch, Najaf, neben Kerbala die wichtigste schiitische Pilgerstadt, zu verlassen. Bereits unmittelbar nach der Verkündung des Waffenstillstandes erklärte er: »Wir werden hier bleiben und die heiligen Schreine bis zum Sieg oder zum Martyrium verteidigen!« Der Waffenstillstand scheiterte.

Mittlerweile scheint Sadr jedoch den Märtyrertod vermeiden zu wollen und zur Übergabe der Imam-Ali-Moschee in Najaf bereit zu sein. Er steht nicht nur unter militärischem Druck, die schiitischen Geistlichen akzeptieren seine Inbesitznahme des Heiligtums nicht, und wie große Teile der Bevölkerung sind sie verärgert über die Verluste im lukrativen Geschäft mit den Pilgern. Aus dem Büro des höchsten schiitischen Geistlichen, Ayatollah Ali al-Sistani, wurde bereits verkündet, Sadr habe die Schlüssel zur Moschee übergeben. Die Kämpfe in der Stadt hielten am Sonntag jedoch noch an.

Auch nördlich von Bagdad dauern die Kampfhandlungen im so genannten sunnitischen Dreieck an. Am 14. August wurden in Samara, einer mehrheitlich sunnitischen Stadt, 50 Angehörige sunnitisch-islamistischer Terrorgruppen getötet. Auch in Falluja, der Hochburg des sunnitischen Islamismus, kommt es immer wieder zu Kämpfen.

Die irakische Regierung hat nach der Übernahme der Souveränität Ende Juni eine militärische Offensive gegen die islamistischen und ba’athistischen Terrogruppen begonnen. Ministerpräsident Allawi hat sich mit der Wiedereinführung der Todesstrafe und dem systematischen Durchkämmen von Stadtvierteln in Bagdad bereits bei vielen Irakern den Ruf eines starken Mannes erworben, der mit den Terroristen aufräumen werde. Selbst überzeugte Demokraten und Liberale sehen zur Zeit meist keinen anderen Weg, die Sicherheit im Lande wieder herzustellen, als mit autoritären Maßnahmen und mit gezielter militärischer Gewalt die Terrorgruppen und illegalen Milizen zu bekämpfen.

Für die Regierung steht dabei viel auf dem Spiel. Schafft Allawi es nicht, innerhalb der nächsten Monate die Sicherheitslage in den Griff zu bekommen, verliert seine Regierung jede Autorität im Lande. Als erste beginnen die irakischen Christen, das Vertrauen in eine sicherere Zukunft zu verlieren. Nach den Anschlägen islamistischer Terrorgruppen auf fünf Kirchen in Bagdad und Mossul haben nach Angaben der Ministerin für intern Vertriebene und Emigration, Pasqualina Icho Warda, in den letzten Wochen bereits 40 000 Christen, etwa fünf Prozent der christlichen Minderheit im Irak, das Land verlassen.

Die christlichen Assyrer sind mit einer eigenen Partei an der Regierung beteiligt, verfügen jedoch über keine ausreichenden Sicherheitskräfte oder ein zusammenhängendes Territorium, in dem sie sich, wie die Kurden im Nordirak, vor dem Zugriff der Terrorgruppen selbst schützen könnten. Aber auch die Kurden, in deren wirtschaftlich prosperierendem Gebiet die Lage immer noch relativ ruhig ist, könnten sich bei einem Scheitern der Regierungspolitik nicht mehr mit einer Autonomieregelung zufrieden geben und die Abtrennung von einem Staat verlangen, der zunehmend von rivalisierenden Banden kontrolliert wird.

Um also die Einheit des Irak zu erhalten und das Land zu stabilisieren, braucht die Regierung militärische Erfolge. Die irakischen Sicherheitskräfte müssen dabei im Gegensatz zur US-Armee keine Rücksicht auf eine Präsidentschaftswahl oder eine kritische Öffentlichkeit nehmen. Trotz einer sich rasch entwickelnden unabhängigen Presse im Irak gibt es wenig öffentliche Kritik. Denn Verhandlungen und Kompromisse mit den Milizen scheinen unmöglich, kaum jemand sieht einen anderen Ausweg als ein militärisches Vorgehen.

Dennoch bleibt auch bei einem Erfolg der Regierungspolitik die Frage offen, ob einmal eingeführte autoritäre Maßnahmen nach einer eventuellen Beruhigung der Lage auch wieder zurückgenommen werden. Allawi hat die bereits unter dem US-Verwalter Paul Bremer begonnene Politik der Reintegration ehemaliger Ba’athisten fortgesetzt. Ihre Präsenz in der Polizei, der Armee und dem Geheimdienst, der nun wieder aufgebaut wird, dürfte die autoritären Tendenzen stärken.


Jungle World 36 - 25. August 2004


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