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Die Ölrente fließt, der Strom nicht

Nur wenige im Nordirak profitieren vom ökonomischen Boom. Die Proteste gegen die kurdische Regionalregierung wachsen.

von Sandra Strobel, Suleymaniah, und Thomas von der Osten-Sacken

http://www.jungle-world.com/

Während in Bagdad der schiitische Islamist Muqtada al-Sadr seine Getreuen in Massenaufmärschen ihre Solidarität mit der Hizbollah proklamieren lässt, finden auch im Nord­irak Demonstrationen statt. Allerdings richtet der Unmut sich nicht gegen Israel, der Adressat ist die eigene kurdische Regierung und ihre Unfähigkeit, nach nunmehr über drei Jahren so einfache Grundbedürfnisse wie die nach Strom, Wasser oder Benzin zu erfüllen.

In einer Region, in der Unzufriedenheit meist auf Israel und die USA projiziert wird, ist das ein beachtliches Novum. Immerhin haben sich im Juni einer Umfrage der unabhängigen, in Suleymaniah erscheinenden Zeitung Hawlati zufolge sogar 65 Prozent der befragten Kurden für diplomatische Beziehungen mit dem jüdischen Staat ausgesprochen.

Seit einiger Zeit gärt es im überwiegend kurdischen Nordirak. Während sich die Nomenklatura der beiden regierenden Parteien KDP und Puk immer größere Villen baut und in Luxuslimousinen spazieren fährt, steigt seit Monaten der Benzinpreis. Zahlte man im vergangenen Jahr noch zehn Cent pro Liter, so ist es inzwischen ein Dollar. Noch gibt es im Irak keine funktionsfähigen Raffinerien, Benzin muss im Tausch gegen Rohöl aus den Nachbarländern eingeführt werden.

Bei Temperaturen von 50 Grad stellt die Elektrizitätsbehörde täglich gerade einmal sechs bis neun Stunden lang Strom zur Verfügung. Derzeit rächt sich jener wilde Bauboom der vergangenen Jahre, in denen zahlreiche spiegelverglaste Hochhäuser errichtet wurden. Sie müssen im Sommer mit hohem Energieaufwand gekühlt und im Winter geheizt werden.

Eine rationale Stadtplanung existiert nicht, die Spekulation mit Bauland hat inzwischen eine neue Schicht von Reichen geschaffen. Wer heute in Arbil oder Suleymaniah Land kaufen will, blättert mehr Geld hin als in Istanbul oder Ankara. Die ins Land fließende Ölrente wurde nicht genutzt, um in Entwicklungsprojekte zu investieren. »Kurdistan verhält sich wie ein arabisches Emirat in den siebziger Jahren, alles Geld wird verschwendet für Repräsentation und Korruption«, meint der Politologiestudent Nabaz Ahmed. Nepotismus und Bestechlichkeit sind so weit verbreitet, dass jeder mindestens eine Geschichte aus seinem näheren Umfeld zu erzählen weiß. Es gibt Beamte mit einem offiziellen Monatseinkommen von umgerechnet 300 Dollar, die Häuser für mehrere Hunderttausend Dollar bauen.

Die Bevölkerung auf dem Land fühlt sich besonders vernachlässigt. Vor allem für die Jugend gibt es keine Perspektive, wer kann, versucht sein Glück in den Städten. Das Durchschnittsalter im Irak liegt einer UN-Studie zufolge bei 19,5 Jahren. Wer unter 30 ist und nicht für den Staat oder eine Partei arbeitet, hat so gut wie keine Perspektive. Ein Phänomen, das aus jedem Land des Nahen Ostens wohlbekannt ist. Doch der Kampf gegen Israel und der Jihad gelten im Nordirak kaum jemandem als ideales Betätigungsfeld, die jungen Kurden fordern Teilhabe an der Prosperität des Landes.

Versprechungen gab es genug in den vergangenen Jahren. Als nichts passierte, gingen im letzten Jahr in der Kleinstadt Kalar erstmalig Hunderte auf die Straße. Die Polizei reagierte mit Härte und Repression. Im März dieses Jahres erschossen Sicherheitskräfte in Halabja mehrere Demonstranten (?Jungle World, 12/06). Die unabhängige Presse nahm dies zum Anlass, die Regierung heftig zu kritisieren, eine öffentliche Diskussion über die Schattenseiten der zuvor viel gelobten Demokratisierung im Norden des Irak begann. Die konkreten Probleme allerdings wurden nicht behoben.

So jedenfalls sehen es viele Menschen in der Kleinstadt Kifri, die fast 60 Grad Hitze ohne Strom ertragen müssen. »Sie reden und reden, aber es geschieht nichts«, erklärt Fatima M. »Wäh­rend sie sich in Suleymaniah Paläste bauen, haben wir keinen Strom«, meint Fadel K., und ein Dritter, der ungenannt bleiben möchte, droht sogar: »Wir haben gegen Saddam gekämpft, wenn es so weiter geht, werden wir wieder kämpfen.« Wo immer man dieser Tage hinkommt, sind solche oder ähnliche Äußerungen zu hören. In der vergangenen Woche gingen die Menschen in Kifri, Darbandikhan, Cham­chamal, Neu-Halabja, Dohuk und Kalar auf die Straße. Unterstützt wurden sie von neuen, unabhängigen Gruppen und Parteien sowie der KP. Es waren die bislang größten Demonstrationen gegen die kurdische Regierung.

Erneut reagierten die Sicherheitskräfte mit Repression. Der Zeitung Awena zufolge wurden 96 Demonstranten verhaftet und 11 verwundet. Die kurdische Nachrichtenagentur Peyamner meldete zudem, dass nur die parteieigenen Medien eine Erlaubnis hatten, die Demonstrationen zu filmen. Seit langem schon kritisieren die wenigen unabhängigen Medien in den kurdischen Gebieten, dass sie zunehmend in ihrer Arbeit behindert würden. Mehrere Journalisten wurden unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert.

Mit Repression, Nepotismus und dem Vorworf, der Unmut werde von äußeren Feinden angestachelt, werden die Demonstrationen allerdings nicht zu stoppen sein, da sind sich die Organisatoren sicher. Auch wenn der Nordirak noch lange kein Rechtsstaat sei, könne diese Repression gegen Demonstranten und Andersdenkende keineswegs mit dem Vorgehen in den Nachbarländern ver­glichen werden. Die vorhandenen Freiheiten ermöglichen Unmutsäußerungen, und längst ist auch eine öffentliche Diskussion über die Rechenschaftspflicht der Regierung und der Parteien ausgebrochen. So treffen auch regelmäßig Politiker mit Vertretern der Demonstranten zusammen, und der Stadt Halabja wurde nach dem Konflikt im März eine Aufbau­hilfe von 20 Millionen Dollar versprochen.

Aber so leicht werden sich die Demonstranten nicht mehr abspeisen lassen, meint ein Mitglied der Menschenrechtsorganisation DHRD in Suleymaniah. »Wir haben viel gelernt in den letzten zwölf Jahren, und nun ist es an der Zeit, auf friedlichem Wege für all die demokratischen Errungenschaften zu kämpfen, die wir angeblich schon haben.«

In einem Editorial der Zeitung Awene heißt es: »Die kurdische Regierung muss endlich verstehen, dass die weit verbreitete Korruption die Ursache für den Unmut ist und keine ›verborgenen Hände‹ hinter jeder Demonstration stecken. Die Proteste sollen friedlich und organisiert durchgeführt werden. Und als Gegenleistung sollen die Behörden mit ihnen respektvoll umgehen – denn Unterdrückung wird ihnen nicht aus der Krise helfen.«

Ein so genanntes Volkskomitee in Suleymaniah bereitet nun einen friedlichen Generalstreik vor. Auch dass Abubar Madjid und Rizgar Aziz, zwei seiner Mitglieder, vergangene Woche »verschwanden«, hat es nicht von seinem Vorhaben abgebracht.


Artikel erschienen in Jungle World Nr. 33 vom 16. August 2006


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