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"Wo im Irak bislang gewählt wurde, haben regelmäßig säkulare oder moderate Kräfte haushoch gewonnen."

Interview mit Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer von WADI e.V. - Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit

geführt von Mark Liber, freier Journalist


M.L.: Sie waren die letzten 3 Monate hauptsächlich im Norden des Irak für die Hilfsorganisation WADI e.V. unterwegs. Seit über 12 Jahren unterstützt ihre Organisation unterschiedlichste entwicklungspolitische Hilfsprojekte besonders im Norden des Irak. Wie war ihr Eindruck von der derzeitigen Lage im Irak? Ist es, wie häufig in den deutschen Medien berichtet, Realität, dass sich große Teile der irakische Bevölkerung im Aufstand gegen die "Besatzer" und ihre Unterstützer befindet?

TvdO: Wir unterstützen seit 1993 verschiedene Projekte im kurdischen Nordirak, wo die Menschen sich nach dem 2. Golfkrieg von der Diktatur Saddam Husseins befreien konnten. Insofern wissen wir recht gut, was die Iraker über Saddam Hussein und den Krieg gedacht haben. Ich selbst habe mich sieben Monate lang nach dem Sturz Saddams im Irak aufgehalten und kann Ihnen sagen, dass das Bild, dass hiesige Medien von der Lage im Irak zeichnen keineswegs der Realität vor Ort entspricht. Nehmen wir den kurdischen Nordirak: auch nach langer Suche hätten sie Schwierigkeiten jemanden zu finden, der gegen diesen Krieg gewesen wäre. Der Sturz Saddams ist hier mit einem unglaublichen Jubel begrüßt worden. Auch in anderen Teilen des Irak war mein Eindruck, dass vor allem Erleichterung und Freude über das Ende der Diktatur herrschte. Aber natürlich gibt es einerseits all diejenigen, die etwas verloren haben aus Armee, Baathpartei und Staatsbürokratie, die sich reorganisiert haben und nun gemeinsam den Kern des sogenannten "Widerstandes" bilden. 30 Jahre Propaganda und Indoktrination in Schulen und Medien haben selbstredend auch ihre Spuren hinterlassen; es ist auch in vielen Teilen des Irak leider Usus, alles und jedes mit Verschwörungstheorien zu erklären. Dazu kommt eine Kultur der Gewalt, zwei Kriege und Hunderdtausende toter Zivilisten haben nicht gerade dazu geführt, dass ein Menschenleben im Irak besonders viel wert ist. Aber man muss auch innerhalb des sogenanten Widerstandes zwischen zwei Gruppen unterscheiden: viele gerade ehemalige Baathisten, aber auch einige islamistische Gruppierungen üben Gewalt aus, um politische Ziele innerhalb des neuen Irak zu erreichen. Sie wollen an der Macht partizipieren, die internationalen Djihadisten wollen dagegen den Irak ins Chaos stürzen und zu einem Hauptkampffeld gegen "Juden und Kreuzfahrer" machen. Über kurz oder lang wird es zu Interessenskonflikten zwischen diesen beiden Gruppen kommen.

Aber zurück zu ihrer Frage: die große Mehrheit der Iraker befindet sich natürlich keineswegs im "Aufstand gegen die Besatzer". Die USA haben 135 000 Soldaten in einem Land, das so groß wie Frankreich ist; würde nur eine größere Stadt einen Aufstand machen, die USA müssten abziehen oder zu äußerst brachialen militärischen Mitteln greifen. Die überwältigende Mehrheit der Iraker wünscht sich Sicherheit und einen Neuanfang.

M.L.: Wie bewerten sie die derzeit häufiger werdenden Entführungen von Ausländern durch islamistische Terroristen im Irak? Aktionen solcher Art zielen in erster Linie auf die Länder die der Koalition der Willigen angehören, doch bisher ließen sich diese, mit Ausnahme der Spanier, nicht erpressen. Haben die islamistischen Terroristen breiten Rückhalt in der irakischen Bevölkerung?

TvdO: Nein. Diese Terroristen sind außer in einigen Gebieten, etwa in Falluja, verhasst. Ihre Aktionen richten sich ja zuallererst gegen Irakis selbst. Anschläge gegen Schulen, Polizeistationen und Pipelines destabilisieren das Land. In vielen Städten herrscht Angst, hunderte von Liberalen oder Irakis, die mit der Koalition zusammenarbeiten, sind in den letzten Monaten entführt oder getötet worden. In Kurdistan werden fast täglich von Sicherheitsdiensten Suicide Bombings verhindert. Sicherheit stellt eines der größten Probleme für die Menschen im Irak dar und es sind neben kriminellen Banden vor allem die sogenannten Widerstandsleute, die für Unsicherheit sorgen, da sie wissen, dass sie verlieren, sobald sich die Lage stabilisiert. Es werden alle Ausländer, deren man habhaft werden kann entführt. Al Qaida weiss, dass dies ein sehr medienweirksames Mittel ist. Und man verbreitet unter Hilfsorganisationen und Firmen, die am Wiederaufbau beteiligt sind, Angst. Fast alle ausländischen Zivilisten haben den Irak verlassen. Das wiederum führt zu Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung, grundlegenden Infrastrukturmaßnahmen und hemmt den Wiederaufbau. Und genau das wollen die Terroristen erreichen: das Land ins Chaos stürzen. Nur wo Chaos, Angst, Hunger und Perspektivlosigkeit herrscht können sich auf Dauer Organisationen wie Al Qaida festsetzen. Und sie müssen alles unternehmen, damit etwa keine Wahlen stattfinden, ob in Afghanistan oder dem Irak, denn Wahlen würden, davon kann man ausgehen, die Islamisten haushoch verlieren. Wo im Irak bislang gewählt wurde, ob auf kommunaler Ebene oder in Körperschaften, haben regelmäßig säkulare oder moderate Kräfte haushoch gewonnen.

M.L.: Nun wurde Ende Juni die Kontrolle des Landes offiziell an die irakische Interimsregierung übergeben. Ist dies das richtige Signal zu diesem Zeitpunkt? Oder bedeutet nicht bald die errungene Souveränität gleichzeitig auch Unfreiheit für den Einzelnen? Und kommt nicht bald, durch die Wahlen, die ehemalige staatsbürokratische Elite Saddams oder der schiitische Klerus an die Macht?

TvdO: Das ist eine schwierige Frage. Die USA verfolgten, was ihr zum Vorwurf gemacht werden muss, zur gleichen Zeit zwei sich widersprechende Nachkriegskonzepte. Die NeoCons etwa strebten eine radikale Demokratisierung des Irak, eine gründliche Debaathisierung an und hofften so in kürzester Zeit die Verhältnisse im ganzen Nahen Osten zum Tanzen zu bringen. Im State Department plante man eher große Teile der baathistischen Eliten einzubinden und einen langsamen Wandel anzustreben, etwa nach dem Vorbild von Deutschland und Japan nach dem 2. Weltkrieg. In der neuen Regierung sind die Demokraten in der Minderheit, die Funktionäre in der Mehrheit. Das ist schade, könnte aber eben durchaus langsfristig auch positive Resultate zeitigen. Souveränität ist so ein Wort aus der Mottenkiste des Völkerrechts, denn wann waren die Iraker denn je souverän? Unter Saddam Hussein? Ist man souverän, wenn man in der UN-Vollversammlung sitzt. Wichtig im Irak ist eine grundlegende Demokratisierung und die muss auf kommunaler Ebene beginnen. Die Menschen im Irak misstrauen allen Parteien, sie misstrauen dem Staat, dem Militär, der Justiz. Sie wissen nicht, was Demokratie bedeutet, auch wenn sie mehrheitlich in einer Demokratie leben wollen. Es wird Jahre dauern, wir konnten das in Kurdistan beobachten, bis sich die alten Strukturen ändern. Aber die Amerikaner, und das darf man nicht vergessen, haben im vergangenen Jahr im Irak nach dem Zusammenbruch des alten Staates ein Vakuum vorgefunden. Denn im Irak war alles verstaatlicht und dieser Staat war ein marodes, kriminelles und totalitäres Gebilde. Es gibt weder ein unabhängiges starkes Bürgertum, noch eine Arbeiterklasse noch Interessenvertretungen. Die müssen erst geschaffen werden und das dauert nicht nur, sondern wird in harten Kämpfen gegen die alte Staatsbürokratie und den Klerus stattfinden.

M.L.: Die humanitäre Lage ist überall im Irak genauso desolat wie die Verfassung der Zivilgesellschaft. Gerade die entlegenen Regionen sind, was beides betrifft, den Zustand der Gesellschaft wie auch die Versorgung mit dem Notwendigsten zum Leben, am schwersten von den Jahrzehnten der Diktatur betroffen. Wie haben Sie die Situation vor Ort vorgefunden? Gibt es erste Fortschritte seit dem Sturz von Saddam Hussein?

TvdO: Nun die Lage nach dem Sturz Saddams war weit weniger schlimm, als die UN und die Europäer einem weismachen wollten. Im letzten Mai waren ja Hungersnöte und Choleraepidemien angekündigt, die dann alle nicht eintraten. Da wollten die Kriegsgegner das humanitäre Argument gegen die Befreiung des Irak in Anschlag bringen. Aber strukturell ist der Irak vollkommen am Ende, in all den Teilen des Landes, in den die Menschen Saddam Hussein feindlich gegenüberstanden, also vor allem dem Süden und Norden des Landes sieht es katastrophal aus: offene Abwasserkanäle, völlig veraltete Stromversorgung, eine unglaubliche Analphabetenrate vor allem unter Frauen. Kurz es hat keine humanitäre Katastrophe gegeben, aber die allgemeine Lage ist ein Desaster und ein Wiederaufbau des Landes wird Jahrzehnte dauern.

M.L.: Was sind die Schwerpunkte der Arbeit von WADI im Irak? Können Sie auch von Ihrer Arbeit positive Entwicklungen berichten?

TvdO: Wir unterstützen auf unterschiedlichen Ebenen soziale Projekte für Frauen, Gefangene und Flüchtlinge. Im Moment stehen Frauenschutzhäuser und Zentren, in denen Frauen sich weiterbilden, treffen und organisieren können, sowie die mobile soziale Betreuung von abgelegenen Dörfern, im Vordergrund. Dabei fahren Sozialarbeiterinnen und Krankenschwestern von Dorf zu Dorf und bieten Gesundheitsvorsorge und soziale Beratung an. Außerdem arbeiten wir seit vielen Jahren im Bildungssektor, im Bereich Alphabetisierung und unterstützen die Selbstorganisation von Gefangenen, zum Beispiel der Erstellung einer Gefängniszeitung. Mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln bemühen wir uns einen langsamen Wandel in der Gesellschaft zu unterstützen, in dem wir lokale Initiativen unterstützen, die sich um eine Sensibilisierung der Gesellschaft in sozialen Fragen bemühen, wie dem Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, Ehrtötungen, das Umsetzen von Menschen- und insbesondere Frauenrechten. Vergleicht man die öffentliche Diskussion über diese Fragen und die verschiedenen Projekte und deren gesellschaftliche Akzeptanz heute mit der von vor sieben Jahren, lässt sich schon eine positive Entwicklung feststellen, auch wenn die grundlegenden Probleme natürlich nicht gelöst sind. Seit vergangenen Mai haben wir unsere Projekte auch auf Teile des Nordirak ausgedehnt, die bis dahin unter Kontrolle Saddam Husseins standen. So haben wir in Mosul ein Frauenzentrum eröffnet und unterstützen in Kirkuk und Dyala Mobile Teams. Außerdem haben wir jetzt einen Schwerpunkt unserer Arbeit auf die Region um Halabja gelegt, wo der Irak 1988 Giftgas gegen die Kurden eingesetzt hat. Bis vor kurzem wurde diese Region von den radikalislamischen Ansar al-Islam regiert, die dort ein wahres Schreckensregime errichtet hatten.

