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Saddam City unregierbar

Nach fünf Jahren Embargo: Elend und Revolten im Irak

Fast fünf Jahre nach dem Ende des Golfkrieges ist der Konflikt um den Irak noch lange nicht beendet. Noch immer besteht das 1990 verhängte Embargo gegen den Irak, das erst im Oktober erneut auf unbestimmte Zeit verlängert wurde. Zeitgleich inszenierte Saddam Hussein eine groteske Scheinwahl, mit der er seine ungebrochene Stärke nach innen wie nach außen demonstrieren wollte. Westliche Journalisten kamen auf seine Einladung in die "Welthauptstadt des Friedens" Baghdad und dankten ihm die Bewirtung mit Reportagen über die ungebrochene Macht der irakischen Führung.

Dem Spektakel voran ging die wohl heftigste Krise der irakischen Führung seit Ende des Golfkrieges. Im August lehnten sich führende Mitglieder der Regierung offen gegen Saddam Hussein auf: Innenminister Wotban Al-Tikriti und Verteidigungsminister Ali Hassan Majid wurden in Baghdad verhaftet, Hassan Kamil Hussein und über dreißig hochrangige Offiziere und Regierungsmitglieder setzten sich in das benachbarte Jordanien ab und riefen offen zum Sturz des irakischen Diktators auf. Die Palastrevolte gegen den Diktator, die vor allem von den USA mit großem Aufwand unterstützt wurde, scheiterte, und zeigte gleichzeitig vor allem eins: Beinahe fünf Jahre nach dem Golfkrieg ist der Irak weiter denn je von einer gerechten und friedlichen Alternative zu Saddam Hussein und seinem Regime entfernt.

Als die Dissidenten um den Architekten der irakischen Rüstungsindustrie Hassan Kamil Hussein im August in der jordanischen Hauptstadt Amman zum Sturz Saddam Husseins aufriefen, war dies vor allem ein Apell an die westlichen Regierungen, ihren Versuch der Machtübernahme zu unterstützen; ein ernstzunehmendes Angebot an die irakische Zivilbevölkerung jedoch nicht.

Diese mußte jahrelang am eigenen Leib erfahren, daß die mittlerweile geflohenen und verhafteten irakischen Minister und Militärs keine "demokratische Alternative" zu Saddam Hussein darstellen: Nicht einer der Dissidenten, der nicht direkte Verantwortung für die Giftgaskampagnen im kurdischen Norden oder gegen iranische Soldaten im ersten Golfkrieg trägt, der nicht Folter und Massenhinrichtungen veranlaßt hätte. Entsprechend lehnten die irakischen Oppositionsparteien - nach reichlichem Zögern - das von den Dissidenten vorgelegte Modell einer Machtübernahme ab.

Daß dennoch der jordanische König Hussein, zum Unmut seiner Bevölkerung, die alte Allianz mit der irakischen Führung aufkündigte, und die USA sich mit massiver militärischer Präsenz im Nahen Osten auf Saddams Sturz vorbereiteten, deutet auf den Druck hin, unter dem vor allem die westlichen Regierungen stehen: Die Irakfrage endlich lösen zu müssen und eine funktionsfähige, wie ihnen genehme Alternative zu Saddam Hussein zu installieren.

Als Anfang Mai dieses Jahres in der westirakischen Stadt Ramadi der Stamm der Dulaimis auf die Hinrichtung eines Offiziers aus ihren Reihen [1] mit tagelangen Revolten, der Erstürmung der Polizeireviere und der Ermordung von Baath-Kadern antwortete, wurde man in der westlichen Öffentlichkeit erstmals einer neuen Situation gewahr: Während bisher Aufstände gegen das irakische Regime im traditionell aufständischen kurdischen Norden und im schiitischen Süden ausbrachen, kam es erstmals in Saddam Husseins Kernland zu Revolten. Stämme wie die Dulaimis galten bis dato als treueste Stützen seiner Macht. Zu diesem Zeitpunkt müssten einige westliche Militärs und Strategen in helle Panik geraten sein: Nach fünf Jahren Embargo galt der irakische Diktator immer noch als relativ gefestigt. Lebensmittelknappheit, der Zusammenbruch des Gesundheitssystems und in dessen Folge Hunger und Seuchen trafen die Zivilbevölkerung, die herrschende Elite und ihre Geheimdienste allerdings blieben hiervon kaum berührt. Im Gegenteil: das Elend der Bevölkerung war und ist ein wirksames Instrument irakischer Herrschaft seit dem Golfkrieg.

