zurück


Negative Rebellion

Der Aufstieg des Klerikalhooligans Sadr ist typisch für die Entwicklung des sogenannten irakischen Widerstands

von Thomas Uwer

Am Freitag, dem 27. August machten irakische Sicherheitskräfte in der Altstadt Najafs einen grausigen Fund. Im Hof eines Gebäudes, in dem die Milizen Muqtada Sadrs ein Sharia-Gericht unterhalten hatten, wurden 25 Leichen gefunden. »Einige waren exekutiert worden, andere verstümmelt, wieder andere hatte man offensichtlich verbrannt«, berichtete der anwesende Korrespondent von AFP. Die Körper der Getöteten lagen über den Hof verstreut zwischen leeren Bierdosen und anderem Unrat, nur zwei Gefangene, der Onkel des lokalen Polizeichefs sowie ein kleiner Junge, wurden lebend geborgen. Entkommen sind ihre Peiniger, die Milizen der Mahdi-Armee und der Vorsitzende des Sharia Gerichts, Abdul-Sattar Al-Bahadili, jener Vertreter Muqtada Sadrs, der im Mai zur Entführung weiblicher Soldaten aufgerufen hatte, um sie als »Gariyas«, weibliche Lustsklavinnen, zu verwenden. Zusammen mit Sadr und einem ganzen Trupp bewaffneter Milizen war er am Vortag unter den Augen der irakischen Polizei und der Koalitionstruppen unbehelligt abgezogen. Ziehen durften auch solche, die zuvor bereits gefasst worden waren, wie der Sadr-Vertraute Sheikh Ali Smaisem, den man bei dem Versuch verhaftet hatte, mit gestohlenen Kultgegenständen aus dem Imam Ali Schrein und 40.000 US-Dollar aus der Spendenkasse der Moschee abzuhauen.

Diese kleine Geschichte im Nachgang zur Belagerung der Moschee in Najaf, deren Erstürmung nach einhelliger Meinung deutscher Medien und Orientexperten einen Aufstand der Schiiten weit über die Landesgrenzen des Irak nach sich gezogen hätte, mag helfen, die Ereignisse um den selbsternannten religiösen Führer zu verstehen. Denn keineswegs handelte es sich dabei um einen Aufstand der irakischen Schiiten, wohl aber um den Versuch Sadrs, einen solchen Aufstand zu initiieren und die »heilige Stadt« Najaf zum Zentrum der Rebellion und sich selbst zu deren Führer zu machen. Aufschlussreicher aber als die möglichen Beweggründe Sadrs, der danach strebt nicht nur Rebellenführer, sondern zugleich geistliche Autorität zu sein, ist das Verhalten seiner Milizen während jener Wochen, in denen sie die Kontrolle über das Zentrum der Stadt besaßen. Wie in der Moschee selbst, in der sich neben dem vergoldeten Imam Ali Schrein eine Reihe wertvoller Kunstgegenstände befanden, wurde in der ganzen Altstadt geplündert. Die Bewohner wurden von bewaffneten Banden drangsaliert, Menschen ausgeraubt oder verschleppt, von selbsternannten Richtern in Tribunalen abgeurteilt und getötet, wo die Kämpfer des Islam ansonsten ihren Müll hinwarfen. Die Bestandsaufnahme ist so ernüchternd wie typisch. Wo immer Sadr mit Hilfe seiner Milizen »Kontrolle« gewinnt, entsteht die unkontrollierbare Anarchie bewaffneter Banden. In seinen Milizen, die sich aus den perspektivlosen jungen Männern des Bagdader Slums Sadr-City, aus selbsternannten Predigern und schiitischen Geistlichen vom unteren Ende der religiösen Nomenklatura, ehemaligen Soldaten und geflohenen Sträflingen rekrutieren, gelangen die Starken und Brutalen der Elendsquartiere zu Macht, ohne zugleich aus dem Elend auszubrechen. Weit davon entfernt, neue Verhältnisse zu etablieren, perpetuieren sie lediglich einen Ausnahmezustand, der in Sadr-City bereits zur Zeit Saddam Husseins herrschte. Muqtada Sadr ist nicht der Künder einer neuen islamischen Ordnung, sondern der Wortführer einer negativen Rebellion, die außerhalb ihrer selbst keine Ziele kennt.

