zurück

Zur aktuellen Lage im Südirak

In antiken Zeiten galt der Südirak[1] als Ort des biblischen Paradieses, das sich in der Region der heutigen Stadt Qurna, am Zusammenfluß von Euphrat und Tigris, befunden haben soll. Im Mittelalter wurde die wasserreiche und fruchtbare Gegend in den Märchen aus Tausend und Einer Nacht besungen. Eine 600 km lange Palmenallee säumte den Tigris von Bagdad bis Basra, das als eine der schönsten arabischen Städte galt.

Wenig ist davon geblieben; der strategisch wichtige Hafen von Basra wurde im Ersten Golfkrieg eines der Hauptangriffsziele der iranischen Armee und auch im 2. Golfkrieg richteten amerikanische Bomben verheerende Schäden an. Von den berühmten Datteln sind nur noch die Stämme geblieben, der Boden ist versalzen, die paradiesische Schönheit verschwunden.

Zwar liegen in der Nähe von Basra die größten Erdölfelder des Iraks, von den Petrodollars hat die Bevölkerung allerdings wenig. Systematisch wurden sie für die Armee ausgegeben und von den Geldern, die nicht in Saddams größenwahnsinnige Rüstungsprojekte flossen, profitierten hauptsächlich die Bewohner der Mitte des Iraks. Während in Bagdad ehrgeizige Bauvorhaben durchgeführt wurden, verfügen bis heute fast alle Stadtviertel Basras über kein geschlossenes Abwassersystem.

Nördlich von Basra beginnt das Marschland, ein Sumpfgebiet, etwa so groß wie Hessen. Einziges Beförderungsmittel sind schmale Boote, die Bewohner leben in schwimmenden Schilfhütten. Das riesige Sumpfland wird von Euphrat und Tigris und von Wasserläufen, die aus dem Iran in die Sümpfe führen, gespeist. Hier lebten 1993 noch schätzungsweise ca. 600.000 Menschen, 200.000 davon sogenannte Marscharaber, die sich dem Leben im Wasser völlig angepaßt hatten. Da sie von Fischfang und Reisanbau abhängig sind, ist das Wasser für sie auch lebensnotwendig. Vor dem Golfkrieg noch waren sie die "Vorzeige-Etnie" des Irak. Ihre traditionelle Bau- und Lebensweise wurde von der irakischen Regierung als Teil der Geschichte des Landes geschützt und gefördert. So vermutete man in den Marscharabern die "Nachkommen sumerischer Fischer, die schon vor mindestens 5000 Jahren hier lebten. Dafür sprechen die Architektur der aus Schilf gebauten Häuser, die Technik, mit der die Boote abgedichtet werden, die Methode des Fischfangs mit Speeren und auch die Haltung von indischen Wasserbüffeln, die einst von den Sumerern eingeführt wurde". [2]

Die Unzugänglichkeit des "arabischen Venedigs" schützte aber nicht nur das Leben der Marscharaber. Für verfolgte Menschen - gewöhnliche Kriminelle wie Oppositionelle - stellte das Sumpfgebiet eine Möglichkeit dar, sich der irakischen Staatsmacht zu entziehen. Die sumpfige Landschaft machte es dem irakischen Militär nahezu unmöglich, das Gebiet wirksam zu kontrollieren. Im Grenzgebiet zum Iran war es oppositionellen Gruppen verschiedenster politischer Ausrichtung möglich, die Grenze zu passieren und grenzüberschreitend gegen die irakische Diktatur zu operieren.

Seit je her gelten die die Südiraker als dem Baghdader Regime oppositionell eingestellt. Die bedeutende Revolution im Irak 1958, die die Monarchie stürzte wurde besonders von Menschen aus Basra, Amara und Kud unterstützt. Nachdem die Baath-Partei die Macht übernommen hatte und später unter Saddam Hussein ihre Diktatur mit immer brutaleren Mitteln stabilisierte stießen die Machthaber im Süden des Landes auf erbitterten Widerstand.

