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Pschyopathologie des Friedens


von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken


„Nachdem alle Geschichtsphilosophien sich im letzten Jahrhundert verraten haben, ist nur der Glaube an die emotionale Macht der Geschichte übrig geblieben.“

Editorial von „Ästhetik & Kommunikation“: Geschichtsgefühl, Winter 2003


„Wir haben uns auf den Weg gemacht, auf unseren deutschen Weg, auf unseren deutschen Weg, und wir haben viel geschafft, aber wir haben noch nicht alles erreicht.“

Gerhard Schröder Wahlkampfauftakt 2002


Georg Simmel sah im Krieg eine „existenzielle Eigentlichkeit“, Max Scheler sprach von der „Existenzialisierung der Nation“.[1] Als 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach, wurde er mit einem Jubel begrüßt, der seinesgleichen in der Geschichte suchte: „Überwältigt von stürmischer Begeisterung“ sank damals der Kunstmaler Adolf Hitler in „die Knie“ und dankte „dem Himmel aus übervollem Herzen“, für die „Erlösung“, die Erfüllung einer „sittlichen Sehnsucht“.[2] Wie der junge Hitler empfanden in Deutschland Millionen „diese Tage als ein unvergleichliches Gemeinschaftsgefühl“. Der Krieg wurde frenetisch begrüßt als „Modernisierer, (..) Umwälzer, (…) Revolution und Inspiration“.[3] Es waren keineswegs die Kriegsziele, die von Anfang an unklar waren, als vielmehr das Ereignis Krieg selbst, das die Massen auf die Straßen Berlins und anderer Großstädte trieb. Der Kriegsausbruch wurde begrüßt als ein tiefempfundenes spirituelles Erlebnis, das die Phase bigotter Partei- und Interessenspolitik im Inneren und die als verlogen empfundene Diplomatie im Äußeren machtvoll beendete. „Ohne den Krieg würde die Welt in Materialismus versumpfen“[4] hatte Heinrich Graf Moltke schon Ende des 19.Jahrhunderts verkündet und in den intellektuellen und politischen Eliten Deutschlands herrschte das Gefühl vor, langsam aber unaufhaltsam von einem listigen und unsichtbaren Feinde besiegt zu werden. Dieser hieß Materialismus, seine Waffen waren Liberalismus, Sozialdemokratie und Judentum, mit denen er die innere Verfasstheit Deutschlands bedrohte, ganz so, wie englischer Freihandel und französische Republik, den Deutschen von Außen zu Leibe rückten. So sollte Kaiser Wilhelms angestrebter „Platz an der Sonne“ nicht alleine die deutsche koloniale Einflusssphäre in wärmere Gefilde verschieben, sondern im Sinne einer ganz spezifisch „deutschen Mission“ dem rationalen, kalten und interessegeleiteten Materialismus Gefühl, Vision, Innerlichkeit und authentische Werte entgegensetzen. Nichts anderes empfand der expressionistische Maler Franz Marc, als er stellvertretend für seine Generation schrieb, „dieser Großkrieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes.“[5] Etwas ganz ähnliches meinte auch Hitler, der sich vom Kriegserlebnis erhoffte, dass nicht nur „Deutschlands Feinde im Äußeren zerschmettert werden, sondern auch unserer innerer Internationalismus zerbricht. Das wäre mehr wert als aller Ländergewinn.“[6]

So bestand das Eigentümliche am Kriegserlebnis von 1914 war, dass es allen alles bot. Künstler erwarteten ein großes inneres Erlebnis, Studenten den Ausbruch aus spießbürgerlicher Sekurität, Politiker ein Ende der Klassenkonflikte und die Völkischen die Schaffung eines Neuen Reiches. Kein Phantasma, das nicht formuliert wurde, kein Wunsch, der sich nicht durch den Krieg bestätigt sah. Linke und Rechte, Konservative und Alldeutsche, preußisches Militär und bayrische Bohème trafen sich in ihrer Sehnsucht nach der Verwirklichung lang gehegter Träume und Visionen, die allesamt von einer derart übergeordneten Größe waren, dass sie sich als reale politische Kriegsziele nicht eigneten. Sucht man in der Literatur der Zeit nach formulierten Kriegszielen, so wird man schnell feststellen, dass Deutschland nicht weniger als Alles wollte: Den „Platz an der Sonne“, als Vision eines prosperierenden Weltreiches, ein deutsch dominiertes Europa, mehr Lebensraum im Osten, Gerechtigkeit und vor allen Dingen Einheit. Mit Ausbruch des Krieges schienen alle inneren Gegensätze und unvereinbaren Interessen versöhnt in dem Gefühl von Einheit, Aufgabe und Sieg; „die deutsche Einheit, knapp fünfzig Jahre zuvor erreicht, schien jetzt verwirklicht.“[7] Während letztere durch den Krieg selbst hergestellt worden war, bewegten sich die weiteren Ziele auf einem derart hohen Abstraktionsniveau, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Möglichkeiten sie zu erreichen gänzlich unmöglich schien. Noch als sich Deutschland bereits mitten im Krieg befand waren keinerlei konkrete Kriegsziele formuliert worden, im Gegenteil: Die Reichsregierung entschied, „jede öffentliche Diskussion über deutsche Kriegsziele im Detail“ zu verbieten.[8] Gleichzeitig gelang es ihr nicht, die tatsächlich existierenden wirtschaftlichen Interessen der deutschen Industrie zu synthetisieren und in eine Kriegsführung umzusetzen, die nicht jeden an einer Stelle erzielten Gewinn wieder durch die verheerenden Verluste woanders zunichte machte. „Das stolze Reich glich einer Kutsche mit Pferdebespannung gleichzeitig vorn und hinten.“[9] Statt klarer Interessen und Ziele verfügte man lediglich über „eine Strategie und eine Vision“[10], der Krieg als einigende Kraft durfte nicht von „materialistischen“ Interessen profanisiert werden, sondern musste ein heiliges, spirituelles Erlebnis bleiben: „Die Musen schweigen, es gilt den aufgezwungenen Kampf um deutsche Kultur, die die Barbaren vom Osten bedrohen, um deutsche Werte, die der Feind im Westen uns neidet. So entbrennt aufs neue der Furor Teutonicus. Die Begeisterung der Befreiungskämpfe lodert auf, der heilige Krieg bricht aus.“[11]

So undeutlich die Werte und Ziele blieben, so sehr sah man sie bedroht und nahm damit die mögliche Niederlage zugleich vorweg. Der Furor Teutonicus war zwar Erlösung, zugleich aber auch „aufgezwungen“, ein „Befreiungskampf“ gegen die existentielle Bedrohung von Außen, und Selbstzweck zugleich, „das rückhaltlose Einsetzen des ganzen Menschen, das nicht dingt, nicht wägt, nicht schwankt, sondern durchhält bis zuletzt, und mag der Erdball darüber in Trümmern fallen.“[12] Unter anderem daraus resultierte auch jene unheimliche Kompromisslosigkeit, die nur Sieg oder heroischen Untergang kannte, eine Programmatik, die der deutsche Generalstab getreu in die Tat umsetzte. Als Ludendorf noch bei den letzten Offensiven 1918 gefragt wurde, was geschehe, sollten diese scheitern, antwortete er lapidar: „Dann muß Deutschland eben untergehen.“[13] Denn Deutschland war nicht in den Krieg gezogen, um konkrete Ziele zu erreichen oder Probleme zu lösen - der Krieg selbst sollte vielmehr alle Probleme lösen. So war das Verhältnis der Deutschen zum Krieg ein durch und durch existentielles im Sinne Simmels und nicht jenes instrumentelle, das Franzosen, Briten und später Amerikanern ermöglichte, ihre Interessen mit den sozialen und politischen Ziele zu verknüpfen, für die sie kämpften und nach der sie ihre Propaganda ausrichteten. Nichts wurde vehementer abgelehnt als die Idee, man führe Krieg, um bestimmter Ziele willen. Der deutsche „heilige Krieg“ war sich selbst Zweck genug, kämpfte er doch gegen jene unehrlichen Krämer und Händler, die den Furor Teutonicus als dysfunktional ablehnten und Krieg nur um „bestimmter Interessen willen“ führten, wobei Kosten und Nutzen genau abgewägt würden. In der Selbstwahrnehmung waren die Deutschen ein „heldisches Kriegervolk“, dem der Krieg „als die größte sittliche Macht erscheint, deren sich die Vorsehung bedient, um die Menschen auf Erden vor Verlotterung und Fäulnis zu bewahren. (…) Händler und Held: sie bilden die beiden großen Gegensätze, bilden gleichsam die beiden Pole menschlicher Orientierungen auf Erden.“[14] Während der Händler lediglich auf sein Kalkül bedacht ist, zeichnen Treue, Pflichterfüllung und Vaterlandsliebe die Qualitäten des Helden aus. „In Ehre zu fallen ist für einen Streiter solcher Art kein Schrecknis“, heißt es daran anknüpfend in einem Nazitext über das biblische Gleichnis von David und Goliath. Unehrenhaft und schlimmer als der Tod ist das Kalkül, das sich über die Ehre des Krieges hinwegsetzt, indem es einfach nur gewinnen will: „Den starken Philister aus sicherer Entfernung meuchlings mit der Schleuder fällen.“[15] So steht der Händler dem Kriege wie dem Leben gegenüber, denn er verfolgt materielle Ziele, die das „heilige“ Geschehen des Krieges und des Lebens dem Diktat des „eitlen Güterkram“ unterwerfen[16]. So waren es ganz folgerichtig auch nicht die Überheblichkeit und Inkompetenz der Heeresführung, die den Deutschen die (ersehnte und) absehbare Niederlage bereiteten, sondern der Verrat in der Heimat.

Vieles erinnerte im deutschen Friedensfrühling 2003 an das Augusterlebnis von einst: Nicht nur die maßlose Überheblichkeit, mit der sich die politische Führung entgegen der Ratschläge ihres Personals und vieler Verbündeter zum Vorreiter einer „gerechten“ Lösung des Irakkonflikts erklärte und jene Achse zwischen Paris und Moskau ausrief, der schon bei der ersten Pressekonferenz anzusehen war, dass sie eine zweite nicht erleben wird, sondern vor allem das durch und durch existentielle Verhältnis der Deutschen zum Krieg, das sich in der Vorstellung eines Friedens äußerte, der um seiner selbst willen zu fordern war. Der Erfolg der Schröderschen Politik, die sich in dem weithin unerwarteten Sieg der Regierungskoalition bei den Bundestagswahlen niederschlug, gründete nicht zuletzt darin, dass auch im Kriegserlebnis 2003 alle nur denkbaren Wünsche und Visionen Ausdruck fanden, deren Erfüllung ernstzunehmender Weise weder von einem Krieg noch von der Abwendung desselben im Irak zu erwarten war. Von Peter Gauweiler zur DKP, von den deutschen Heilpraktikern e.V. zu Horst Mahler wurde im Irakkrieg ein Konflikt gesehen, bei dem es um christliche Werte, kulturellen Dialog, weltweite Gerechtigkeit, nationale Selbstbestimmung, soziale Umverteilung, Multi- versus Unilateralismus, die Völkergemeinschaft und die globale Weltordnung ging. Nichts beschäftigte die Friedensbewegung zugleich derart, wie der faktenreich geführte Nachweis des Naheliegendsten: Dass Krieg Interessen folgt. Kein Vorwurf gegen die USA und ihren „War on Terror“ ist so endemisch und zugleich überflüssig, wie der, nicht die Sorge um das Wohlbefinden der Afghanen und Irakis motiviere ihr Handeln, sondern ureigenes Interesse. Dass dies nicht anders als rein ökonomisch begründet sein kann, markiert den entscheidenden Unterschied zum Sendungsbewusstsein der unter dem Banner der mernschenrechtsorientierten Außenpolitik angetretenen Bundesregierung. Ölpipelines wurden bereits um halbe Kontinente verlegt, um das amerikanische Interesse am Kosovo zu beweisen, im Irak, wo der Rohstoff direkt unter der Erde liegt, schien jede weitere Erklärung überflüssig. Der Öldurst der Supermacht fällt zusammen mit dem Wunsch die „Weltherrschaft“ zu erreichen oder doch mindestens „die Neuaufteilung der Welt“[17]. Der Rohstoff Öl lieferte einen verdinglichten Grund für alle empfundenen Zumutungen und abstrakt formulierten Drohungen durch die „Globalisierung“ und den Weltmarkt. Das naheliegende wird seitdem zum Skandal: Nicht der drohende Krieg selbst, sondern die Tatsache, dass die USA und ihr engster Alliierter Großbritannien ihn erklärtermaßen führten, um klar umrissene politische Ziele zu erreichen, wobei die Kategorie des Eigeninteresses immer im Vordergrund stand. „Wir versuchen keineswegs im Irak eine liberale westliche Demokratie zu installieren, weil wir evangelistische liberale Demokraten sind“, erklärte Steven den Beste im Wall Street Journal vom 24. 7. 2003 die amerikanische Politik. „Wir wollen den Irak aus reinem Eigeninteresse reformieren. Wir müssen Reformen in der arabischen und muslimischen Welt fördern, weil dies langfristig die einzige Möglichkeit ist, sie davon abzuhalten, uns zu töten.“ Selbst wenn einige der berüchtigten Neokonservativen weniger pragmatisch den „War on Terror“ als amerikanische Mission legitimierten, dem Nahen Osten Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft zu bringen, so überwog in den USA doch jener Pragmatismus, der die „Eigeninteressen“ nie aus den Augen verliert. Ist es doch die Möglichkeit der Durchsetzung eigener Interessen der Individuen als Unternehmer auf dem Markt, die von den berüchtigten NeoCons in klassisch liberaler Tradition als Voraussetzung der Freiheit aller definiert wird.

