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Kein Krieg / Kein Frieden


Aus: "konkret", Heft 4, April 2002

Kürzlich veröffentlichte die französische Organisation "Alliance Internationale pour la Justice" eine Liste der Verbrechen, die im Irak seit der Machtergreifung Saddam Husseins begangen wurden. Eine Million Tote, also über 5% der Bevölkerung, heißt es dort unter anderem, seien – Kriegs- und Embargounabhängig - seit 1979 dem staatlichen Terror des Regimes zum Opfer gefallen, weitere 1, 5 Millionen wurden zwangsweise umgesiedelt. Es folgt der erstaunte Hinweis, daß über diese Verbrechen weitgehend geschwiegen wird, wenn vom Irak die Rede ist.

Eine Beobachtung, die für Deutschland noch mehr zutrifft als für Frankreich. Während derzeit allerorten über einen erneuten Krieg gegen das irakische Regime spekuliert wird, ist über die Lage im Irak selbst und seine Bewohner bestenfalls zu erfahren, daß diese unter dem Embargo leiden. Wer mehr wissen will, der hält sich an die Rubrik "Vermischtes". Wöchentlich findet sich dort der Body Count der ertrunkenen, erstickten oder im Kanal-Tunnel zu Tode gekommenen irakischen Flüchtlinge, die vom Europäischen Rat bereits 1998 als Hauptproblem der gemeinschaftlichen Asylpolitik ausgemacht wurden. Die Gründe dafür, daß so viele Iraker ihr Leben riskieren, bleiben auch dort ungenannt.

Stattdessen berichten nach Bagdad entsandte Korrespondenten einfühlsam über Besuche in Kinderkrankenhäusern. Während irakische Oppositionelle darauf verweisen, daß Saddam gezielt ganze Teile der eigenen Bevölkerung aushungert und systematisch Milliarden in die Wiederaufrüstung des Landes fließen lässt, wird vom ehemaligen Leiter des "Öl für Nahrungsmittel" Programms im Irak, Hans von Sponeck in unzähligen Interviews alleine den USA zur Last gelegt, am Hungertod Tausender Schuld zu tragen. So gerät aus dem Blick, daß das Regime die letzten zehn Jahre mit der Situation bestens leben konnte: Es rechtfertigt Folter und Hinrichtungen gegenüber dem UN-Menschenrechtsausschuss mit der Kriminalität infolge der Sanktionen und hungert die nichtverwertbare Bevölkerung systematisch aus.

"Für den Irak ist der UNO ein Verhandlungsmandat zu erteilen mit dem Ziel, neutrale Waffeninspektoren zuzulassen und das Embargo aufzuheben" fordert die Ärzteinitiative IPPNW von ihrer Regierung, die sich im Verein mit der Opposition diese Forderung längst zu eigen gemacht hat. Wenn Karl Lamers (CDU) in einer Parlamentsdebatte nach zwölf Jahren gescheiterter UN-Kontrolle im Irak nach einer UN-Lösung ruft, dann geht es offensichtlich nicht um den Irak, sondern um die Befürchtung, die USA könnten Hussein ein Ende bereiten. Jetzt favorisieren die Europäer "verstärkten diplomatischen Druck" auf den Irak, nachdem sie jahrelang das Embargo kritisiert und, wo möglich, unterlaufen haben. In einer aktuellen Stunde über den Irak debattierte das Parlament, ob Deutschland nun "Verbündeter" oder doch nur "Satellit" der USA sei; nicht eine Forderung nach effektivem Schutz der irakischen Bevölkerung vor dem Regime wurde laut. Es muß stutzig machen, wenn die Taten eines Diktators, der eigentlich das ideale Objekt deutsch-europäischen Menschenrechtsimperialismus sein müsste, gänzlich ignoriert werden: Hussein lässt öffentlich Frauen enthaupten, zerstört im Süden des Landes systematisch die Marschen, wirft Giftgas auf die eigene Bevölkerung und lässt "ethnisch säubern". Noam Chomsky, Gegner der US-Irakpolitik bezeichnet ihn deshalb als "Monster". Der Zusatz, er sei eines "mit unserer Unterstützung", sagt über Deutschland mehr aus, als über die USA, die er meinte.

Als gern gesehener Kronzeuge gegen die USA spricht Chomsky aus, was in Deutschland inkriminiert würde: Die Verantwortung an der Aufrüstung und Beteiligung an Husseins Regime. 1979 kam Hussein an die Macht, Ende 1980 setzte der Irak erstmals Giftgas gegen den Iran ein. Im Mai 1982 bereits gab ein Mitarbeiter von Preussag der deutsche Botschaft in Bagdad einen ersten Hinweis, daß deutsche Firmen das irakische Giftgasprogramm unterstützen – nicht geschah, außer, daß der Mann entlassen wurde. 1988 berichtete passenderweise in Berlin der damalige irakische Außenminister Tariq Aziz über den Einsatz chemischer Waffen – und erhielt als Dank eine Hermes-Bürgschaft in Höhe von 300 Mio. DM. Unter Federführung des damaligen Staatsministers im Auswärtigen Amt, Jürgen Möllemann, wurde der Technologie-Transfer in den Irak weiter erleichtert. Entsprechend ermutigt setzte das Regime sein deutsches Giftgas weiter ein – diesmal gegen die eigene Bevölkerung. Bereits im April 1987 hatten sich Giftgasangriffe gegen 50 kurdische Dörfer ereignet, im März 1988 schließlich wurde die kurdische Stadt Halabja Opfer des bis dahin größten Giftgasangriffs seit dem Ersten Weltkrieg. Zuvor hatten Klaus Kinkel und der irakische Innenminister auf anderer Ebene die deutsch-irakische Zusammenarbeit intensiviert: Ein Ausbildungsprogramm für irakische Spezialeinheiten, durchgeführt von einem Ex-GSG-9 Mann, mit dem Ziel "allen terroristischen Aktivitäten im Landesinneren (des Irak) entgegenzutreten", wurde initiiert.

Von Iran, Israel und den USA unter Druck gesetzt, begannen halbherzige Ermittlungen erst lange nachdem die Bilder von Halabja um die Welt gegangen waren. Wie tief das deutsche Establishment in die Aufrüstung des Irak verstrickt war, läßt sich bis heute nur erahnen: Im Vorstand der einzigen Verurteilten Firma Water Engeneering Trading (W.E.T.), führte ein Mitarbeiter des BND gemeinsam mit einem irakischen Verbindungsmann die Geschäfte. Als 1989 eine Gruppe irakischer Kurden in München ein Plakat druckte mit den Namen deutscher Firmen, die an der Produktion jenes Giftgases beteiligt waren, wurde das Material sofort beschlagnahmt.

Die Bedingungen, die damals das Irakgeschäft ermöglichten, unterschieden sich insofern von den heutigen, als die deutsche Industrie im Windschatten einer Außenpolitik agierte, die den Irak aus strategischen Interessen als Verbündeten des Westens sah. Das Hussein-Regime wurde aus dem Pentagon mit Satelliten-Aufklärung über iranische Stellungen im ersten Golfkrieg und mit Informationen über vermeintliche und echte Kommunisten beliefert, die zu Zehntausenden ermordet wurden. Deutsche Behörden machten im Rahmen ihrer Möglichkeiten dasselbe, indem sie der Regierung in Bagdad ihre Erkenntnisse über irakische Asylsuchende mitteilten.

Anders als die USA aber blieb Deutschland auch nach Beendigung des Blockkonfliktes dem Irak verbunden. Die Vorgehensweise ist dabei dieselbe geblieben: Während die Regierung sich gegenüber dem Paria Irak offiziell zurückhält und mehr unlustig als begeistert ABC-Spürpanzer nach Kuwait verlegt, übernimmt die Industrie die eigentliche Politik. Ende 1999 forderte der Chef des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Henkel, im Namen der "leidenden irakischen Bevölkerung" Wiederherstellung von "Normalität". Und alle folgten: Karl Lamers hält die Restriktionen gegen den Irak für "ethisch" nicht vertretbar, SPD-Fraktion-Vize Gernot Erler mag die "bisherige Entwicklung nicht mehr hinnehmen" und Helmut Lippelt von den Grünen fordert die "dringende Überprüfung der bisherigen Irak Politik". Eine Initiative, getragen von Friedensgruppen, Antiimperialisten, Faschisten aus dem Dunstkreis Alfred Mechtersheimers und Ex-Realsozialisten, forderten im Namen der Embargoopfer, "sich dafür einsetzen, dem Irak uneingeschränkte Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu ermöglichen". Der so anstelle seiner Opfer rehabilitierte Saddam Hussein realisierte den moralischen Zuspruch auf seine Weise: Die Staatsanwaltschaft Mannheim muß zusammen mit dem Kölner Zollkriminalamt seit neuestem gegen sechs Beschuldigte ermitteln, denen die Lieferung von illegaler Waffen-Technologie an den Irak vorgeworfen wird.

Nun wird hierzulande den Opfern des Hussein Regimes besonders verübelt, nicht in Deutschland, sondern den USA einen "interessierten Dritten" (Ralf Schroers) zu sehen. Ein Sturz Husseins, seit zwanzig Jahren auf der Agenda der Opposition, scheint erstmals wieder möglich seit die USA ihren Druck auf den Irak erhöht haben. Daß ein Krieg nicht für die Befreiung der Iraker geführt würde, Saddam Hussein aber auch nicht durch gutes Zureden zum Rücktritt zu bewegen ist, weiß die Opposition so gut wie die US-Regierung.

Ein solidarischer Blick auf die irakische Opposition müßte erkennen, daß sich als "interessierter Dritter" gegen Saddam einzig jene Großmacht USA anbietet, mit der ein Bündnis im Sinne der Opposition zugleich nicht zu machen ist. Prototypisch für das statt dessen vorherrschende Missverständnis, daß der Wunsch nach einem Sturz des Regimes mit der us-amerikanischen Irakpolitik gleichzusetzen sei, war die Haltung jener Deutschen, die ungerührt zusahen, wie Saddam 1991 den Aufstand der Schiiten und Kurden niederwalzte, während kurz zuvor noch Hundertausende gegen den Krieg "für Öl" demonstriert hatten. Anders als den Schiiten halfen, wenn auch zu spät, die USA damals den Kurden - nicht aus Solidarität, sondern aus Angst vor einer Destabilisierung der Türkei. Selbst eingedenk der Tatsache, daß "Schutz durch imperialistische Interessen für ein Volk eine genau so sichere Stütze ist wie das Seil für den Gehenkten" (Hannah Arendt), nahmen sie die halbherzige Hilfe der USA entgegen. Einen Dritten, der anders als die USA, ihnen bei einer Befreiung von der Diktatur geholfen hätte, haben sie auch in den vergangenen Jahren nicht gefunden. So sind die USA seit Jahren Garant des Fortbestands des de facto autonomen kurdischen Nordiraks und halfen zugleich verhindern, daß 1991 das Hussein-Regime gestürzt und der Befreiung der Region Dauerhaftigkeit beschieden wurde.

Wer die Geschichte einer Opposition außer acht läßt, die in den vergangenen 30 Jahren einen immensen Blutzoll entrichtet hat in einem Kampf, der niemals mit der ihr, sondern gegen das Regime unterstützt wurde, nimmt jenen Blick ein, mit dem einst Kalte Krieger in Washington oder Bonn Befreiungsbewegungen der Dritten Welt bedachten. Nicht die Anliegen dieser Bewegungen, sondern einzig, ob sie real oder möglicherweise im Bündnis mit Moskau standen, war damals von Bedeutung. Mit der gleichen, nur spiegelverkehrten, Logik wird die irakische Opposition heute als "Agent der USA" abgetan, weil einzig diese ihr Interesse an einem Sturz Saddams zu teilen scheinen.

Es bedarf keiner ausgefeilten Begründung, das irakische Regime zu stürzen, sondern vielmehr des "interessierten Dritten", der willens und in der Lage ist, dies auch zu tun. Daß als Alternative zum falschen Dritten USA nur die falschen anderen Deutschland und Europa anstehen, ist im Nahen Osten die bittere Realität der irakischen Opposition, die aus eigener Kraft das strukturell unreformierbare Regime nicht zu stürzen vermag. Weil mit der Sowjetunion auch die Chance verschwunden ist, zumindest nominal die richtige Seite zu wählen, geht der Vorwurf, durch eine Allianz mit den USA auf der falschen Seite zu stehen, ins Leere. Aus der Erkenntnis, daß kapitalistische Außenpolitik der Wahrung von Interessen dient und nicht der Befreiung von einer Welt, in der der Mensch des Menschen Knecht ist, entspringt daher längst keine Handlungsperspektive mehr für eine Opposition, die versucht, gleichermaßen die USA und Saddam zu bekämpfen. Ihr historisch determiniertes Scheitern wird markiert durch die Alternative zur USA: Ohne die ökonomische, militärische und ideelle Unterstützung aus Russland und Europa hätte Hussein die letzten Jahre nicht überstanden. Von der schleichenden Rehabilitierung des Regimes mit der Möglichkeit konfrontiert, daß die Baath-Diktatur mitsamt ihres Gewaltpotentials wieder gänzlich in den imperialistischen Kreislauf eingegliedert wird, scheint zweitrangig, welche subjektiv emanzipatorischen Entwürfe die irakische Opposition zu bieten hat, hinter die man sich stellen könnte. Vor dieser Möglichkeit steht eine Opposition, die die USA nicht um einen Krieg gegen den Irak gebeten hat. Denn sie weiß selbst gut genug, das dies das denkbar schlechteste Mittel wäre, dem baathistischen Terror ein Ende zu bereiten. Die falsche Begründung für die richtige Ablehnung des Krieges, die Herrschaft Saddam Husseins nämlich als diskutable Alternative zu verteidigen, sollte denjenigen überlassen werden, die im immer schon ökonomisch verbunden oder ideologisch nahe waren.

Thomas Uwer, Hans Branscheidt, Thomas v. der Osten-Sacken


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