Als 1991 infolge der militärischen Niederlage das Husein-Regime seinen schwächsten Punkt erreicht hatte, wurde der Südirak folgerichtig zu einem der wichtigsten Zentren des ausbrechenden Volksaufstandes. Für einige Tage vertrieb die Bevölkerung der südirakischen Städte die verhaßte Baath-Partei, einfache Soldaten schlossen sich den Aufständen an und selbst in Bagdad waren die schiitischen Slums ein paar Tage lang außer Kontrolle. Das Regime reagierte mit seiner bekannten Brutalität, die sich wenig später im Norden gegen die Kurden wiederholen sollte. Anders aber als in Kurdistan, löste die blutige Niederschlagung des südirakischen Aufstands keine Empörung in der Weltöffentlichkeit aus. Zwar hofften die Menschen auf Hilfe von außen, schließlich hatten die Alliierten der "Anti-Irak-Koalition" die Bevölkerung zum Aufstand aufgerufen; diese Hilfe aber blieb aus. Amerikanische Piloten sahen tatenlos zu wie Stadtviertel in Basra bombardiert wurden, und irakische Eliteeinheiten regelrechte Panzer- und Atillerieringe um die südirakischen Städte zog und Stadtviertel für Stadtviertel in Straßenkämpfen eingenommen wurde. Augenzeugen berichten, daß die Panzer der "Republikanischen Garden" die Aufschrift "No more Schias after today" trugen, als sie in die Städte des Südiraks rollten. Da die Aufstände meist spontan ausgebrochen waren und bindende Oppositionsparteien nur eine untergeordnete Rolle spielten (die Aufstände kamen zu spontan und waren, anders als im kurdischen Nordirak, nicht vorbereitet), richtete sich die Gewalt des Regimes fast ausschließlich gegen die Zivilbevölkerung. Über Wochen wurden in den Städten Massenhinrichtungen von mutmaßlichen "Aufständischen" durchgeführt. Oppositionelle berichteten von Strafexpeditonen, bei denen die Bevölkerung ganzer Dörfer praktisch ausgerottet wurde [3]. Die Regierung erließ ein Verbot, die Leichen ermordeter beizusetzen; ihre Körper sollten auf der Straße verwesen. Beobachter berichteten später, die "Republikanischen Garden" hätten "Aufständische" in Straßen lebend einasphaltieren lassen. Personen, die sich an diesem Aufstand beteiligt hatten, wurden vor ihrer Exekution Hand- und Fußnägel herausgerissen. Die Bevölkerung sollte bei jeder Gelegenheit an die überlegene Gewalt des Regimes erinnert werden.

Viele Soldaten weigerten sich an diesen Massakern teilzunehmen. So berichtete ein Pilot 1991 von einem Einsatz in Basra. Er sollte Napalm über einem aufständischem Stadtviertel abwerfen. Gezwungen wurde er, indem man seine Familie mit auf den Flugplatz nahm und ihm drohte, falls er seinen Befehl nicht ausführen würde, sie - inklusive eines 8 Monate alten Säuglings - brutal zu ermorden. Derartige Vorgehensweisen sind im Irak gang und gebe und ließen sich beliebig weiter aufzählen.

Gesicherte Informationen über die Zahl der Opfer gibt es nicht. Hilfsorganisationen un Oppositionsgruppen gehen aber davon aus, daß mindestens 10.000 im Verlauf dieser ersten Kampagne ums Leben kamen. Immer mehr Menschen flohen in die Marschen. So wurde das Sumpfgebiet für die Hussein-Diktatur zu einem schwer kontrollierbaren Risikofaktor.

So begann die irakische Regierung noch 1991 ein ehrgeiziges Großprojekt, obwohl die Infrastruktur des Landes fast völlig zerstört war. Ein Kanal zwischen Euphrat und Tigris sollte das Wasser dieser Flüsse an den Marschen vorbeileiten und die Bewohner des Gebietes von ihrer Wasserzufuhr abschneiden. Infolge dieses, 1994 fertiggestellten" Saddam-Kanals und anderer Drainagemaßnahmen sinkt der Wasserspiegel der Sümpfe kontinuierlich. Ausgetrocknete Schilfflächen werden von der irakischen Armee abgebrannt, um verwüstete Erde zu hinterlassen. Kanalzuflüsse werden von ihr systematisch vergiftet, damit etwaige Rebellen erkranken und die Fischbestände absterben. 1993 gelang es einem Nahostkorrespondenten der englischen Zeitung "Observer" Shyam Bhatia illegal in die Marschen zu gelangen. Sein Bericht spiegelt das Ausmaß der Zerstörung wieder. Nur noch ein Fünftel des ehemaligen Sumpfgebietes existiert noch, Aktionen von Oppositionellen sind fast unmöglich geworden. Hunger und Epidemien bestimmen das tägliche Leben ebenso wie die Angriffe der irakischen Truppen. Schwer zugängliche Dörfer stehen unter dauerndem Artilleriebeschuß: "Wer immer diese Mörser abfeuert, weiß nicht, wo genau sie landen werden. Da die Hütten entlang dieses rasch fließenden Wasserlaufs aber dicht beieinander liegen, wissen die Iraker genau, daß sie immer ein paar Menschen töten werden und die übrigen in Angst und Schrecken versetzen; genau das ist ihre Absicht".

Dorfbewohner, die in ausgetrockneten Gebieten leben werden zwangsweise umgesiedelt in sogenannte Sammelstädte außerhalb der Region, wo sie ein klägliches Dasein fristen müssen und unter ständiger militärischer Kontrolle stehen[4]. Diesem Schicksal entkommt nur, wer unter strapaziösen und lebensbedrohlichen Bedingungen in den Iran fliehen kann. Dies sind inzwischen mehr als 200.00 Menschen, die auf iranischer Seite in Flüchtlingsunterkünften notdürftig versorgt werden. Die englische Hilfsorganisation "Amar Appeal" berichtet regelmäßig von der katastrophalen Situation in diesen Lagern, von denen im Westen wenig bekannt ist. Irakische Flüchtlinge sind auch im Iran nicht gerne gesehen. Daß sie geduldet werden, ist wohl vorrangig den strategischen Interessen der iranischen Regierung zu verdanken, die in den schiitischen Marschbewohnern potentielle Verbündete gegen den (sunnitischen) Erzfeind Hussein wähnt. Die Flüchtlinge selbst sind zur manövrierbaren Masse geworden, deren Sicherheit jederzeit auch den neuesten politischen Erfordernissen geopfert werden können. Es gibt für sie zur Zeit weder eine Perspektive zurückzukehren, noch sich in die iranische Gesellschaft zu integrieren. Sollte kein radikaler Wandel im Irak stattfinden werden sie auch in Zukunft bei schlechter medizinischer Versorgung ohne Einkommensmöglichkeiten in Flüchtlingslagern vegetieren müssen.

Aber auch die im Südirak verbliebenen Menschen wurden und werden systematisch bei medizinischer Versorgung und den staatlichen Nahrungsmittelverteilungen benachteiligt. In der Region um Nasriyah und Amara brachen schwere Typhus und Cholera-Epidemien aus, weil die Kläranlagen nicht mehr oder nur unzureichend funktionieren und gerade die ländliche Bevölkerung aus den verschmutzen Flüssen Euphrat und Tigris Wasser trinken muß.

Hunderttausende sind bisher an Unterernährung und heilbaren Krankheiten gestorben. Über ein Drittel aller Kinder unter 5 Jahren sind schwer unterernährt, da durch das Embargo Kindernahrung unerschwinglich geworden ist. So kostet eine Dose Milchpulver auf dem freien Markt so viel, wie ein Lehrer in einer Woche verdient. Die medizinische Grundversorgung ist im Prinzip zusammengebrochen, nicht nur weil das Embargo die Einfuhr erschwert, sondern weil das Regime Hilfsgüter in großem Maße zweckentfremdet und an die Armee und Elitetruppen weiterleitet, statt sie den zivilen Hospitälern zukommen zu lassen . Ob die Gelder, die dem Irak neuerdings durch limitierte Ölverkäufe zufließen die Situation der Südiraker verbessert ist fraglich, denn trotz der beschriebenen Vernichtungskampagnen betrachten die Machthaben in Bagdad die Gegend immer noch als Feindesland. Die wenigen Berichte, die von Oppositionsgruppen in den Westen gelangen, berichten immer wieder von Kämpfen und Anschlägen auf Polizeiposten und Parteizentren. Einige Stadtviertel Amaras und Nasseriyas sollen nachts von Rebellen kontrolliert sein. Und obwohl es die Marschen so gut wie nicht mehr gibt, leisten auch dort versprengte Gruppen noch Widerstand. Materielle oder moralische Unterstützung erhalten diese Oppositionellen nicht. Anders als die irakischen Kurden gibt es keine Schutzzone für sie und es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis dieser verzweifelte Widerstand gegen eine der schlimmsten Diktaturen der Welt erstickt wird. In einer Rede hat Saddam angekündigt, daß, sollte er gestürzt werden, das Land mit ihm zugrunde gehen würde.

Wie wenig der sogenannte demokratische Westen sich um die Opposition gegen Saddam schert zeigt wohl vorbildlich, daß in den Schubladen fast aller bedeutender Erdölkompagnien schon die fertigen Verträge liegen für die Zeit nach dem Embargo .... . Hierzu paßt, daß bei einem Besuch in Bagdad der deutsche Staatssekretär Hans Sterken feststellte, daß der Irak sich auf dem Weg der Demokratisierung befinde.

Lügen wie diese gilt es zu entlarven und Solidarität zu üben mit jenen, die unter Lebensgefahr gegen die irakische Diktatur kämpfen. Das mindeste wäre sie zu unterstützen und ihnen, sollten sie in die BRD kommen sofort Asyl zu gewähren.

Thomas Uwer, Thomas v. der Osten-Sacken (WADI e.V.)

(Artikel für die Frankfurter Obdachlosenzeitung "Lobby", 1997)

Anmerkungen

[1]Allgemein wird der Irak aus politischen und geographischen Gründen in drei Teile eingeteilt. das Gebirgige Kurdistan im Norden, in dem es seit 1991 eine quasi Autonomieverwaltung gibt, die sunnitische Mitte mit der Hauptstadt Bagdad und der weiter nördlich gelegenen Erdölmetropole Mossul sind und den Südirak mit dem Zentrum der Hafenstadt Basar.

[2] Aus einem Bericht der britischen Menschenrechtsorganisation "Minority Rights Group"

[3] In einem Fall gelangten die Befehle zur Hinrichtung einer ganzen Dorfbevölkerung in die Hände der irakischen Opposition. Anhand von Protokollen und Namenslisten ließen sich die Namen der verantwortlichen Kommandanten ermitteln: Befehligt und angeleitet wurden die Hinrichtungen von Saddam Husseins Sohn Udai.

[4] Diese Politik hat das Saddam-Regime schon in den 80er Jahren erfolgreich in Kurdistan durchgeführt, wo von 4500 Dörfern 4200 zerstört wurden und außerdem zehn Städte dem Erdboden gleichgemacht wurden.

 


WADI e.V. | tel.: (+49) 069-57002440 | fax (+49) 069-57002444
http://www.wadinet.de | e-mail: