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Ruf nach Rache

Die offenen konfessionellen Kämpfe im Irak haben nachgelassen. Doch die Gefahr eines Bürgerkriegs ist nicht gebannt.

von Thomas Schmidinger

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Es scheint, als sei die Krise vorbei«, urteilt ­General George Casey. Dass es zu einem Bür­ger­krieg kommen könnte, wollte der Kom­man­dant der US-Truppen im Irak bei seiner Presse­konferenz am Freitag jedoch nicht
ausschließen: »Alles kann passieren.«

Moscheen und religiöse Feierlichkeiten der Schiiten zählen seit Herbst 2003 zu den Hauptzielen des Terrors sunnitischer Jihadisten. Nach dem Anschlag auf eines der wichtigsten schiitischen Heiligtümer am 22. Februar, die Goldene Moschee in Samarra mit den Gräbern zweier schiitischer Imame, kam es erstmals zu einem blutigen Rachefeldzug schiitischer Milizen und junger Männer aus den Armenvierteln Bagdads. In den Tagen nach dem Anschlag wurden rund 90 sunnitische Moscheen, mehrere Geistliche und zahlreiche Zivilisten angegriffen. Auch die Serie sunnitischer Anschläge geht weiter, in der Nacht zum Freitag wurden in Nahrawan 25 schiitische Arbeiter eines Elektrizitätswerks ermordet. Casey schätzt die Zahl der getöteten Zivilisten auf 350, in den irakischen Leichenschauhäusern wurden jedoch 1 300 Tote gezählt. Viele Irakis sahen sich gezwungen, Wohngebiete zu verlassen, in denen Angehörige einer anderen Konfession in der Mehrheit sind.

Ausgangssperren, Fahrverbote und eine demonstrative Präsenz der irakischen Armee konnten in der vergangenen Woche die Lage zwar etwas beruhigen. Doch wie es scheint, ist die von Abu Musab al-Zarqawi geführte irakische al-Qaida damit ihrem Etappenziel, das Land in einen ethnisierten und religiös-sektiererischen Bürgerkrieg zu treiben, näher gekommen. Nur wenige irakische Beobachter formulieren hinter vorgehaltener Hand noch die Hoffnung, dass die schiitischen Racheakte für die arabischen Sunniten ein »heilsamer Schock« sein und ihnen klar machen könnten, dass eine weitere Unterstützung des Terrors durch Teile der sun­ni­tisch-arabischen Bevölkerung auch für diese fatal enden könnte.

Die wütende Basis, die mit jedem Terroranschlag stärker das Recht einforderte, das Heft in die ei­gene Hand zu nehmen und »im sunnitischen Drei­eck einmal ordentlich aufräumen« zu können, wur­de in der Vergangenheit von der politischen und religiösen Führung zurückgehalten. In der schii­tischen und kurdischen Bevölkerung nahm in den vergangenen zwei Jahren das Bedürfnis nach Rache deutlich zu. Bei Reisen in den Irak waren immer deutlicher Stimmen zu hören, die propagierten, dass man das Problem schon selbst lösen könne, wenn einen die Amerikaner nur machen ließen. Vor allem Ayatollah Ali al-Sistani, der einflussreichste schiitische Geistliche des Irak, wird bedrängt. »Die schiitischen Stämme üben viel Druck auf ihn aus, damit er ihnen gestattet, Rache zu nehmen«, sagt Joost Hiltermann von der International Crisis Group.

Zumindest in den offiziellen Stellungnahmen überwiegen noch Aufrufe zum Gewaltverzicht. Führende Politiker der mehrheitlich schiitischen Vereinigten Irakischen Allianz, zu der neben den islamistischen Parteien Sciri (Oberster Rat der Islamischen Revolution) und Dawa auch die Anhänger des extremis­tischen Predigers Muqtada al-Sadr ge­hören, sowie die kurdischen Parteien verurteilten die Racheakte. Präsident Jalal Ta­la­ba­ni rief in einem verzweifelten Appell dazu auf, »gemeinsam gegen die Terroristen vorzugehen, bevor sie den allgemeinen Frieden brechen«, und forderte die schnelle Bildung einer »Regierung der nationalen Einheit«.