Bislang prophezeite man dem Irak nach dem Sturz Saddam Husseins einen Bürgerkrieg jeder gegen jeden und die Revolte des Dulaimi-Stammes schien dies zu untermauern. Gleichzeitig wurde der Druck im UN-Sicherheitsrat auf die USA immer größer. Vor allem Frankreich und Rußland, bei denen Saddam Hussein seit dem Iran-Irak-Krieg in Milliardenhöhe in der Kreide steht, drängen seit langem auf die Aufhebung der UN-Sanktionen und damit auf eine Rehabilitierung Saddams. Die Übernahme der Leitung des UN-Sanktionsausschusses gegen den Irak durch die Bundesrepublik galt ebenfalls als Druck auf die energische Anti-Saddam-Position der USA, hatte doch der ehemals so wichtige Handelspartner und Lieferant von Giftgasfabriken BRD schon im vergangenen Jahr Verhandlungen mit irakischen Regierungsvertretern über die zukünftige wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgenommen und durch den damaligen Vorsitzenden des auswärtigen Ausschusses Hans Stercken (CDU) verkünden lassen, der Irak sei auf dem Wege der Demokratisierung [2]. Für die USA ist die Option, einen "gezügelten Saddam" zu rehabilitieren inakzeptabel. Dieser Möglichkeit steht nicht nur die noch immer vom gerechten Feldzug beeinflußte amerikanische Öffentlichkeit entgegen, sondern auch klare wirtschaftliche Interessen. Die USA sind bei den vorab geknüpften Außenhandelsverträgen aufgrund der Ablehnung Saddam Husseins nicht so zum Zuge gekommen, wie gewünscht, und werden sich zudem hüten, Saddam Hussein noch ein weiteres mal zu trauen.

Gleichzeitig entwickelt sich das seit mehr als fünf Jahren anhaltende Embargo gegen den Irak immer weiter zu einer humanitären, wie politischen Katastrophe. Mehr als zwei Millionen Menschen sind an Unterernährung oder heilbaren Krankheiten gestorben. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, Cholera und Typhus brachen in den ländlichen Regionen aus. Das humanitäre Programm, das die Folgen des Embargos für die Zivilbevölkerung abfedern sollte, bricht mittlerweile mehr oder minder zusammen: Nicht einmal 10% der Gelder, die benötigt würden, eine flächendeckende Hilfe im Irak zu leisten, wurden der UN in der laufenden Planungsperiode zur Verfügung gestellt. [3]

Auch andere Länder wie Jordanien oder der Jemen sind hart getroffen durch das Embargo. Jordanien, das über keine nennenswerten Rohstoffe verfügt, war wirtschaftlich fast gänzlich vom Handelspartner Irak abhängig. Zusätzlich mußten mehrere hunderttausend Palästinenser aufgenommen werden, die aufgrund der irakfreundlichen Haltung der PLO während des Golfkrieges aus den Golfstaaten geworfen wurden. Wesentlich härter traf diese Situation den Jemen: Ungefähr eine Millionen jemenitische Billiglohnarbeiter, die vormals in den reichen Golfstaaten arbeiteten mußten in den Jemen zurückkehren. Steigende Armut und Verslumung der großen Städte steigerten die Polarisierung des Landes. Die Golfstaaten um Saudi Arabien profitierten hingegen beträchtlich vom Ausfall des Iraks im Ölgeschäft. Mit der ersten Pressekonferenz der nach Jordanien geflohenen irakischen Dissidenten um Hassan Kamil Hussein geriet denn auch folgerichtig der Ölpreis unter Druck.

Betrachtet man die Situation der irakischen Opposition, so wird das eigentliche Dilemma der Embargo-Politik erst richtig deutlich. Offiziell wurde das UN-Embargo verhängt, um die irakische Regierung zur Erfüllung der UN-Resolutionen zu zwingen, die sich hauptsächlich auf die Vernichtung der B- und C- Waffen und die Anerkennung der staatlichen Souveränität Kuwaits, sowie des bestehenden Grenzverlaufs stützen [4]. Gleichzeitig muß einigen Regierungen schon zur Zeit des Golfkrieges klar gewesen sein, daß Saddam Hussein zwar diese oder jene Resolution erfüllen könnte, aber als Bestandteil einer angestrebten neuen Nah-Ost-Regelung selbst nicht in Frage kommen würde. So zielten die Interessen der Staaten, die als Mitglieder des UN-Sicherheitsrates über die jeweilige Verlängerung des Embargos entscheiden, auch auf andere Entwicklungen. Der USA geht es bis heute eindeutig um eine Ablösung des Diktators. Durch die vollständige Isolation wurde es andererseits für die größtenteils im Exil befindliche Opposition immer schwerer, in dem totalitären Kontrollstaat zu operieren. Die Opposition im Irak ist zerstritten und schwach und erfährt kaum nennenswerte Untertsützung aus dem Ausland.

