zurück

Ablass für Saddam

Frankreich, Russland und andere Staaten drängen zur Aufhebung des Irak-Embargos. Sobald wieder Normalität herrscht, will Hussein den Norden des Landes angreifen.

Von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken

Nervöse Spannung herrscht im kurdischen Nordirak vor. Seitdem mehrere Staaten vor einigen Wochen angekündigt haben, den Flugverkehr nach Bagdad wieder aufzunehmen, und auf eine Normalisierung der internationalen Beziehungen zum unter Embargo stehenden irakischen Regime drängen, mehren sich Gerüchte, dass ein Angriff irakischer Truppen auf das kurdisch kontrollierte Gebiet bevorsteht.

Denn eine Normalisierung im Umgang mit dem Hussein-Regime würde zwangsläufig die Frage nach dem Status der Region wieder auf die Tagesordnung setzen, die zwar seit 1991 nicht mehr unter der direkten Kontrolle Bagdads steht, offiziell aber noch immer fester Bestandteil des irakischen Staates ist. Die irakische Führung macht kein Hehl daraus, dass sie ihre Gebietshoheit spätestens dann wieder auf den gesamten Irak auszudehnen gedenkt, wenn sie mit der Aufhebung der Sanktionen die volle politische und ökonomische Souveränität wiedererlangt hat.

Dass es nicht zwangsläufig so lange dauern muss, wurde den Menschen im südlichen Teil der Region vergangene Woche wieder einmal deutlich. Während in Bagdad das erste französische Passagierflugzeug seit der Verhängung des Embargos landete und eine Delegation von Ärzten, Künstlern und Friedensaktivisten mit einer Roller-Blade-Performance auf dem Saddam-Flughafen für die Aufhebung des Embargos warb, meldeten kurdische Quellen einen bevorstehenden Angriff auf die Stadt Shamshamal.

Bis zum Ende der Woche marschierten entlang des gesamten südlichen Teils der Demarkationslinie starke irakische Truppenverbände auf. Bei Kifri und Shamshamal stehen sich wieder irakische Eliteverbände der Republikanischen Garden und kurdische Verbände in höchster Anspannung gegenüber.

Fürs Erste blieb der irakische Angriff aus, doch die Bevölkerung der nahe gelegenen Großstadt Suleymaniyah sitzt weiter auf gepackten Koffern. Dort beobachtet man besorgt die rapide Erosion der Anti-Irak-Koalition. Denn neben Russland und Frankreich, die trotz Embargo längst Wirtschaftskontakte zum Irak aufgenommen hatten, stehen jetzt auch Jordanien, Syrien, Jemen, Marokko, Indien und Südafrika in Verhandlungen um Handels- und Energienutzungslizenzen.

Über das ökonomische Kalkül der Beteiligten können die humanitären Begründungen des Embargo-Bruches kaum hinwegtäuschen. Frankreich begründete seinen Schritt genauso wie Jordanien und Syrien mit einer grundsätzlichen Kritik am Embargo gegen den Irak. Bereits zur UN-Vollversammlung Mitte September hatte der französische Außenminister Hubert Védrine das Embargo als »primitive und grausame Maßnahme« verurteilt, die einzig gegen das irakische Volk gerichtet sei. Kurz zuvor hatte ihn Iraks Vizepräsident und Außenminister Tarik Aziz aufgesucht, um ein französisches Veto gegen die Verlängerung des Embargos zu erwirken.

Dass Frankreich kein Veto einlegte und sich stattdessen lediglich der Zustimmung zu einer weiteren Embargo-Verlängerung verweigerte, begründete Védrine mit der unnachgiebigen Haltung der irakischen Regierung, die keinerlei Bereitschaft zeige, Konzessionen an die aufgeweichten Forderungen der UN zu machen. Zeitgleich warnte nämlich die UN-Kommission zur Überwachung der Zerstörung irakischer Massenvernichtungswaffen (Unscom), der Irak habe die Abwesenheit von Inspektionsteams seit Dezember 1998 genutzt, um sein konventionelles und chemisches Rüstungsprogramm weiter auszubauen. Nicht nur die irakischen Kurden, sondern auch Kuwait und Saudi-Arabien beklagten die zunehmend aggressive Haltung der irakischen Regierung.