Es ist kein Zufall, sondern paradigmatisch für die deutsche Geschichte, dass sich das Ressentiment hierzulande am leichtesten gegen die Kategorie des angloamerikanischen Interesses mobilisieren lässt, und dementsprechend ein instrumentelles Verhältnis zu Krieg und Frieden auf Unverständnis stößt. Nur unter diesem Aspekt ist auch zu verstehen, was vordergründig als Widerspruch erscheint: Dass die selbe Regierungskoalition, die am Luftkrieg gegen Jugoslawien beteiligt war, um die Kosovo-Albaner vor angeblichen KZ zu retten, angesichts eines Staates, der ungleich viel grausamer gegen seine Bürger vorgeht, nunmehr mit der selben Verve für eine Appeasementpolitik eintrat. In beiden Fällen zählte, dass nicht vordergründiges Interesse, sondern eine übergeordnete Mission die Politik motivierte. Eine Mission, die heute, wie schon in der Geschichte, undeutlich bleibt und sich praktisch weitgehend in der heroischen Geste erschöpft, notfalls auch einen hohen Verlust in Kauf zu nehmen, um der Sache treu zu bleiben. Dabei hat die Bundesregierung wie damals vollständig verkannt, dass sie – wiewohl angetreten, die Welt zu erlösen – nicht für die Welt sprechen können und nicht einmal für Europa. Das „alte Europa“, das als Gegenmodell zum Amerikanismus aufgestellt wurde, bestand letztlich aus nicht mehr als Deutschland, Österreich und Frankreich, während die Mehrzahl der europäischen Staaten den Irakkrieg entweder unterstützten oder sich zumindest neutral verhielten. Tatsächlich wurde im Zuge der Auseinandersetzung zwischen dem „Alten Europa“ und den USA die Frage nach den Zielen deutscher Irakpolitik völlig sekundär. Was aber die Bundesregierung bezwecken wollte, welche konkrete Lösung sie alternativ zu dem von den USA favorisierten Sturz Saddam Husseins durch militärische Mittel, anzubieten hatte, blieb völlig unklar, sieht man einmal ab von Zielen, die – ähnlich wie einst – derart allgemein blieben, dass sie als erreichbare Politikziele ausscheiden. Mehr noch hatte man es im Falle des ba’thistischen Irak mit einem Staat zu tun, der sich weniger als die meisten anderen zur Zeit eignete, praktische Instrumente zur Durchsetzung der übergeordneten Ziele (Frieden, Gerechtigkeit, Entwicklung und Dialog) zu entwickeln. Damit hängt aufs engste auch das Versagen der Spezialisten zusammen, wie bspw. die Planungsstäbe des Auswärtigen Amtes, die bis zuletzt daran glaubten, einen Krieg verhindern zu können, zugleich aber weder darlegen konnten, was dann zu geschehen habe, noch offensichtlich einen Alternativplan entwickelt hatten, wie zu reagieren sei, sollte die deutsche Position sich nicht durchsetzen. So undeutlich wie die selbst gesteckten Ziele blieben konsequenterweise auch die Horrorszenarien, die einen „Flächenbrand“ in der Region des Nahen Ostens für die Zukunft prognostizierten, das „Ende der multipolaren“ Weltpolitik, den Beginn einer Welt, die nach dem Recht des Stärkeren funktioniert etc. oder aber sich in Superlativen überschlugen, was die zu erwartenden Opferzahlen anbetraf. Dabei kann auch der deutschen Administration kaum entgangen sein, dass die Planungen der Koalitionstruppen eben nicht darauf abzielten, den Irak in Schutt und Asche zu legen.

Die deutsche Haltung im Irakkrieg folgte so wenig einem rationalen Kalkül wie das „Augusterlebnis 1914“, weder ökonomisch noch geostrategisch versprach die Außenpolitik der Bundsregierung praktischen Gewinn. Gegen die moralische Massenmobilisierung der „Weltfriedensmacht Deutschland“ zeigte sich jedes rationale Argument machtlos. Spätestens im Mai 2002 hätte die Bundesregierung wissen müssen, dass die USA es mit ihren Kriegsvorbereitungen ernst meinen und keineswegs gedachten sich von einem Sturz Saddam Husseins abhalten zu lassen. Seitdem werden deutsche Konservative nicht müde den Trümmerhaufen zu beweinen, den die rot-grüne Regierung außenpolitisch hinterlassen hat.

Will man die Frage beantworten, warum die Bundesregierung sich genau so verhalten hat, wo doch nach dem Prinzip zweckrationalen Handelns alles dagegen sprach, so wird man eine Art Psychopathologie des Friedens formulieren müssen. Die Suche nach einem rationalen Kalkül hingegen führt in die Sackgasse linker Metaphysik. Wer ernsthaft glaubt, die Bundesregierung habe die USA kühl kalkuliert in einen aussichtslosen Krieg getrieben, um nach der absehbaren Niederlage der Koalitionstruppen als lachender Gewinner dazustehen, der verkennt nicht nur die Gestaltungsmacht und –fähigkeit der Bundesregierung, sondern verliert auch aus dem Blick, dass es sich bei dem deutschen Friedensfrühling 2003 um ein Massenphänomen handelte, das auch die Regierenden offenbar nicht unberührt ließ. Die offensichtlichste Qualität der Massenaufläufe des vergangenen Jahres bestand, wie dies bei Großveranstaltungen dieser Art häufig der Fall ist, darin, für kurze Zeit die realen Verhältnisse auf den Kopf zu stellen und den Wahn Wirklichkeit werden zu lassen. Dass aus Deutschland der Friedenswillen „der Welt“ gegen das kalte Kalkül weniger Kriegswilliger spricht, dies zumindest wurde zur sinnlichen Erfahrung der Teilnehmer von Aufmärschen mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern. Sinnbildlich für diese Verschiebung von Realität steht das Bild eines jungen Mädchens, das auf der zentralen Großdemonstration in Berlin das Buch „Bowling for Columbine“ von Michael Moore mit hochgerecktem Arm vor sich herträgt, wie einst ihre Elterngeneration die Mao-Bibel – ganz so, als müsse sie die „Wahrheiten“ dieses Buches den Massen erst nahe bringen, als wäre das Buch nicht seit anderthalb Jahren ein Bestseller in Deutschland. So forderte die Friedensbewegung von der Bundesregierung, sich an einem Krieg nicht zu beteiligen, den doch die Bundesregierung selbst vehement ablehnt.

Mehr noch als im Falle des Kosovo-Krieges wurde mit dem Irakkrieg offensichtlich, dass die Bundesregierung in ihren Entscheidungen eben nicht allein dem Diktat der Profitmaximierung folgt. Weder im Kosovo noch mit Saddam Hussein verbanden die Deutschen ein erklärbares ökonomisches Ziel; anders als Frankreich und Russland hatte die deutsche Wirtschaft im Irak nichts zu verlieren, was nicht bereits verloren war oder aber durch Kontrakte mit einer neuen irakischen Regierung schnell wieder hätte wettgemacht werden können. Zwar ist richtig, dass die deutsche Industrie durch ihren Interessenverband BdI in den vergangenen Jahren wieder rege Kontakte zum Regime Saddam Husseins gepflegt und sich für eine Aufhebung der Sanktionen gegen das Zweistromland stark gemacht hat. Mit dem absehbaren Sturz der Husseinregierung aber sucht auch die deutsche Industrie Anschluss an die neue Regierung des Landes. Längst sind Klagen laut geworden, dass deutsche Unternehmen aus dem Wiederaufbau des Landes weitgehend ausgeschlossen seien und bestenfalls die Rolle von Subunternehmern übernehmen können. Für die deutsche Wirtschaft hat sich der Irak als ein gigantisches Verlustgeschäft entpuppt. Bereits 1990 wurden die wirtschaftlichen Verbindungen zum irakischen Ba’thregime aufgrund der politischen Entscheidung der seinerzeitigen Kohlregierung eingefroren. Damals allerdings konnte die Wirtschaft darauf hoffen, das Geschäft nur vorübergehend eingestellt zu haben, während die politische Entscheidung, dies zu tun, der Rationalität folgte, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten, das – auch wirtschaftlich – schwerer wog, als die Belieferung eines Staates, der die Grenzen seiner Kreditwürdigkeit bereits vor Jahren überschritten hatte. Die deutsche Haltung 2003 hingegen wählte nicht das kleinere Übel, sondern forderte die Bereitschaft, für die Durchsetzung einer politischen Entscheidung jeden denkbaren Verlust hinzunehmen.

Damit ist ein weiteres zentrales Motiv der Psychopathologie des Friedens bereits benannt: Die unheimliche Interesselosigkeit, die Deutschland im vergangenen Jahr repräsentierte und die es zur Führungsnation gegen den US-Imperialismus prädestinierte. Es war keineswegs nur Ressentiment gegen die USA und Israel, die die Menschen hinter Deutschland vereinigte, es waren ebenso die großen, selbstlosen Gefühle, die der „deutsche Weg“, wenn auch nur kurzfristig versprach. Am besten wohl traf die linksliberale Frankfurter Rundschau die Stimmung, als sie eine dreiteilige Serie unter dem Titel „Eine Nation wird geboren“ drucken ließ. Drei prominente Sozialdemokraten sahen in den Friedensdemonstrationen ein „erstes Lebenszeichen“ einer europäischen „Nation im Werden“, die in Zukunft eine „Weltfriedenpolitik“ gegen die USA werde durchzusetzen versuchen. Stephan Schlak, Mitherausgeber von „Ästhetik und Kommunikation“ freut sich ein halbes Jahr nach Kriegsende noch immer, dass damals Jürgen Habermas „seine intellektuellen Truppen (…) in die Schlacht gegen den kriegerischen amerikanischen Revanchismus führte“ und dabei „forsch auf die ‚Straße’ (zurück)griff und sich zur neuen ‚Macht der Gefühle’“ griff[18]. Im Februar ging es also erneut um nichts weniger sich von großen Gefühlen übermächtigen zu lassen in einer Schlacht für Frieden und „globale Gerechtigkeit“ gegen Eigennutz, Hunger, Ausbeutung und für die Lösung der „entscheidenden Zukunftsfragen der Menschheit“.[19]

Immer aber wenn die Deutschen ein kollektives Erlebnis haben, stoßen sie auf jene „Nibelungen“, die am Ende im Untergang aller münden. Als Berlin sich schon einmal in „Etzels Schloss“ verwandelte, stellte Klaus Mann in der amerikanischen Armeezeitung Stars and Stripes 1944 fest, dass es in der Nibelungensage um keinen Sieg, „nicht einmal ein heroisches Opfer um einer edlen Sache willen (ging) : es ging um den Tod als solchen und als alleiniges Ziel.“[20] Die Händlernation oder der innere Feind, steckt nachdem Etzles Schloss 1945 in Berlin unterging, den Deutschen weit stärker in ihrer Seele, als zuvor. Ihren nationalen Interessen dienten sie vergangenes Jahr keineswegs, es war ein weiteres Aufbäumen der Gefühle und des Tragischen, dass sie auf die Straßen und in die Fundamentalopposition gegen die USA trieb. Es endete allerdings nicht als blutiges Weltspektakel, sondern als Kleinkunst. Reinhard May ist sicher nur ein müder Wagner-Ersatz. Das aber heißt nicht, dass sie es zur nächsten sich bietenden Gelegenheit nicht wieder versuchen werden.



[1] Zit. nach Herfried Münkler und Wilfried Storch: SiegFRieden, Politik mit einem deutschen Mythos, Frankfurt a. M. 1988. S. 78.

[2] Adolf Hitler: Mein Kampf, München 1933 (37 Aufl.). S. 173

[3] Peter Englund: Menschheit am Nullpunkt, Aus dem Abgrund des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2001. S. 21

[4] Helmuth Graf von Moltke, zit. nach: Detlef Bald: Zum Kriegsbild der militärischen Führung im Kaiserreich, in: Jost Dülffer und Karl Holl: Beriet zum Krieg, Kriegsmentalität im ilheminischen Deutschland, Göttingen 1986. S. 150.

[5] Der Maler Franz Marc Ende 1914, zit, nach Modris Eksteins: Tanz über Gräbern; Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1990 S. 148

[6] Zit. nach Joachim C. Fest: Hitler, Frankfurt a. M., Berlin 1992 (3 Aufl). S. 106

[7] Fest 1992. S. 99.

[8] Imanuel Geis: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, München 1978. S. 86

[9] Geis 1978. S. 79

[10] Eksteins 1990 S. 142 f.

[11] Zit. nach Eckstein 1990, S. 147

[12] Zit. nach: Winfried Baumgart (Hg.): Die Julikrise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Darmstadt 1983. S. 193.

[13] Zit. nach Fest 1992. S. 113.

[14] Werner Sombart, Händler und Helden, Patriotische Besinnungen, München und Leipzig 1915. S. 91.

[15] Ludwig Ferdinand Claus: Semiten der Wüste unter sich, Miterlebnisse eines Rassenforschers, Berlin 1937

[16] In seinem Kampf gegen den Händler darf sich der Held auch modernster Technologie bedienen, Sombart war der Industrialisierung des deutschen Reiches anders als viele völkische Denker, wohlgesonnen, solange er sich nicht vom Krämergeist überwältigen lässt.

[17] Beschluss zur Friedenspolitik des ver.di-Kongresses 2003,
http://www.frieden-und-zukunft.de/netzwerk/verdi/Beschluss-Bundeskongress-10-2003.htm

[18] Stephan Schlak: Hans-Ulrich Wehler und das verlorene Carisma, in: „Ästhetik & Kommunikation“: Geschichtsgefühl, Winter 2003. S. 31

[19] ver.di 2003..

[20] Klaus Mann: Über den Rhein zur Walhalla, in: Ders.: Auf verlorenem Posten, Aufsätze, Reden, Kritiken 1942-


Erschienen in Context XXI, Früjahr 2004


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