Im Süden kämpft eine schiitische Opposition, über deren Zusammensetzung hier genauso wenig bekannt ist, wie über ihre Ziele. Die kurdischen Parteien sind hoffnungslos zerstritten und ersticken an ihren eigenen Problemen. Der INC (Iraqi National Congress, ein vor allem von den USA und Großbritannien unterstütztes Oppositionsbündnis) wiederum wird zwar stark protektioniert, daß dieser Verband in der Lage wäre, die verschiedenen beteiligten Parteien nach einem Sturz Saddam Husseins zu einigen, ist allerdings mehr als unwahrscheinlich.

Gleichzeitig mit der totalen Verelendung der Bevölkerung im Irak durch das Embargo setzte ein Prozeß der Konsolidierung von Sadams Herrschaft ein. Zwar ist der Diktator verhaßt, die Verelendung der Bevölkerung aber macht jeden Gedanken an Widerstand fast unmöglich - wer 24 Stunden am Tage mit dem Beschaffen von Möglichkeiten beschäftigt ist, seine existentiellsten Bedürfnisse zu befriedigen, hat keine Zeit, eine politische Alternative zu entwickeln.

Daß es der US-amerikanischen Vertretung im UN-Sicherheitsrat nicht um die Durchsetzung der Menschenrechte geht, wie die Sprecherin Allbright ihr Nein zur Aufhebung des Embargos mitunter begründet, zeigte sich in den vergangenen Jahren auch unter Embargobedingungen wiederholt im Irak. Während der kurdische Nordirak als Faktor der Destabilisierung des irakischen Regimes gerade noch so am Überleben gehalten wird, interessierte sich niemand für die Verwüstungen der irakischen Armee im schiitischen Südirak. Unter der Beobachtung der an Menschenrechten so brennend interessierten westlichen Staaten führte die irakische Armee im aufständischen Süden eine Vernichtungskampagne durch, in deren Verlauf tausende Menschen ihr Leben ließen und eine gesamte Region vernichtet wurde. Die südirakischen Sümpfe sind mit Hilfe des 1992 eröffneten Saddam-Kanals, der Euphrat und Tigris verbindet, trockengelegt und mit Napalm angezündet worden. Die wenigen verbliebenen Flußläufe wurden vergiftet. In diese Sümpfe zogen sich 1991 die Aufständischen zurück, nachdem die Städte Basra und Amara von der irakischen Armee gesäubert wurden. Über 100.000 Menschen lebten traditionell in der Region. Einstmals Vorzeigeethnie des Iraks, wurden die Lebensgrundlagen der traditionell in dieser Region lebenden Menschen in kurzer Zeit vernichtet. Bis zu 400.000 Menschen aus dieser Region leben nach Angaben der britischen Hilfsorganisation Amar Appeal in iranischen Flüchtlingslagern, der Krieg im Süden des Iraks geht weiter. Unabhängige Beobachter gibt es hier nicht und auch keine Nato-geschützten UN-Enklaven ...

Nach dem Scheitern des geplanten Sturzes Saddam Husseins durch Mitglieder seiner eigenen Führungsclique wurde ersteinmal zum geordneten Rückzug geblasen. Neue Geheimlager mit biologischen Waffen tauchten auf und das UN-Embargo konnte auf unbestimmte Zeit verlängert werden. Der Druck, eine Lösung für den Irak finden zu müssen, wird derweil immer größer und das Embargo gegen den Irak ist auf Dauer nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Im gesamten Irak kam es in der vergangenen Zeit immer häufiger zu isolierten Aufständen und Revolten. Nach Informationen aus irakischen Oppositionellenkreisen, ist der Baghdader Stadtteil Medina Al-Thaura (offizieller Name: Saddam City) mittlerweile von der Regierung nicht mehr kontrollierbar. Den selben Angaben zufolge wird die Stadt Basra, klassisches Zentrum der Opposition, nachts von Aufständischen regiert. Immer wieder dringen Nachrichten durch über Militärtransporte, die in Hinterhalten aufgebracht wurden, Geheimdienstzentralen, die angegriffen wurden und erschossene Baath-Funktionäre.

