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Jihad und Friendly Fire

Die alltägliche Gewalt im Irak scheint abzunehmen, doch islamistische Terrorgruppen und einige Nachbarstaaten destabilisieren das Land.

von Thomas Schmidinger

Die Nerven liegen blank. Acht irakische Polizisten und der jordanische Wachmann eines Krankenhauses wurden am vergangenen Freitag in Faluja von US-Soldaten erschossen. Die Soldaten hatten einen terroristischen Angriff befürchtet, als die Polizisten sich nach einer erfolglosen Verfolgungjagd ihrem Posten näherten. Die Beerdigung der Polizisten am folgenden Tag wurde zu einer bewaffneten Demonstration gegen die US-Truppen, bei einem Bombenanschlag starb ein amerikanischer Soldat.

Doch während in deutschsprachigen Medien solche Vorfälle und das Werben der US-Regierung um eine neue UN-Resolution und internationale Truppen gerne als Beweis für die Unfähigkeit der Besatzungstruppen gewertet werden, die Sicherheitslage zu stabilisieren, sehen viele Irakis die Situation optimistischer. Selbst Dhia al-Dabass, ein Sprecher des Hohen Rats der Islamischen Revolution (Sciri), dessen Oberhaupt Ayatollah Muhammed Baqir al-Hakim am 5. September bei einem Anschlag getötet wurde, erklärte nach seiner Rückkehr aus Bagdad der Jungle World, dass die Situation in der irakischen Hauptstadt heute besser sei als noch vor einigen Monaten.

Die Zahl der alltäglichen kriminellen Gewalttaten scheint abzunehmen, doch der Irak ist in den letzten Monaten zum Zentrum der Aktivitäten islamistischer Terrorgruppen geworden. In einer Mitte der vergangenen Woche veröffentlichten Erklärung der al-Qaida-Führung fordert Ayman al-Zawahiri nicht nur die Iraker auf: »Verschlingt die Amerikaner, wie Löwen ihre Beute verschlingen.« Auch an die Muslime der Nachbarstaaten ergeht die Anweisung, den Amerikanern im Irak »eine Lektion zu erteilen«. Islamistische Terroristen aus Saudi-Arabien, Ägypten und anderen arabischen Staaten sickern in den Irak ein, um gemeinsam mit den Resten der Ba?ath-Partei die Normalisierung zu sabotieren.

Anhänger der Ansar al-Islam, jener islamistischen Gruppe, deren Stellungen bei Halabja im Nordirak während des Irakkrieges von Einheiten der Patriotischen Union Kurdistans (Puk) eingenommen wurden, versuchen mittlerweile, den Terror auch in die bisher sicheren kurdischen Gebiete des Nordirak zu tragen. In Arbil wurden Anfang vergangener Woche drei Menschen bei einem Anschlag getötet. Am 11. September wurde die Puk-Hochburg Suleymania während eines Besuchs des US-Verwalters Paul Bremer von kurdischen Sicherheitskräften abgeriegelt, nachdem der kurdische Geheimdienst Informationen über geplante Anschläge erhalten hatte. Zwei Verdächtige wurden bei den folgenden Durchsuchungen festgenommen und zwei Mal 25 Kilogramm Sprengstoff beschlagnahmt.

Auch einige Nachbarstaaten versuchen, das Land zu destabilisieren. Schließlich würde die erfolgreiche Etablierung eines demokratischen Systems im Irak die autoritären Regime in der gesamten Region mittelfristig in Frage stellen. Nicht nur der Iran, Saudi-Arabien und Syrien, sondern auch die Türkei hat als Verbündeter der USA kein Interesse an einem demokratischen und föderalen irakischen Nachbarn. Aus Sicht der türkischen Regierung würde sowohl ein unabhängiger kurdischer Staat als auch ein Irak, in dem die kurdische Minderheit ihre vollen politischen und kulturellen Rechte genießt, die Politik gegenüber den Kurden im eigenen Land in Frage stellen.

Schon kurz nach dem Krieg wurden türkische Agenten im Nordirak aktiv, und die türkische Regierung versuchte, über die Turkmenische Volksfront, eine nationalistische Partei der turkmenischen Minderheit, Einfluss auf den Irak zu nehmen.

Die Regierung der USA gestattet aber auch dem Nato-Staat Türkei keine Unterminierung ihrer Irakpolitik. Bereits Anfang Juli nahmen die US-Truppen in Suleymania elf türkische Militärs fest, die einen Anschlag auf den kurdischen Bürgermeister von Kirkuk geplant haben sollen, und verwiesen sie des Landes.

Hartnäckige Gerüchte halten sich auch über die Involvierung des türkischen Geheimdienstes in die Unruhen Ende August in der nordirakischen Stadt Kirkuk. Nachdem ein Heiligtum schiitischer Turkmenen, das Grabmal Imam Musa Alis bei Kirkuk, von Unbekannten mit einer Panzerfaust beschädigt wurde, kam es in Kirkuk zu Demonstrationen und gewalttätigen Ausschreitungen von AnhängerInnen der Turkmenischen Volksfront. Die Situation eskalierte, nachdem die Turkmenische Volksfront der Puk ein Ultimatum stellte, die Stadt zu verlassen, und die lokalen Sicherheitskräfte die Ausschreitungen der bewaffneten DemonstrantInnen mit Gewalt unterbanden, wobei drei Menschen starben.

Mittlerweile konnte die Situation in Kirkuk wieder beruhigt werden. Die Turkmenische Volksfront und die Puk kamen überein, dass die Verantwortlichen für die Zerstörungen am Heiligtum gesucht und bestraft werden sollten. Außerdem erklärte sich die Puk bereit, die Wiederherstellung des Grabmals auf ihre Kosten zu veranlassen.

Die Situation in und um Kirkuk bleibt jedoch weiter gespannt. Die ölreiche Region, die bis zum April unter Kontrolle des Regimes in Bagdad stand, stellte in den neunziger Jahren den Schwerpunkt der Arabisierungsbestrebungen dar. Tausende KurdInnen wurden vertrieben, in ihren Häusern wurden arabische IrakerInnen und PalästinenserInnen angesiedelt. In der Region änderte sich die Zusammensetzung der Bevölkerung, die arabische und die turkmenische Minderheit wuchsen.

Jene Flüchtlinge, die nach der Befreiung der Stadt zurückkehrten, leben immer noch in provisorischen Unterkünften. Die Puk, die in der Stadt über die meisten AnhängerInnen unter der kurdischen Bevölkerung verfügt, bemüht sich, die Leute von spontanen Rückenteignungen ihrer alten Häuser abzuhalten. Für Menschen, die oft jahrelang in Zelten und Notunterkünften leben mussten, ist das schwer einzusehen.

Viele KurdInnen sind zudem weiterhin skeptisch, was die zukünftige Autonomie des Nordirak betrifft. Der Puk nahe stehende Intellektuelle bemühen sich seit einigen Tagen um ein Referendum über die Unabhängigkeit oder eine umfassende politische Autonomie des Nordirak. Die InitiatorInnen des Referendums wollen noch vor der Verabschiedung einer neuen irakischen Verfassung die Grenzen und Kompetenzen der Autonomieregion festgelegt wissen.

Über solche Konflikte, die zu einem großen Teil ein Erbe der Diktatur Saddam Husseins sind, muss nun in den politischen Gremien verhandelt werden. In dem von den USA ernannten provisorischen Regierungsrat, aus dem Anfang September eine Übergangsregierung hervorgegangen ist, sind RepräsentantInnen aller Bevölkerungsgruppen und fast aller politischen Strömungen vertreten, sunnitische und schiitische Islamisten ebenso wie die Kommunistische Partei und sogar ehemalige ParteigängerInnen der Ba?ath-Partei. Bis 2004 soll dieses Gremium eine neue Verfassung ausarbeiten und demokratische Wahlen vorbereiten.

Die Arabische Liga hat nach anfänglicher Ablehnung in der vergangenen Woche die irakische Übergangsregierung anerkannt und erstmals auch die Menschenrechtsverletzungen des Regimes Saddam Husseins verurteilt. In der arabischen Debatte haben sich vermehrt Stimmen zu Wort gemeldet, die wie Makram Mohamed Ahmed von der ägyptischen Wochenzeitung al-Mussawar die Ablehnung der Übergangsregierung als »paranoid« und als »beleidigend« für die Irakis kritisieren und wie Salah Hemeid in al-Ahram Weekly fordern, dass »die Wünsche der Irakis selbst und das allgemeine arabische Interesse berücksichtigt« werden. Sollte es in den nächsten Monaten gelingen, den Einfluss der Regierungen, deren Interesse die Destabilisierung des Irak ist, zu beschränken und die Anschläge zu unterbinden, bestehen gute Chancen, die bestehenden Konflikte in der anbrechenden Demokratie im Irak zu lösen.


erschienen in jungle world Nr. 39 v. 17. 9. 2003


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