Nicht der Ehrenrettung schiitischer Geistlichkeit wegen sollte daher das Missverständnis vermieden werden, Muqtada Sadr als Ausdruck der irakischen Schia zu kennzeichnen, sondern weil seine Person mehr über den sogenannten irakischen Widerstand aussagt, als über eine Religionsgemeinschaft, deren beste Eigenschaft darin besteht, einen zentralisierten und auf hierarchischen Strukturen beruhenden Klerus entwickelt zu haben. Sadrs Anspruch auf geistliche Führerschaft hingegen leitet sich lediglich von seinem Vater her, Großayatollah Mohammed Sadiq al-Sadr, der 1999 gemeinsam mit zweien seiner Söhne ermordet wurde. Muqtada tauchte damals unter, um einem weiteren Attentat vorbeugend auszuweichen. In Saddam-City und anderen mehrheitlich schiitischen Städten brachen wütende Aufstände aus, die wochenlang nicht unter Kontrolle gebracht werden konnten.

Sadrs große Stunde schlug erst mit der Befreiung im April letzten Jahres. Im allgemeinen Chaos, das dem Zusammenbruch des Staates folgte, ernannte er sich selbst zum Führer von Saddam-City, das nach seinem Vater in Sadr-City umbenannt wurde. Sein schneller Erfolg fußte darauf, dass er sich gegen die aus dem Exil zurückkehrenden schiitischen Kleriker wandte, die mit den Koalitionstruppen kooperierten und zu einer Normalisierung der Zustände aufriefen. Sadr hingegen lehnte eine Anerkennung der Koalitionsverwaltung ab und forderte einen »Fortgang des Aufstandes«, der keiner war. Anstelle einer Entwaffnung der losen Milizhaufen und einer Trennung von jenen Briganten, die vom Militär und dem Sicherheitsapparat des verschwundenen Staates übrig geblieben sich zu bewaffneten Plündergruppen zusammengeschlossen hatten, verlieh er ihnen Legitimität und Macht in Sadr-City. Die Herrschaft im Chaos sicherte er sich mithilfe von Shariagerichten, in denen seine Milizen »göttliches Recht« exekutierten. Muqtada Sadrs Stärke bestand also einerseits in der faktischen Kontrolle unmittelbarer Gewalt, indem er jene Deklassierten und Perspektivlosen hinter sich zu bringen vermochte, die mit dem Zusammenbruch staatlicher Kontrolle zu den Herrschern der Elendsquartiere geworden waren, und andererseits darin, den ohnehin herrschenden Zustand von Gesetzlosigkeit und Gewalt zu perpetuieren und ihm einen quasi politisch-religiösen Sinn zu geben. Die Sadr-Milizen, die später den Namen Mahdi-Armee erhielten, verstanden sich von Anfang an als Rebellen, nicht nur gegen die Koalitionstruppen, sondern gegen jede Art von staatlicher oder institutioneller Ordnung und zu allererst gegen den schiitischen Klerus, dem Verrat und Abweichung vom wahren Weg vorgeworfen wurde. Muqtada Sadr hingegen war einer der ihren, ein Rebell, ohne religiöse Bildung und Amt. Aktionismus, Kompromisslosigkeit und Gewalt vor allem gegen vermeintliche »Abweichler« sollten die prägenden Merkmale der Sadr-Milizen werden. Bereits wenige Wochen nach der Befreiung ermordeten Anhänger Muqtada Sadrs in Najaf den als liberal geltenden Kleriker Abdel Majid al-Khoei, der gerade erst aus dem britischen Exil zurückgekehrt war. Weniger prominente Opfer waren Frauen, die sich dem Verhüllungszwang widersetzten, Journalisten, Ärzte und junge Männer, die sich zum Dienst bei der staatlichen Polizei gemeldet haben.

Der Aufstieg Muqtada Sadrs kann als durchaus beispielhaft gesehen werden für die Entwicklung des gesamten sogenannten Widerstands im Irak, nicht zuletzt schon deshalb, weil Sadr es verstand über die konfessionellen Grenzen der Schia hinaus Bündnisse zu schmieden und ideologische Anleihen zu nehmen. So verschmelzen in Sadrs Verlautbarungen antiimperialistische Phrasen mit einem von den Ba’thisten entlehnten arabischen Nationalismus, islamische Tugendparolen mit radikalem Antisemitismus, die alle zusammen als Aufruf zur Tat zu verstehen sind und keinerlei Begriff einer wie auch immer gearteten Gesellschaftsordnung in sich tragen, die zu erreichen sich der Widerstand anschickte. Denn dass Sadr wirklich einen Gottesstaat errichten möchte ist lediglich eine gutwillige Interpretation. Genau genommen markiert er in seinen Predigten lediglich die zur Vernichtung freigegebenen Feinde: Juden, Zionisten, Amerikaner, Imperialisten und ihre lokalen »Kollaborateure«. In dieser Feinderklärung ist zugleich der wesentliche ideologische Kernbestand des irakischen »Widerstands« zu sehen, ob es sich um sunnitische Islamisten handelt - »die Kreuzritter und Juden, die Brandstifter und die, die Öl ins Feuer gießen, werden ihre Früchte nicht ernten können« -, den sogenannten patriotischen Widerstand - »der Kampf gegen die Feinde der Nation, Zionisten, Amerikaner, Briten, wird niemals enden, so lange auch nur ein Gläubiger lebt« -, die Ba’thpartei - »im Namen Allahs, dem Barmherzigen, ... wir werden nicht in Frieden leben, solange die verkommene zionistische Entität in unserem Lande weilt« - oder Sadrs schiitische Islamisten - »der Irak wird das Ende Amerikas sein und der Mahdi wird kommen und er wird die jüdische Führung zerschlagen« [alle Zitate aus Aufrufen und Bekennerschreiben der jeweiligen Gruppen]. Kennzeichnend für alle der über 40 meist regional begrenzt agierenden »Widerstandsgruppen« ist daher ein denkbar niedriges ideologisches Niveau bei gleichzeitig extrem hoher Bereitschaft zu gravierenden Gewalttaten, die in der immer gleichen Art und Weise verübt werden. Vermummte Männer mit Kalaschnikow-Gewehren und sowjetischen Panzerabwehrraketen patrouillieren als grölende Horden in den Straßen Sadr-Citys oder Falujas, verlesen als Richter Koranverse für Bekennervideos oder schneiden als Henker ihren Geiseln den Kopf ab.

Große Teile des Zentraliraks, räumte das US-Verteidigungsministerium Anfang September ein, seien »unter der Kontrolle der Aufständischen« und also außerhalb jeglicher Kontrolle. Wie in Sadr-City sind allgemeingültige Regeln und Gesetze sowie staatliche Institutionen auch in den Dörfern und Städten des sunnitischen Dreiecks ersetzt worden von der unmittelbaren und personalen Herrschaft bewaffneter Banden. In ihnen sammeln sich Leute, deren einziges Kapital in der Bereitschaft und Fähigkeit besteht, zu töten, die sie zugleich machtvoll und ersetzbar macht. Da der Reiz dieser Banden zu einem großen Teil darin besteht, Machtlose und Deklassierte mit der Macht auszustatten, über Leben und Tod zu entscheiden, müssen beständig aufs neue derartige Situationen - Entführungen, Belagerungen, Hinterhalte, Säuberungen – herbeigeführt werden, während die einzelne Mordtat vollständig entindividualisiert von den immer gleichen vermummten Gestalten an beliebigen Personen vollzogen wird. Für die Bevölkerung gerät die Herrschaft der Banden damit im eigentlichen Sinne zu Terror.

Es liegt andererseits auf der Hand, dass die Banden, die im Zentralirak ihr Unwesen treiben, zwar in einem zerstörerischen Sinne äußerst effektiv sein können, aber ohne Feind zu überleben kaum in der Lage sind, geschweige denn eine Region auch nur ansatzweise verwalten oder dauerhaft kontrollieren können. Seit Monaten kann man beobachten, wie Hilfskonvois mit Nahrungsmitteln und Medikamenten für die Bevölkerung überfallen oder Ausländer auch dann verschleppt werden, wenn sie, wie die beiden italienischen Entwicklungshelferinnen jüngst, den »Widerstand« unterstützen, bzw., wenn ihre Entführung, wie im Falle zweier französischer Journalisten, diesem »Widerstand« offensichtlich abträglich ist. In Faluja, wo sich die US-Truppen Ende April zurückzogen und das seitdem »befreit« ist, dauerte es keine zwei Wochen, bis die Milizen begannen, sich untereinander zu bekämpfen.

Im Irak bekommt man derzeit eine Ahnung davon, in welchem Ausmaß die gesellschaftliche Zerrüttung in den versteinerten Diktaturen des nahen Ostens bereits fortgeschritten ist und welches Potential an Deklassierten darauf wartet, von dem passenden Racket abgeholt zu werden. Längst ist von einer »Irakisierung« des Terrors die Rede, also dem Wirken regionaler, einfach strukturierter Banden, in denen sich Islamisten und Panarabische, abtrünnige Kommunisten und Faschisten, Sunniten und Schiiten hinter einem ideologisch ausgedünnten Konsens gegen gemeinsame Feinde zusammenschließen. Im Unterschied zu den bekannten Varianten islamischen oder arabischen Terrors kommen die irakischen Banden gänzlich ohne einende nationale Bewegung oder nationalistische Idee, ohne isolierbare und damit angreifbare internationale Netzwerke, ohne gemeinsame ideologische oder religiöse Schulung und letztlich auch ohne die notwendigerweise elitäre Planung diffiziler Attentate aus. In der Praxis benötigt der irakische Terror nicht mehr als ein paar Handfeuerwaffen, viel schlechten Willen und ein schattiges Plätzchen an der Landstraße, wo sich auf Opfer warten lässt. Ideologisch sind die Differenzen zwischen den einzelnen Gruppen auf den gemeinsamen Kampf gegen »Imperialismus und Zionismus«, also Amerika und die Juden zusammengedampft.

Die deutschen und europäischen Unterstützer des Terrors im Irak sind den Schritt hin zur Verbrüderung im gemeinsamen Kampf längst gegangen. Ein für Anfang Oktober in Berlin geplanter »erster arabisch islamischer Kongress«, organisiert von Ba’thisten, soll unter den islamischen Gemeinden Deutschlands für den gemeinsamen Kampf gegen das »zionistische Amerika« werben. Verbreitet wird der Aufruf, der ein arabisches Palästina »vom Fluss bis zur See« und also die Vernichtung Israels, »Solidarität« mit den »Märtyrern«, also mit Mördern fordert, u.a. von einem Münchner PDS-Funktionär, der gemeinsam mit einem Kollegen aus der DKP-Jugendorganisation SDAJ die »kommunistische Zeitung« Rotes Dachau betreibt. In dem Aufruf heißt es: »Wenn Du zu denen gehörst, die sich in den Widerstand und die Intifada verliebt haben, wenn Du einen Beitrag leisten willst zur weltweiten Bewegung gegen den amerikanischen und zionistischen Nazismus,... wenn Du für die Freiheit des palästinensischen und irakischen Volkes von Kolonialismus und amerikanisch-zionistischer Sklaverei bist, pass auf: Dies ist die letzte Schlacht.« Das ist in vielerlei Hinsicht offensichtlich falsch. Was die »letzte Schlacht« aber anbetrifft, von der die Dachauer Herren träumen, so haben sie sich doppelt getäuscht. Ihre islamischen Freunde werden schon dafür sorgen, dass diese Schlacht erst der Anfang einer langen Reihe schmutziger Händel ist, gegen die derzeit nicht die »Völker«, sondern einzig die US-Armee und ihre Verbündeten stehen.

erschienen in: Konkret 10 / 2004


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: