"Strategische Lücken"
Wer hat Interesse an einem neuen Krieg gegen den Irak? Und wer nicht?
Schenkt man den aktuellen Reaktionen der Bundesregierung glauben, dann steht ein erneuter Golfkrieg kurz bevor. Ausdrücklich sprach sich der SPD-Parteitag dagegen aus, den "Krieg gegen den Terror" nach Afghanistan auf den Irak auszuweiten, eindringlich mahnt der Vorsitzende der Partei und Bundeskanzler, Gerhard Schröder, seitdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur "Zurückhaltung". Ebenfalls "keinen Hehl" aus seiner Kritik an einem möglichen Angriff auf den Irak macht laut FAZ Außenminister Fischer, der im Frühjahr 2001 noch seine Partei in Rage brachte, als er amerikanische Luftangriffe gegen irakische Flugabwehrstellungen verteidigte. Der Bundestagsbeschluß zum Einsatz deutscher Soldaten, sehe ausdrücklich vor, sich "in anderen Staaten als in Afghanistan nur mit Zustimmung der jeweiligen Regierung (zu) beteiligen". Die heftige Ablehnung eines Militärschlags gegen den Irak, lange bevor dieser überhaupt als beschlossen gelten kann, sollte stutzig machen. Denn während in Berlin bereits ein neuer Krieg beschworen wird, weisen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und Außenminister Collin Powell ein solches Szenario noch routinemäßig zurück. Dass es dennoch gute Gründe gibt, eine derartige Situation zu antizipieren, dafür spricht nicht zuletzt die im Verweis auf den Bundestagsbeschluss zum Ausdruck gebrachte Sorge um die staatliche Souveränität des Irak.
Denn elf Jahre nach der Verhängung des Irak-Embargos ist der demonstrative
Einsatz gegen die Einschränkungen, die dem irakischen Regime auferlegt
wurden, zum Entreebillet in die nah-östliche Politik geworden. Längst
sind die Sanktionen aufgeweicht und europäische, russische und südost-asiatische
Firmen stehen Schlange um einen der begehrten Plätze auf der Bagdader
Industriemesse. Während die Bundesregierung ihre offizielle Irak-Politik
in den vergangenen Jahren noch an den USA ausrichtete, hat die deutsche
Wirtschaft die Regierung Saddam Husseins längst schon wieder rehabilitiert.
Erst Ende Juni wurde die deutsche Handelsvertretung in Bagdad wiedereröffnet,
mit der Forderung, ihr möge schon bald eine deutsche Botschaft folgen.
"Die ausschließliche Orientierung an der kompromißlosen
Haltung der Amerikaner ist nicht hilfreich", gab der Hauptgeschäftsführer
des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Ludolf von Wartenberg, die politische
Handlungsoption vor. Es gehe dabei nicht um Schwäche, sondern um eine
"politische Lösung". Dass diese wiederum nur in Aussicht
steht aufgrund der Schwäche der USA, eine politische Option für
einen Irak ohne die Diktatur Saddam Husseins zu schaffen, stellt das ideelle
Gründungskapital der europäischen Nah-Ost-Politik dar. "Andere
Länder, die Mitglieder des Sicherheitsrats sind, haben weniger Berührungsängste
als die deutsche Regierung", stellt von Wartenberg zutreffend fest
und meint damit vor allem Frankreich, das mit seiner offen pro-irakischen
Politik in den vergangenen Jahren in direkte Konkurrenz zu den USA getreten
ist. Vor allem über Frankreich haben Deutschland und die EU nicht nur
ihren Einfluß in Syrien und den palästinensischen Gebieten, sondern
auch in jenen arabischen Staaten geltend machen können, die als fester
Bestandteil der amerikanischen Politik im Nahen-Osten galten. Die Planlosigkeit
der amerikanischen Irak-Politik und der gescheiterte Frieden zwischen Israel
und den Palästinensern hat im vergangenen Jahr zu einer erdrutschartigen
Auflösung der pro-amerikanischen Allianz im Nahen-Osten geführt.
Irak ist seitdem wieder direkt vertreten bei den Gipfeltreffen der arabischen
Staaten, Ägypten hat ein Freihandelsabkommen mit dem Irak beschlossen,
Saudi-Arabien gab seine Restriktionen weniger formell auf und lieferte seit
Mitte letzten Jahres ohne ein bilaterales Abkommen zu schließen Waren
im Wert von rund 650 Millionen US-Dollar in den Irak - vorbei an allen Sanktionsbestimmungen.