Die französische Regierung, die 1996 aus der Anti-Irak-Koalition ausgeschert ist und seitdem über Syrien versucht, eine eigene Nahost-Politik gegen die USA durchzusetzen, steht im Falle des Irak vor einem Dilemma. Alle Versuche, durch eine schrittweise Lockerung des Embargos eine Normalisierung der Handelsbeziehungen zum Irak gegen die US-amerikanische Konkurrenz zu betreiben, sind bislang an der unnachgiebigen Haltung der irakischen Regierung gescheitert.

Erst wenige Tage vor dem Treffen zwischen Aziz und Védrine provozierte die irakische Armee einen schweren Grenzzwischenfall, als ein irakischer Kampfjet in den saudischen Luftraum eindrang und die Prince Sultan Airbase ansteuerte, auf der US-amerikanische Staffeln zur Überwachung der Flugverbotszone stationiert sind. Seit Dezember 1998 hat die irakische Armee das Flugverbot im Süden des Landes 150 mal verletzt. Diese ständigen Provokationen genauso wie die regelmäßigen Berichte des UN-Sonderberichterstatters für Menschenrechte im Irak, Max van der Stoel, über den umfassenden Staatsterror gegen die Bevölkerung haben es Ländern wie Frankreich schwer gemacht, im UN-Sicherheitsrat eine klar pro-irakische Haltung zu beziehen.

Bei Iraks Nachbarn ist - mit Ausnahme Kuwaits und Saudi-Arabiens - dagegen ein Stimmungswechsel angesagt. Nach Syrien kündigte am Rande des Opec-Gipfels in Caracas nun auch Irans Präsident Mohammad Khatami eine Normalisierung der Beziehungen an - fast genau zwanzig Jahre nach Ausbruch des Iran-Irak-Krieges.

Die auf eine langfristige Aufweichung des Embargos abzielende Politik europäischer Staaten scheint der irakischen Regierung nun nicht mehr effektiv genug zu sein. Zum zehnten Jahrestag des Embargos begann Aziz deshalb eine diplomatische Rundreise, die ihn nach Indien, Syrien, Südafrika und im August auch nach Moskau führte. Die russische Regierung hat ein vitales Interesse an einer baldigen Aufhebung des Embargos gegen den Irak, der wegen Waffenlieferungen in der Vergangenheit bei Russland tief in der Kreide steht.

Der von Moskau beschlossene Ankauf irakischer Ölförderlizenzen genauso wie Abkommen über die Modernisierung der heruntergekommenen irakischen Streitkräfte kommen beiden Seiten zugute. Doch neben Waffen wurden auch Menschen verhandelt: In Russland wie Weißrussland sammeln sich Flüchtlinge aus dem gesamten asiatischen Raum, denen entweder die Flucht in die Festung Europa missglückt ist oder die wegen der offiziell nicht stattfindenden Kettenabschiebungen dort landen. Die russischen Behörden stehen vor dem Problem, dass kein weiteres Land sich für eine Abschiebung anbietet.

Das kann sich nun ändern. Mit dem ersten beim UN-Sanktionskomitee angemeldeten Flug nach Bagdad wurden nicht nur ganz offiziell russische Erdöl-Experten in den Irak gebracht, es wurde auch die Route geöffnet, über die Aeroflot künftig bis zu dreimal wöchentlich Bagdad anfliegen will. Der Irak soll sich im Gegenzug zur Rücknahme von irakischen Flüchtlingen bereit erklärt haben. Damit wird es erstmals möglich, dass auch aus Deutschland abgeschobene irakische Flüchtlinge per Kettenabschiebung in Bagdad landen.

(Aus: Jungle World, 04. Oktober 2000)

 


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: