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„Reine Herzen“

Über die „Gründe“ des islamischen Terrors und die Reaktionen auf die Tötung des Hamas-Führers Jassin durch das israelische Militär

von Thomas Uwer

Es gibt Leute, die behaupten, es würde deshalb regnen, weil sie ihren Schirm aufgespannt haben. Man wird in solchen Fällen annehmen, sie leiden unter einer begrenzten Verkehrung von Ursache und Wirkung, einem eher harmlosen psychischen Defekt. Würde so jemand allerdings als Meteorologe arbeiten und sich im Anschluss an die Tagesschau zerknirscht für die Vorhersage des schlechten Wetters am Vortage entschuldigen, die zu Sturmschäden in Millionenhöhe geführt habe, er würde unter dem mitleidigen Gelächter Hunderttausender an einen Therapeuten überwiesen. Daß nicht die Vorhersage, sondern der Sturm die Bäume knickt, weiß jedes Kind.

Am Morgen nachdem die israelische Armee den Führer der palästinensischen Hamas, Scheich Jassin, tötete, meldeten die Nachrichten des Deutschlandfunk, die USA hätten als „Reaktion auf die Tötung des Hamas Führers Jassin“ ihre Botschaften in mehreren arabischen Ländern vorübergehend geschlossen – kein Mensch lachte, niemand kam ernsthaft auf die Idee, die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks für verrückt zu erklären. Was im anderen Fall den Sonderling ausweist, konnte in diesem Fall zu Recht als geteiltes Gemeinwissen vorausgesetzt werden. Der Grund für die vorbeugende Maßnahme der US-Behörden liege nicht in der Ankündigung islamistischer Terrorgruppen, amerikanische und israelische Einrichtungen anzugreifen, sondern in der Liquidierung des Mannes, der persönlich für einen großen Teil des Islamterrors im Nahen Osten verantwortlich zeichnete. „Scharons Raketen zerfetzen die letzte Hoffnung“, schrieb der Spiegel, „Mord am Dialog“ nannte die Schweizer WoZ den Tod des Terroristen. „Die Tötung Jassins ist keineswegs eine zu rechtfertigende Notwehr, um drohende Gefahr abzuwenden“, erklärte die Schwäbische Zeitung. „Sie ist vielmehr staatliche Rache, also von höchster Stelle sanktionierter Mord“.

In der FAZ beschreibt Erik-Michael Bader Israels Politik mit den bekannten Attributen islamischen Terrors: »Die Tötungsmethode ...ist mit den Charakteristika, jederzeit und an jedem Ort überraschend hereinbrechen zu können, geradezu systematisierte Heimtücke.« Die darin enthaltene Prämisse lautet, dass der Islamterrorismus seine Ursachen nicht im politischen Islam und den nahöstlichen Gesellschaften, sondern in der israelischen bzw. amerikanischen Politik hat oder – allgemeiner ausgedrückt – in den sozialen und ökonomischen Bedingungen, denen sich die Verdammten dieses Teils der Erde ausgesetzt sehen. „Hat einer nicht alle Tassen im Schrank“, schreibt Hermann Gremliza nach dem Anschlag von Madrid, „liegt der Gedanke nahe, daß er kein Heim hat, das zu möblieren lohnend erschiene.“ So falsch und unentschuldbar der Terror der „Irren“ also sei, so verständlich weil „sozial erklärbar“ ist er dennoch. „Weil nicht jeder Marokkaner im Sinne (amerikanischer) Interessen gestaltet werden möchte, bewegen sich die Terroristen in den Massen des Südens wie Fische im Wasser.“ Nicht alles daran ist so falsch wie das bestimmte „Weil“.

Irre unter Irren

Daß dem Terror mit Gewalt nicht beizukommen und ein Krieg gegen den Terror also nicht zu gewinnen sei, weiß in Europa scheinbar jedes Kind. Dabei kann ernsthaft kaum bezweifelt werden, daß Gewalt ein sehr probates Mittel gegen Terroristen ist oder wie der Leiter des Nationalen Sicherheitsrates der Regierung Sharon und ehemalige Chef des israelischen Nachrichtendienstes Mossad Efraim Halevi dem verschiedenen Jassin nachrief: „Tatsache ist, dass ein Toter keine Instruktionen mehr geben kann und auch nicht persönlich Leute zu Selbstmordattentaten anstacheln wird.“ Nahezu alle Staaten des sogenannten Kerneuropa haben diese Erfahrung selbst gemacht, als sie ihre eigenen terroristischen Bewegungen in den Siebziger und Achtziger Jahren gewaltsam erstickten. Und auch heute reagieren europäische Gesellschaften ausnahmslos mit der Ausweitung staatlicher Gewalt auf solche Kriminalitätsformen, die in der Öffentlichkeit auf weniger Verständnis stoßen.

Umgekehrt hat sich der islamische Terrorismus als denkbar immun gegenüber Dialogangeboten und Kompromissen gezeigt. In Israel kann man beobachten, wie der suizidale Bombenterror von Hamas und Islamischem Jihad regelhaft in Phasen relativer Ruhe einsetzt, wenn es also aufgrund von Verhandlungen zwischen der israelischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde zu einer Entspannung des Konflikts und einer Erleichterung der Bedingungen auch in den Palästinensergebieten kommt. Die darin zum Ausdruck gebrachte Kompromisslosigkeit liegt nicht zuletzt in der hermetischen Weltsicht des politischen Islam selbst begründet, der eine politische Einigung mit dem Gegner von vornherein ausschließt, da es ihm nicht um verhandelbare politische Ziele, sondern um die Errichtung eines paradiesischen Heilszustandes geht. Da nicht Recht (durch die Schaffung einer institutionalisierten Staatlichkeit) sondern Gerechtigkeit implementiert werden soll, kann auch der Kompromiss niemals mehr als eine vorübergehende Etappe sein. Hinter den Attentaten stehen entsprechend nicht politische Forderungen, die Verhandlungen einleiten sollen, sondern der Versuch der physischen Vernichtung des Gegners. Die Tat des Islambombers und die damit bezweckten Ziele sind eins. „Die letzte Stunde wird nicht anbrechen bevor die Muslime gegen die Juden kämpfen“, heißt es in Artikel 7 des Manifests der Hamas, „und die Muslime sie töten und bis die Juden sich hinter einem Stein oder einem Baum verstecken und der Stein oder der Baum sagt: Muslim, Diener Allahs, da ist ein Jude hinter mir; komm und töte ihn.“

Der pakistanische Journalist Nasra Hassan, der zwischen 1996 und 1999 mehr als 250 Palästinenser interviewte, die an Selbstmordattentaten beteiligt waren, hat das erschreckende Bild einer Gesellschaft gezeichnet, in der die Familien von Selbstmordbombern nach erfolgter Tat ihre „Märtyrer“ feiern und Saft und Süßigkeiten an Besucher verteilen, die zur Gratulation erscheinen. „Was ist das anziehende am Märtyrertod?“ fragt Hassan einen Djihadisten, der noch lebt, weil sein Sprengsatz nicht zündete. „Die Kraft des Geistes, die uns emporhebt, während die Macht der materiellen Dinge uns nach unten zieht. Wer für den Märtyrertod bestimmt ist, wird immun gegen diesen materiellen Sog. Wir waren am schweben, schwammen im Gefühl, bald in die Ewigkeit einzugehen.“ So sehr die Anschläge auch von technischer Vernunft geprägt sind und einem strategischen Kalkül folgen mögen, so wenig verfolgen sie insgesamt einen nachvollziehbaren und im Rahmen eines Menschenlebens zu ermessenden Sinn. Der Glaube an eine apokalyptischen Gerechtigkeit, die den antisemitischen Mörder mit der Vorwegnahme des paradiesischen Heilszustandes belohnt, beseelt dabei Arme wie Reiche gleichermaßen. Der palästinensische Djihadist, den Nasra Hasan interviewte, war berauscht von dem Gefühl, in die Ewigkeit einzugehen. Wie andere auch, war seine Familie nicht abhängig von dem bescheidenen Lohn, den sie für den Tod ihres Sohnes erhält. So groß ist die Masse bereitwilliger Todeskandidaten, die um die Gunst anstehen, ins Paradies zu gelangen, daß es Hamas und Islamischem Jihad leicht fällt, die Söhne und Töchter der Deklassierten und Elenden außen vor zu lassen und nur jene zu wählen, die „reinen Herzens“, also ohne die Hoffnung auf materielle Vorteile in den Tod gehen möchten. Der Islambomber ist keineswegs das Produkt sozialer Randständigkeit; sein Tod, von dem er sich den Eingang ins Paradies erhofft, ist vielmehr die höchste Form der Integration.

Gerechtigkeit

Dennoch hat sich nach den Anschlägen in Madrid, bei denen mit Al-Qaida assoziierte Islambomber aus dem Magreb tatsächlich wehrlose Menschen ohne Ansehen der Person ermordeten, nicht nur in Spanien die Überzeugung durchgesetzt, daß die Ursachen des Terrors in engem Zusammenhang stehen mit dem War on Terror, den vornehmlich die USA als Konsequenz des 11. September 2001 führen. Bei allem Entsetzen über das Ausmaß der Tat scheint den spanischen Wählern - und nicht nur ihnen - offenkundig die Tat selbst folgerichtig zu sein. Daß Menschen, die über Irak und Afghanistan wahrscheinlich kaum mehr wußten, als daß dort Krieg herrschte, ermordet werden und sich im Anschluß eine Gruppe Marokkaner, die mutmaßlich den Anschlag verübt haben, in ihrer Wohnung in die Luft sprengen, weil die Regierung Aznar den Krieg gegen Saddam Hussein unterstützt hat, erscheint ihnen zwar grauenhaft, nichtsdestotrotz aber sinnvoll.

Islamistischer Terror wird umgedeutet zur fehlgeleiteten Form des Protests. Mehr als die trügerische Hoffnung, mit einem Abzug aus dem Irak könne Spanien wieder aus dem Visier der Islamisten rücken, kommt darin der Glaube zum Ausdruck, daß es sich beim Islamterror im Kern um eine Reaktion auf begangenes Unrecht handelt. „Keiner der von der NATO bzw. den USA und ihren Verbündeten geführten Kriege ... hat auch nur eines der Probleme der Länder und Regionen gemindert. Überall hat sich die Lage der Mehrheit der Bevölkerung verschlechtert“, heißt es im Aufruf von Verdi zum „Internationalen Aktionstag für soziale Gerechtigkeit und Frieden am 20. März 2004“. Wenn die Täter in ihren Gesellschaften schon keine Ausgestoßenen sind, dann sind es eben die Gesellschaften selbst, denen im globalen Ringen seit je nicht mehr als die Rolle der Verlierer zugewiesen war. Auch, daß die Probleme dieser „Länder und Regionen“ aus dem Westen stammen, weiß in Europa jedes Kind.

Es sei der Konflikt zwischen den USA und dem Irak „ein gewöhnlicher Vorgang, mit dem sich schon im Feudalismus die Herrschaft herumzuschlagen hatte“, stand vor Jahrsfrist in Konkret zu lesen. „Erst vergibt man ein Lehen und dann paktiert der untreue Beschenkte mit der Konkurrenz.“ Das Spiel, das im Orient gerade gegeben wird, sei nicht mehr als die Fortsetzung des immer Gleichen, angetrieben vom selben Streben nach ökonomischer Ausbeutung und politischer Unterwerfung wie in Panama, Kasachstan, Indonesien und Peru. Man könnte meinen, der einfache Besuch einer Tankstelle reichte aus, die darin zum Ausdruck gebrachte Vorstellung ins Wanken zu bringen. Ein Jahr nach dem Krieg gegen den Irak hat der Spotmarktpreis für Öl seine historische Höchstmarke von 1980 (35 Dollar/Barrel) längst überschritten. Zur Jahresmitte hin wird ein Anstieg auf bis zu 40 US-Dollar befürchtet. 1998 lag der Preis für ein Barrel Öl noch bei etwas mehr als 12 Dollar.

Die darin aufscheinende Tendenz ist lediglich die Fortsetzung einer jahrzehntelangen Entwicklung, die den Glauben an die Durchstrukturierung nahöstlicher Gesellschaften nach dem Primat der Profitmaximierung ernsthaft erschüttern muß. Jahrzehntelang stellte der nahöstliche Markt eine kaum einnehmbare Festung für solche Unternehmen dar, die nicht auf die Belieferung mit industrieller Infrastruktur, Waffen und Fahrzeugen spezialisiert waren. Exporte in arabische Länder waren an den Staat als gesamtideellen Unternehmer vor Ort gebunden und konnten Handels- und Zollbarrieren nur mit Hilfe bilateraler Staatsverträge überwinden. Wesentliche Bereiche der westlichen Konsumgüterindustrie waren (und sind) ohnehin mit Prohibition belegt. Trotz der in den vergangenen Jahren unternommenen Liberalisierung handelt es sich bei fast allen arabischen Staaten immer noch um „closed economies“, zu denen internationale Unternehmen nur in beschränktem Maße Zugang finden. Wer dahinter die unsichtbare Hand des Marktes wähnt, der sieht Gespenster – oder erfindet eben welche. (Horst Pankow, der sich über die Landeskunde der Nahostexperten belustigt, legt dar, wie dank des Irakkrieges die von der Ba’thpartei 1959 in der Verfassung niedergelegten Rechte der irakischen Frauen abgeschafft wurden. Daß die gemeinte Verfassung nicht von der Ba’thpartei geschrieben wurde, sondern von Abdel Karim Qasim, der von eben dieser Ba’thpartei später als „Spion“ und „Verräter“ ermordet wurde, passt nicht in das Bild eines Staates, der nach verhinderter Modernisierung nunmehr in den Zustand „politischer Zoologie“ verfallen sei.)

In gewisser Hinsicht berührt die in Europa aufgeworfene „soziale Frage“ dennoch einen zentralen Aspekt in der Entwicklung nahöstlicher Staaten. Über Jahrzehnte haben die Öl-Oligarchien am Golf wie auch die panarabischen Entwicklungsdiktaturen erfolgreich versucht, die gesellschaftliche Modernisierung auf die Entwicklung technisch-ökonomischer Fertigkeiten zu beschränken und die Herausbildung aller Strukturen zu unterdrücken, die die unbedingte Staatsmacht durch die Forderung nach mehr Freiheit in Frage stellen könnten. Überall fand sich das Kollektiv mal national, mal religiös ins Recht gesetzt, während die »kulturelle Moderne« bürgerlicher Gesellschaften - die Befreiung des Individuums vom Kollektiv - nicht nur abgelehnt, sondern als feindlicher Angriff auf das Kollektiv bekämpft wurde. Die dem ba’thistischen Irak immer wieder nachgesagten sozialen Errungenschaften hat es auch in Staaten wie bspw. Saudi Arabien gegeben, die sich keinen nominal-sozialistischen Anstrich gaben. Sie sind Teil der Wohlfahrt, die sich der despotisch-bürokratische Staat gegenüber seinen Untertanen leistet und dienen nicht der Modernisierung, sondern im Gegenteil der Unterdrückung sich herausbildender Klassen oder Interessensgruppen, die den totalen Machtanspruch ihrer „stationären“ Despotie in Frage stellen könnten. In der Beharrlichkeit dieser „orientalischen Despotie“ ist eine der wesentlichen Antworten auf die Frage zu suchen, was Menschen dazu treibt, sich als Islambomben in die Luft zu sprengen. Die größte Gefahr für die nahöstlichen Diktaturen, wie auch für die islamischen Apokalyptiker, stellen hingegen Menschen dar, die in der Lage sind, individuelle Eigeninteressen zu formulieren und nicht bereitwillig ihr Leben oder das ihrer Kinder für Allah oder die arabische Nation opfern.


Artikel erschienen am 30.04.2004 in Konkret 5/2004


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