Doch auch unter den kurdischen und schiitischen Parteien, die zwei Monate nach den Wahlen noch keine Regierung gebildet haben, gibt es Streit. Die erneute Nominierung des amtierenden Premierministers Ibrahim al-Jafari war nur mit den Stimmen der Anhänger Muqtada al-Sadrs möglich. Der Kandidat der Dawa setzte sich innerhalb der Vereinigten Irakischen Allianz mit 64 zu 63 Stimmen nur knapp gegen Vizepräsident Adel Abdel Mahdi von Sciri durch.

Der daraus folgende Machtzuwachs Muqtada al-Sadrs wird nicht nur von der Kurdistan-Allianz, sondern auch vom säkular orientierten Wahlbündnis unter Iyad Allawi und den sunnitischen Parteien mit Skepsis betrachtet. Auch die in Basra vertretene schiitisch-islamis­tische Fadhila-Partei, eine der kleineren Gruppen in der Vereinigten Irakischen Allianz, zeigte sich vergangene Woche unzufrieden mit der Regierungsbildung und drohte, den Öl- und Warenverkehr aus dem Süden in die Zentralregion zu unterbrechen.
Möglicherweise soll nun doch noch Adel Abdel Mahdi als Kompromisskandidat neuer Premierminister werden.

Die Milizen der wichtigsten schiitisch-islamistischen Organisationen spielten bei den Auseinandersetzungen eine dubiose Rolle. Die Führungen von Sciri und Dawa riefen ebenso wie Muqtada al-Sadr zwar zum Gewaltverzicht auf, doch lokale Kommandanten der »Armee des Mahdi«, der Miliz Sadrs, waren an den Racheaktionen Ende Februar beteiligt. Sadr befahl seinen bewaffneten Anhängern sogar, sunnitische Moscheen in mehrheitlich schiitischen Gebieten zu schützen. Doch die langfristigen Ziele des Islamistenführers sind unklar.
Sadr verband sein Versöhnungsangebot an die irakischen Sunniten mit einer politischen Offensive gegen die US-Amerikaner. Nach seiner Rückkehr von einer Auslandsreise rief er am 28. Februar zu einer gemeinsamen Demons­tration von Schiiten und Sunniten gegen die Be­satzer auf, die sich zugleich gegen al-Qaida und die Mitglieder von Saddam Husseins Baath-Partei richten soll. Diese seien »das Messer, mit dem der Besatzer zusteche«.

Die iranische Führung sieht die Dinge ähnlich. Ali Khamenei, der religiöse Führer des Iran, hatte nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samarra die üblichen Verdächtigen schnell benannt: »Das ist ein politisches Verbrechen, und seine Wurzeln können bei den Geheimdiensten der irakischen Besatzer und der Zionisten gefunden werden.«

Die Lage im Südirak und die Rolle schiitischer Milizen ist zurzeit schwer zu durchschauen. Sunnitische Parteien und US-Behörden werfen seit längerem dem Sciri, der den Innenminister stellt, vor, seine Badr-Brigaden in die Polizei eingeschleust zu haben und eigenmächtig Rache an Sunniten zu üben. In der vergangenen Woche kritisierte John Pace, der bis Februar Direktor des UN-Menschenrechtsbüros war, dass die Badr-Miliz töten und foltern könne, ohne eine Strafverfolgung fürchten zu müssen. Vertreter des Sciri wiederum werfen den Besatzungstruppen vor, mit den sunnitischen Terroristen zu kooperieren oder zumindest eigenmächtig zu verhandeln und damit die Bemühungen des Innenministeriums und der Sicherheitskräfte zu sabotieren.

Tatsächlich drängt die US-Regierung auf die Integration sunnitischer Politiker in die neue Regierung, selbst wenn ihnen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen nachgesagt werden. Doch eine erste Ende vergangenen Jahres von der Arabischen Liga organisierte »Versöhnungs­konferenz« der irakischen Regierung und der Terrorgruppen scheiterte. Und derzeit wird jedes Zugeständnis, das einer Fraktion gemacht wird, von anderen als Affront gewertet. Weder die verschiedenen Parlamentsparteien im Irak noch die US-Regierung scheinen über eine Stra­tegie zu verfügen, die Konflikte unter Kontrolle zu bringen.


Artikel erschienen in Jungle World, Nr. 10 vom 08. März 2006


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