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Chance durch Kultur: Kurdistan im Irak


von Andrea Woeldike

Reist man durch den kurdischen Nordirak, ist das allgegenwärtige Handyklingeln und –trällern bald eine Selbstverständlichkeit. Genauso stolpert man in den Städten Erbil und Suleymaniyah an jeder Ecke über einen Internetladen. Noch wenige Jahre zuvor war es schier unmöglich, selbst im nächsten Ort jemanden telefonisch zu erreichen, geschweige denn, mit dem Rest der Welt virtuell zu kommunizieren.

Das Baath-Regime ließ besonders im Norden des Landes kaum Festnetzleitungen verlegen. Doch nach der Befreiung vom unmittelbaren Zugriff Saddam Husseins, im Jahr 1991, durchbrach der Nordirak binnen weniger Jahre seine völlige Isolation mittels der digitalen Technik. Innerhalb von zehn Jahren gab es beispielsweise in Suleymaniyah, einer Stadt mit einer halben Million Einwohnern, mehr als 20 Telefon- und Internetläden.

Gleichzeitig begannen „nach Jahrzehnten des Krieges und der Unterdrückung durch das irakische Baath-Regime die ‚mountain journalists’ sowie eine große Anzahl von jungen unausgebildeten engagierten Leuten, aller politischer Couleur, mit Vehemenz einen neuen Journalismus in der autonomen kurdischen Region aufzubauen“. Inzwischen publiziert nicht nur jede noch so kleine Partei, und ihre jeweiligen Unterorganisationen, je eine eigene Zeitung, sondern die meisten Parteien betreiben zugleich eine lokale Fernsehstation oder zumindest eine eigene Radiostation, von denen es inzwischen viele neben den zwei großen Satelliten-TV-Sendern gibt.

Daneben haben sich einige unabhängige Zeitungen durchsetzten können, wie beispielsweise die Wochenzeitung Hawlati (Staatsbürger), die seit dem Frühjahr 2000 regelmäßig in einer Auflage von etwa 7000 bis 9000 Stück erscheint und deren Redakteure gehalten sind, keiner Partei anzugehören. Diese, oft auch im Internet gelesene Zeitung, wird nicht nur von vielen geschätzt, da sie parteienübergreifend ist, sondern „sie stellt kritische Fragen, bezüglich politischer Zielsetzungen einzelner Parteien beziehungsweise der Regierungspolitik und stößt damit wichtige Diskussionen an“, meint Abdullah Sabir, der bei der Regionalregierung beschäftigt ist.

Betritt man dagegen eine der vielen kleinen Buchhandlungen in Suleymaniyah, fühlt man sich, je tiefer man sich durch die hochaufgetürmten Bücherstapel in den Laden vorarbeitet, um Jahrzehnte zurückversetzt. Während neben der Tür aktuelle Zeitungen und Magazine ausliegen, gefolgt von Regalen mit Wörter- und Sprachbüchern für Kurdisch, Arabisch, Englisch, Französisch, mit medizinischer Fachliteratur, wird das Angebot an aktueller Literatur in kurdischer oder arabischer Sprache schon merklich weniger.

Und immer öfter fallen, selbst dem des Arabischen kaum Kundigen, die verstaubten Bücherstapel auf, die ein Loblied auf die „großartige panarabische Nation“ oder die „glorreiche baathistische Regierung“ singen. Spätestens, wenn man sich bis zu den Büchern auf Arabisch über Geschichte und Politik durchgearbeitet hat, wähnt man sich wieder im Reich der Verschwörungstheorien Saddam Husseins.

„Während all der Jahrzehnte der Vertreibung und Vernichtung von Kurden im Nordirak war eine politische Auseinandersetzung hier nur vermittels der Malerei, Musik oder teilweise auch in der Poesie möglich, die das individuelle Leiden und die Hoffnungen der Menschen zum Ausdruck brachten. Eine umfassende, kritische Beschäftigung mit der Ideologie des Baath-Regimes blieb zumeist jenen im Exil, wie beispielsweise Kanan Makiya vorbehalten, und diese Bücher erschienen alle nur auf Englisch“ meint Nowzad Chnoor, Mitherausgeber des Zanisti Sardam-Magazines.

Genau diese Lücke zu füllen, hat sich das im Jahr 1998 im kurdischen Nordirak gegründete „Sardam Printing and Publishing House“ zur vordringlichen Aufgabe gemacht. Ein Schwerpunkt von Sardam, was auf Deutsch sinngemäß „in Gefängniszeiten“ bedeutet, liegt auf der Übersetzung amerikanischer und europäischer Literatur sowie Philosophie ins Kurdische, darunter „Sophies Welt“, und Veröffentlichungen von Büchern kurdischer Autoren. Der zweite Schwerpunkt liegt auf der Herausgabe von diversen Magazinen, unter besonderer Berücksichtigung von Kunst, Wissenschaft sowie kurdischer Kultur und Geschichte. Neu hinzugekommen ist seit dem Frühjahr 2003 ein vierteljährlich erscheinendes Heft, welches in Arabisch herausgegeben wird, um die Menschen im gesamten Irak und in der arabischsprachigen Welt Informationen über kurdische Geschichte, die Verfolgung und Vernichtung der Kurden und deren Unterdrückung zugänglich zu machen. Die zuletzt erschienene Ausgabe hatte beispielsweise den Focus auf die Anfal-Kampagnen von 1988 gerichtet.

Sherko Berkas fasst das Anliegen des Verlagshauses folgendermaßen zusammen: „Wir wollen den Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft im Bewusstsein unserer Geschichte unterstützen. Was zugleich bedeutet, dass endlich diese verhängnisvolle Idee einer homogenen, einheitlichen arabischen Welt überwunden werden muss. Genau dies versuchen wir durch die von uns subventionierte Herausgabe von arabischsprachigen Magazinen über kurdische Geschichte.“

Die Vorstellung einer homogenen arabischen Welt wird aber nicht nur weiterhin von Islamisten und arabischen Staaten gepflegt, sondern scheint auch in Deutschland noch weit verbreitet: etwa bei der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, die diesmal kein Gastland sondern die „Gastregion: Arabische Welt“ eingeladen hat. Die Sivan-Perwer-Kulturstiftung (benannt nach dem gleichnamigen kurdischen Sänger) hat dagegen in Form eines offenen Briefes protestiert: „Es existiert[...] in den Ländern des Nahen Osten weder eine homogene Kultur noch existieren homogene arabische Staatsvölker – vielmehr handelt es sich hier seit Jahrtausenden um Vielvölkernationen, deren diverse Angehörige in der Regel zwangsarabisiert wurden. Wo erscheinen und gewinnen auf der diesjährigen Buchmesse jene Stimme und Gewicht, die als Kurden, Yeziden, Assyrer, Drusen, Tscherkessen, Kopten oder Berber sehr wohl einen wesentlichen literarischen Beitrag dieser Region für die Welt geleistet haben? Sie sämtlich unter dem Siegel des Arabismus erscheinen zu lassen, würde lediglich die Fortsetzung ihrer Verleugnung und Unterdrückung gutheißen.“

erschienen in: Fairplanet News - September 2004


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