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"Meine Tochter fasst niemand an!"

Über den Kampf gegen Weibliche Genitalverstümmelung im Nordirak

von Mary Kreutzer

Nach Jahren des ba´thistischen Terrors, in dem frauenverachtende Praktiken einen integralen Bestandteil des Herrschaftssystems darstellten, wird nun erstmals ein Tabu-Thema der irakischen Gesellschaft angetastet: eine jüngst veröffentlichte Studie 1) spricht von mindestens 60 % beschnittenen Frauen in der Region Germian. Die Mitarbeiterin von WADI 2) berichtet über Strategien von Fraueninitiativen gegen die schädliche traditionelle Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM).

2004 und 2005 bereiste ich den Nordirak und nahm an etlichen Frauenversammlungen in verschiedenen Dörfern der Region teil. Wadi * (Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland und Österreich) unterstützt dort frauengeführte mobile Teams bestehend aus einer Ärztin und einer Krankenschwester, die Gesundheitsberatung und ambulante Untersuchungen anbieten, sowie aus einer Sozialarbeiterin bzw. Psychologin, die den Frauen in rechtlichen und psychosozialen Fragen zur Seite steht.


Frauenversammlung in Hewata

Es wird Information über Frauenrechte sowie materielle Unterstützung in Form von Lebensmitteln, Kleidung und Medizin geboten. Immer wieder kommt die Diskussion zum Thema Gewalt in der Familie, Zwangsverheiratung, Ehrenmord und - weibliche Genitalverstümmelung. Besonders eindrucksvoll war eine Versammlung in der Ortschaft Hewata. Nachdem die Ärztin über die physischen und psychischen Konsequenzen der Entfernung der weiblichen Genitalien gesprochen hatte, entflammte eine Diskussion unter den etwa 30 anwesenden Frauen - Pros und Contras wurden eingeworfen. Nach zwei Stunden stand eine Frau auf, umarmte ihre kleine Tochter und sagte: "Meine Tochter fasst niemand an! Ich wusste von all dem zuvor nichts, die älteren ließ ich leider noch beschneiden..."


Ba´thistischer und islamistischer Terror gegen Frauen

Frauen wurden unter dem Ba´th-Regime in das totalitäre System ebenso integriert wie Männer, mussten Spitzeldienste leisten und wurden auch zum Militär eingezogen. Nach der "Anfal-Kampagne" der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, in der ca. 180.000 KurdInnen ermordet und über 50.000 Anfal-Witwen unversorgt zurückblieben, wurden die sogenannten "Ehrenmorde" vom Regime mittels des "Gesetzes über persönliche Ehre" legalisiert. 1991 lancierte das Regime eine öffentliche Kampagne gegen angebliche Prostituierte, der zwischen 1991 und 2002 rund 1.500 Frauen zum Opfer fielen. Viele dieser im Zuge der sogenannten "Treue-Kampagne" vom Staat hingerichteten Frauen wurden öffentlich enthauptet.3)

In dieser Zeit, ab dem Jahr 1991, errichteten die KurdInnen im Norden des Landes ein autonomes Gebiet und entkamen den Fängen des Zentralregimes. Doch bald setzten sich in den Grenzgebieten zum Iran islamistische Gruppen fest. Ehrenmorde standen in den Gebieten unter islamistischer Kontrolle wieder an der Tagesordnung, Frauen wurden in sämtlichen Lebensbereichen terrorisiert.


Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Mit dem Sturz des Ba'th-Regimes im April 2003 konnten nun auch die radikal-islamistischen Gruppen in den Bergen des Nordiraks in einer gemeinsamen Offensive von kurdischen Peshmergas und alliierten Truppen vertrieben werden. Die Frauenbewegung, die 1991 entstanden war, tritt seit damals immer stärker an die Öffentlichkeit und beendete die Zeit des Schweigens über die massiven Missstände, unter denen Frauen während der letzten Jahrzehnte zu leiden hatten. Die skizzierten politischen Faktoren, welche es Frauenorganisationen bisher verunmöglicht hatten, über frauenverachtende Traditionen wie etwa FGM oder Ehrenmorde in der Öffentlichkeit zu sprechen (geschweige denn dagegen anzukämpfen), wandelten sich seit 2003 radikal und eröffneten erstmals neue Chancen und Freiräume, die auch genutzt werden. Im Jänner 2004 scheiterte der Versuch der gemäßigten Islamisten der Übergangsregierung, das säkulare Personenstandsrecht abzuschaffen und stattdessen die Sharia einzuführen, am Widerstand von Massendemonstrationen in Bagdad. Im Nordirak formierten sich die Frauenorganisationen und protestierten gegen die zu lasche Verfolgung der nun unter Strafe gestellten "Honour Killings".

Als die ersten mobilen Teams von Wadi vor zwei Jahren begannen, Frauenversammlungen in Dörfern abzuhalten, wurden sie wiederholt mit FGM und dessen Folgen konfrontiert. Die Ärztinnen entschlossen sich eine erste Befragung bei 1544 Frauen und Mädchen ab 10 Jahre in der Region Germian durchzuführen - die Resultate waren schockierend: 907 waren beschnitten, also mindestens 60 % aller Frauen. Nun soll eine umfassende Studie im gesamten Nordirak unter der Beteiligung irakischer und namhafter internationaler Universitäten folgen. Ein Aufklärungsfilm und eine Reportage, die sowohl im Irak als auch im Ausland mittels mobiler Kinovorführungen ausgestrahlt werden sollen, sind kurz vor der Fertigstellung.

Im Irak wird meist die Klitoridektomie (teilweise Entfernung der Klitoris), Sunnah-Beschneidung genannt, vollzogen. Die dafür zuständigen Hebammen führen "die Operation" ohne Betäubung und oft unter prekären hygienischen Umständen durch. Infektionen, Blutungen, Deformation der Genitalien, Probleme beim Urinieren, Geschlechtsverkehr und Geburt sind nur einige der Folgen.

"Als ich 7 Jahre alt war", erzählt die 47-jährige Sairan aus Suleymania, "nahm mich meine Mutter bei der Hand und schleppte mich zu einem Haus mit Holzdach, an das ich mich nur zu gut erinnern kann. Von weitem hörte ich die Schreie anderer Mädchen. Es waren sechs, die sich bereits in dem Haus befanden und die ebenfalls beschnitten wurden." Sie kann die erfahrenen Schmerzen nicht vergessen und leidet heute noch unter Angstzuständen wenn sie an jenen Tag ihrer Kindheit zurückdenkt. 4)

Eine Wadi-Mitarbeiterin erzählt, wie sehr sie und ihre jüngere Schwester die Dorfhebamme fürchteten und vor ihr flohen. Im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern wurden sie nicht beschnitten, da die beiden sich für die jüngeren Schwestern einsetzten und sie vor dem Eingriff bewahrten. Doch in der Öffentlichkeit darüber zu sprechen war für sie unter den Bedingungen der Diktatur und der ständigen Flucht vor der genozidalen Verfolgung durch die Regierungstruppen ein Ding der Unmöglichkeit.

Wadi versucht auch mit muslimischen Autoritäten zusammenzuarbeiten. Liberale sunnitische Geistliche erließen 2001 in Suleymaniah eine fatwa (religiöses Gutachten) gegen FGM. Es ist als ein erster kleiner Erfolg zu betrachten, dass FGM in Stellungnahmen im Fernsehen und Radio thematisiert bzw. zum ersten Mal öffentlich angesprochen wurde. Die der Partei Talabanis, der Patriotischen Partei Kurdistans, nahestehende Frauenorganisation "Kurdistan Women's Union" organisierte eine Kampagne, in der Vorträge und Seminare angeboten und Mütter über die Auswirkungen von FGM aufgeklärt werden. Auch lokale Autoritäten beginnen langsam das Thema ernst zu nehmen und mittlerweile ist FGM nach irakischem Strafgesetzbuch strafbar. Wenn eine registrierte Hebamme bei einer Beschneidung ertappt wird, entzieht man ihr die Lizenz. Aber bei weitem nicht alle "Beschneiderinnen" sind registrierte Hebammen und traditionelle "Beschneiderinnen" führen FGM in ihren Häusern im Geheimen bei der betreffenden Familie durch, worauf das Gesetz (noch) wenig Einfluss hat. Doch die Zeiten des Schweigens sind für irakische Frauen vorüber, auch wenn diese Nachricht so manche Männer noch nicht erreicht haben mag. 5)

Zur Autorin: Mary Kreutzer ist Politikwissenschafterin und Mitherausgeberin des Sammelbandes "Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?" (o.O. 2004). Sie bereiste den Nordirak zuletzt im Frühjahr 2005.


Anmerkungen:

1) Siehe Irin News (UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs 2004) über die Wadi-Studie, am 6. Jänner 2005. Details zur Studie unter: www.wadinet.de/projekte/frauen/fgm/studie.htm

2) Wadi -Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland und Österreich; Information und Kontakt: www.wadinet.at

3) Houzan Mahmoud: " Partizipation durch Widerstand. Der Beschluss 137 und die neue Frauenbewegung für Gleichberechtigung und Säkularismus" im Sammelband von Mary Kreutzer/Thomas Schmidinger (Hg.): "Irak. Von der Republik der Angst zur bürgerlichen Demokratie?" (2004)

4) Roonak Faraj, Talar Nadir: "Female circumcision wrecking lives" (ICR No. 120, 13-Apr-05, Suleymania)

5) Siehe auch den Diskussionsbeitrag von Judith Götz (www.mund.at, Archiv Jänner 2005), in dem sie beschreibt, wie der SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi auf einer Podiumsdiskussion die Existenz von FGM im Irak als "Blödsinn" bezeichnet und dabei von Tarafa Baghajati von der Initiative Muslimischer ÖsterreicherInnen unterstützt wird, der wortwörtlich meint, dass es solche "afrikanischen Bräuche" im Irak nie gegeben habe. Was nicht ins Konzept passt, wird geleugnet, der "Brauch" kurzum nach "Afrika" verlegt. Siehe ebenfalls:
http://www.wadinet.de/news/iraq/newsarticle.php?id=643
http://www.hagalil.com/archiv/2005/01/irak.htm


erschienen in: Frauensolidarität Nr. 92, Juni 2005


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