Ein Geschäft das um so einträglicher ist, als es unter Sanktionsbedingungen
stattfindet und in dem zugleich die Claims für die Zeit nach der absehbaren
formalen Aufhebung der Sanktionen abgesteckt werden. Der Irak rehabilitierte
sich so schrittweise dank der Fortsetzung des Embargos, während die
USA mehr oder weniger optionslos auf einer Weiterführung des Sanktionsregimes
beharrten, das die Herrschaft Saddam Husseins eher zu zementieren als zu
destabilisieren half. Vor diesem Hintergrund fiel es der Bundesregierung
leicht, die amerikanische Irak-Politik zu unterstützen, die mit halbherzig
durchgeführten Luftangriffen auf Radareinrichtungen dem Rehabilitationskurs
des Irak nicht schadeten, sondern das Regime im regionalen Kontext als Opfer
einer US-amerikanischen Aggression lediglich legitimieren halfen. Unterhalb
der Ebene diplomatischer Beziehungen übernahm die deutsche Industrie
den Job. Während Außenminister Josef Fischer noch die unverbrüchliche
Solidarität mit den USA versicherte, kümmerten sich seine Beamte
gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Bundesausfuhramt
rührend darum, dass auf der Bagdader Industriemesse im Oktober ein
eigener deutscher Pavillon vertreten war.
Mit dem 11. September besteht nun die Möglichkeit, diese strategische
Lücke in der amerikanischen Irak-Politik zu schließen. Denn bei
der Suche nach den "Ursachen des Terrors" gelangt, wer nicht manisch
auf die sogenannte Globalisierung und Israel fixiert ist, fast zwangsläufig
zum Irak. Unabhängig von allen Hinweisen auf konkrete Verbindungen
zwischen Al-Quaida und dem irakischen Geheimdienst Mukhabarat, ist der Irak
der Schlüsselstaat einer anstehenden Neuorientierung des Nahen-Ostens.
In der irakischen Baath-Partei sind alle Tendenzen einer hochgefährlichen,
antiemanzipatorischen Politik im Nahen-Osten zur Herrschaftspraxis geworden.
Saddam Husseins Regime ist es geglückt, die vielbeschworenen arabischen
Massen zu mobilisieren und sie im gleichen Atemzug im eigenen Land dort
zu liquidieren, wo sie dem gnadenlosen Akkumulationsprinzip des Staates
im Wege sind. Die Gefährlichkeit des Regimes, das als einziges bislang
Gebrauch von seinem Arsenal an chemischen Massenvernichtungswaffen bei der
Vernichtung von Teilen der eigenen Zivilbevölkerung machte, erschließt
sich nicht zuletzt aus dem internationalen Bündnis seiner Unterstützer.
In den vielen Anti-Embargo-Komitees und Solidaritätsgruppen finden
sich von randseitigen Nazis bis zu antiimperialistischen Verschwörungstheoretikern
alle wieder, die ihren Hass auf die Zirkulationssphäre von jedem emanzipatorischen
Ballast befreit haben. Für sie ist eine Rehabilitierung Saddam Husseins
vor allem eine Niederlage der USA und ihrer "Agenten", wie die
Kurden im Norden des Landes im baathistischen Duktus heißen. Diese
Zuspitzung des Konfliktes auf einen manichäischen Kampf gegen die USA
erzwingt vor dem Hintergrund des 11. Septembers eine Neuformulierung der
amerikanischen Irak Politik. Die Aufgabe der Bush-Administration lautet
seitdem, wie Kanan Makiya, exilirakischer Autor des Bestsellers "Republic
of Fear" feststellte, Saddam Hussein entweder zu stürzen oder
nunmehr endgültig zu rehabilitieren. Ein Sturz aber wäre, angesichts
der seit elf Jahren ausbleibenden Entwicklung einer Alternative innerhalb
der Elite, nur durch einen Volksaufstand und die Kooperation mit jenen oppositionellen
Kräften möglich, die man bislang zu unterstützen sich weigerte.