Für die westlichen Interessenten am Irak könnten diese Revolten schnell zum Albtraum werden, denn ein unkontrollierter Aufstand im Irak könnte genau jene fördern, die man bei diesem Spiel auf gar keinen Fall dabeihaben möchte. Vor allem aber die Gefahr einer Einflußerweiterung des Irans durch ein Machtvakuum im Irak dürfte dort zu den großen Horrorszenarien zählen.

So befindet sich die konzeptlose internationale Politik gegenüber dem Irak in einer aussichtslos erscheinenden Sackgasse: Der Status quo ist nicht haltbar, der erwünschte Stellvertreter Saddam Husseins nicht in Sicht. Ein Aufhebung des Embargos zum jetzigen Zeitpunkt hieße, Saddam Hussein zu rehabilitieren und bedeutete eine enorme Niederlage für die gesamte vor allem US-amerikanische Nah-Ost-Politik. Eine Sackgasse auch für die Kritiker dieser Politik: Denn unter den momentanen Voraussetzungen fällt die Forderung nach einer bedingungslosen Aufhebung des Embargos genauso aus, wie die Rechtfertigung seiner Beibehaltung.

Fünf Jahre Embargo und über 25 Jahre brutale Baath-Herrschaft haben scheinbar keinen Raum gelassen für gerechte und menschenwürdige Alternativen.

Thomas Uwer (Mitarbeiter der entwicklungspolitischen Organisation WADI e.V.)
(erschienen in analyse & kritik 385, 14.12.1995)

Anmerkungen:

[1] Unter dem Vorwand, sie hätten einen Putschversuch im Dezember 1994 geplant, wurden im April dreißig Offiziere in Baghdad hingerichtet. Unter ihnen auch Mohammad Al-Dulaimi, dem der irakische Geheimdienst auch noch dessen abgetrennte Genitalien in den Mund gesteckt hatte. Bei der Übergabe der Leichen kam es Ende Mai/Anfang Juni in Ramadi zu den beschriebenen Unruhen.Turki Al-Dulaimi, ein Verwandter des ermordeten Luftwaffengenerals, griff mit einem in Abu Gharib stationierten Panzerbataillon daraufhin ein Gebäude des staatlichen Rundfunks an und verschanzte sich darin. Beide Revolten wurden brutal niedergeschlagen.vgl. Auch AK Nr....

[2] Seitdem hat es immer wieder Gespräche zwischen deutschen und irakischen Regierungsvertretern gegeben. Ein Besuch irakischer Regierungsvertreter in Bonn, am 23. Januar d. J. begründet die Bundesregierung mit dem Verweis auf die UN-Resolution 687 - "Hauptgegenstand der Gespräche (...) war der Stand der Erfüllung der abrüstungspolitischen Verpflichtungen aus Resolution 687(...)." (Dtsch Bundestag, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/1361) was eine Regierung, die nicht über einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verfügt im Zweifelsfall nur am Rande angeht.

[3] Schon in der Planungsperiode 1994/95 wurde nur ein Bruchteil der als erforderlich beschriebenen Summe an Hilfsgeldern gezahlt. In dieser Periode arbeiten die am UN-Programm partizipierenden Organisationen nur noch mit ca 50% der Gelder des Vorjahres. Die Gesamtsumme der zur Verfügung stehenden Gelder entspricht in diesem Jahr ungefähr der Summe, die im vergangenen Jahr alleine für die Verteilung von Lebensmittelrationen verwendet wurde. Die meisten der Ausgaben sind nicht durch Zahlungen internationaler Regierungen gedeckt! (vgl. UN-Interagency Humanitarian Programme for Iraq, Midterm-Review, Oct. 95)

[4] Zwar werden in der UN-Resolution 688 auch die Einhaltung der Menschenrechte und ein freier Zugang internationaler Organisationen zu allen Bevölkerungsteilen gefordert, jedoch sind diese Klauseln keine tragenden Kriterien bei der Frage über die Aufhebung des Embargos. Ein Vertreter dess Auswärtigen Amtes kommentierte diese Klauseln in einem Telefonat so: "Können sie mir ein Land nennen, in dem die Menschenrechte eingehalten werden?"

 


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