Aus Angst vor einer Destabilisierung hatten die Alliierten der Anti-Irak-Koaltion
1991 tatenlos zugeschaut, wie das irakische Regime den landesweiten Aufstand
der Bevölkerung niederwalzte. Mit dem 11. September und dem schnellen
Sieg in Afghanistan hat ist genau diese Option des Volksaufstandes wieder
in den Blick geraten. Innerhalb des US-Establishments wird eine heftige
Debatte um eine zukünftige außenpolitische Strategie zur Befriedung
des Nahen Osten geführt.
Verfolgt man dabei die Argumentation jener als Falken bezeichneten losen
Koalition von Befürwortern eines Militärschlages gegen den Irak,
so ist diese vor allem eine Kritik an der bisherigen Irak- und damit Nahostpolitik
der Vereinigten Staaten. Daß ausgerechnet ehemalige CIA-Chefs wie
R. James Woolsley, der Vizeverteidigungsminster Paul Wolfowitz und republikanische
Abgeordnete wie Newt Gingrich für eine Demokratisierung des Nahen Ostens
und damit einhergehend für einen Sturz des Saddam Regimes werben, mag
auf den ersten Blick erstaunen, setzten doch bislang die USA ebenso wie
ihre europäische Konkurrenz auf die Fortexistenz der Regime in der
Region, die alle oppositionellen Bewegungen mit brutaler Unterdrückung
kontrollieren. Nicht linke Befreiungsbewegungen, sondern die faschistoiden
Regime, die man zu deren Eindämmung favorisiert hatte, geraten zunehmend
in den Ruf die Geopolitik der USA im Nahen-Osten zu gefährden. Ein
Militärschlag gegen den Irak hätte schon von daher auch die anderen
instabilen Regime der Region im Blick. Woolsley etwa erhofft sich zusätzlich
eine Eindämmung des inzwischen als bedrohlich wahrgenommenen Antiamerikanismus
im Nahen Osten: Sollten jubelnde Massen in Bagdad ihre von den Amerikanern
unterstützten Befreier so begrüßen, wie dies kürzlich
in Kabul der Fall war, wäre klar, daß die USA keineswegs den
Menschen in den arabischen Ländern feindlich gegenüber eingestellt
sei.
Gegenüber einer derart grundlegenden außenpolitischen Umorientierung
hält sich die Bush-Regierung vorerst alle Optionen offen. Mit der jüngst
gestellten Forderung nach Wiederaufnahme der Abrüstungskontrollen im
Irak kann der Konflikt genauso eskaliert, wie auch über den UN-Sicherheitsrat
erneut entschärft werden. Dabei dürfte allen Akteuren in Washington
bewußt sein, daß ein "low intesinty war", der
das Regime selbst unangetastet läßt, nach den Ereignissen des
11. Septembers und der schleichenden Rehabilitierung des Irak als finaler
Sieg Saddam Husseins im zehnjährigen Konflikt mit den USA und Großbritannien
aufgefaßt würde. Eine derartige Rehabilitierung aber wäre
zugleich das mittelfristige Ende der kurdischen Selbstverwaltungsgebiete
im Nordirak wie der Hoffnung oppositioneller Gruppen auf ein Ende der Diktatur.
Seit Wochen vermelden kurdische Quellen, daß Eliteeinheiten der gefürchteten
Republikanischen Garden erneut an der Demarkationslinie zum Nordirak zusammengezogen
worden seien und erst kürzlich drohte Saddam Hussein den Kurden offen,
sollten sie nicht mit ihm verhandeln wollen, würde er ihnen "die
Zunge herausschneiden". Entsprechend fürchten die 3, 6 Millionen
Kurden, die sich seit 1991 von der Herrschaft des Hussein-Regimes befreit
haben, daß die neuerliche Eskalation mit einer Katastrophe für
sie enden könnte.
So ist allen Beteiligten, von der irakischen Opposition über die regionalen
Mächte Türkei und Iran bis hin zu den Europäern, klar, daß
eine die anstehende US-irakische Konfrontation, wie immer sie aussehen mag,
nicht in bekannten Bahnen verlaufen wird. Die arabischen Länder, die
damit drohen die sogenannte Koalition gegen den Terrorismus zu verlassen,
sollte der Irak deren nächstes Ziel sein, fürchten dabei nicht
nur die absehbare Legitimationskrise, die ein Angriff auf ein anderes arabisches
Land auslösen würde, sondern die Auflösung der stillschweigenden
Übereinkunft, daß Diktaturen zur Herrschaftssicherung dem Volksaufstand
vorzuziehen sind.
Daß plötzlich ausgerechnet die USA einen solchen Kurs einschlagen
sollten, stiftet Verwirrung nicht zuletzt bei den Akteuren im Irak selbst.
Die Perspektive, Saddam Hussein tatsächlich zu stürzen und einen
demokratischen Irak zu schaffen, die der irakischen Opposition eigentlich
Fanal sein müßte, stößt bei ihnen verständlicherweise
auf Mißtrauen. Während etwa die große kurdische Partei
KDP sich noch genau daran erinnert, dass sie 1975 von den USA und dem verbündeten
Schah-Regime fallen gelassen und dem Baath-Staat ausgeliefert wurde, sind
große Teile der arabischen Opposition einem traditionellen Antiamerikanismus
verhaftet, der in Saddam Hussein vorrangig das Produkt des größeren
Übels USA sieht. Die auf Kosten der Bevölkerung ausgetragene Sanktionspolitik
der vergangenen Jahre ist ihnen schlagender Beweis, daß es Washington
nicht um einen grundlegenden Wandel im Land geht. Daß ausgerechnet
eine Fraktion der islamischen Opposition sich als erste Partei von dieser
Haltung gelöst hat und offen einen von außen forcierten Sturz
des Regimes begrüßt, spricht eher für eine Verschiebung
regionaler Interessen außerhalb des Irak selbst.
Denn mehr als die irakische Opposition sorgt die veränderte Haltung
der Anrainerstaaten Iran und Türkei derzeit für Unruhe in der
europäischen Pro-Irak-Allianz. Längst ist der Iran für die
USA nicht mehr nur einzudämmender Feind, sondern auch ein möglicher
Partner im Nahen Osten und selbst die Türkei, die die Bildung eines
eigenen Kurdenstaates im Nordirak fürchtet, signalisierte kürzlich
gegebenenfalls einen Angriff gegen den Irak mitzutragen. Beide versprechen
sich von einem Militärschlag einen nicht unerheblichen Einfluß
im Irak. Die kurdischen Parteien, die seit Jahren auf Gedeih und Verderb
von der Duldung durch die türkische Regierung abhängen, könnten
sich so paradoxerweise zu Advokaten der Türkei innerhalb eines künftigen
Irak entwickeln. Zugleich fürchten nicht nur die Kurden, daß
ein Ende Saddam Husseins auch das Ende des Irak bedeuten könne, der
in Folge mehr oder weniger offen zwischen den Anrainerstaaten aufgeteilt
werden würde.
Entsprechend fehlt den Falken in Washington für ihre Planungen quasi
das Äquivalent der Nordallianz in Afghanistan. Obwohl alle irakischen
Oppositionsparteien am Sturz des Regimes als vornehmlichem Ziel festhalten
und für die Schaffung eines demokratisch regierten, ungeteilten Iraks
eintreten, zeichnet sich bislang keine tragfähige Perspektive für
ein gemeinsames Vorgehen ab. Dabei wäre es durchaus möglich, daß
sich erstmalig die geostrategischen und ökonomischen Interessen der
Vereinigten Staaten mit denen der Anti-Saddam Kräfte im Lande weitgehend
decken. Im Vergleich zu Deutschland, wo die friedensbewegte Iraksolidarität
volksgemeinschaftliche Pflicht scheint - sind doch die diesbezüglichen
Stellungnahmen von attac und aus dem Bundeskanzleramt fast gleichlautend,
beide mögen sich einen Irak ohne Saddam Hussein gar nicht vorstellen
- lesen sich die Vorschläge aus den USA und Großbritannien wie
emanzipatorische Pamphlete aus vergangenen Zeiten. Daß sie in der
New York Times, der Washington Post und dem Observer und nicht im linken
Samsidat abgedruckt werden, hilft zugleich jene bis zum Überdruß
gestellte Frage zu beantworten, was nach dem 11. September sich alles verändert
hat.
Thomas Uwer und Thomas v. der Osten-Sacken
leicht gekürzt erschienen in konkret 1/ 2002