M.L.: Gerade Ausländern gegenüber herrscht viel Misstrauen im Irak. Häufig wird davon ausgegangen, dass es sich um "Zionisten" oder zumindest "Amerikaner", also Feinde oder die Freunde von Ihnen, handelt. Und Frauenhäuser sind auch vielen derzeit Verantwortlichen im Irak ein Dorn im Auge, egal ob sie nun ehemalige Anhänger des alten Regime oder Freunde der Scharia sind. Waren Sie oder sind die Projekte, die ihre Organisation im Nordirak unterstützt, von dieser Seiten irgendwelchen Angriffen ausgesetzt?

TvdO: Nein. Auch als Ausländer habe ich mich nie wirklich bedroht gefühlt. Früher hatte Saddam hohes Kopfgeld auf Ausländer, die in Kurdistan arbeiten ausgesetzt. Das entsprach einem Zweijahresgehalt. Und wir wussten immer, sollten wir in Kurdistan beschossen werden, dann nicht von "einfachen" Leuten, sondern Agenten Saddams. Im Nordirak herrscht denjenigen Ausländern, die die Kurden oder die irakische Opposition auch in schwierigen Zeiten unterstützt haben große Dankbarkeit. Projekte wie die Eröffnung von Schutzhäusern für gefährdete oder missbrauchte Frauen wurden uns von kurdischer Seite vorgeschlagen. Ohne Die Zusammenarbeit mit verschiedenen lokalen Frauenorganisation hätte wir vor fünf Jahren nie das erste Frauenschutzhaus außerhalb Israels im Nahen Osten eröffnen können. Sicher: Islamisten und Panarbisten hassen Ausländer, sie hassen Demokraten, sie hassen Frauen, die für eine andere Gesellschaft kämpfen und würden alles am liebsten in die Luft sprengen. Aber auf der anderen Seite gibt es ebenso sehr engagierte Kleriker, die keineswegs nur gegen alles Moderne wettern. Der Zusammenschluss der Kleriker in Suleymaniah etwa hat vor vier Jahren eine Fatwa erlassen, die die Klitorisbeschneidung bei Mädchen verbietet. Und das war sehr hilfreich für alle die Organisationen, die gegen diese Beschneidung Kampagnen durchgeführt haben. Unsere Frauenhäuser werden auch von einer islamischen Frauenorganisation unterstützt. Und die Behörden im Irak, auch in den neubefreiten Gebieten, sind eher interessiert solche Projekte zu unterstützen, als sie zu verhindern. Gerade hörte ich, dass selbst in Tikrit, der Geburtsstadt Saddam Husseins, Frauen jetzt die Eröffnung eines Schutzhauses fordern.

M.L.: Sind Sie auf sich allein gestellt oder bekommen Sie Unterstützung von der kurdischen Regionalregierung oder anderen Stellen in der Region?

TvdO: Wir arbeiten sehr eng mit der kurdischen Regionalregierung zusammen und versuchen unsere Projekte weitgehendst mit ihr zu koordinieren. Das gleiche gilt für Behörden etwa in Mosul oder Bagdad. Glauben Sie mir, die Irakis wollen ihre Gesellschaft wirklich verändern und jene die trotz der ständigen Gefahr ermordet zu werden sich für soziale Belange einsetzen, sind in der Regel neuen Ideen und Projekten sehr aufgeschlossen. Wir arbeiten seit Jahren mit Gefangenen, ermöglichen diesen, eine Zeitung herauszugeben und ähnliches. Man sollte nicht unterschätzen, welche gesellschaftlichen Fortschritte es in Irakisch-Kurdistan in den letzten zehn Jahren gegeben hat.

M.L.: Die rot-grüne Bundesregierung hat im vergangenen Frühjahr öffentlich erklärt, dass keine deutsche Hilfsorganisation mehr im Irak aktiv ist, obwohl WADI weiterhin vor Ort engagiert war. Wie erklären Sie sich diese Handlung der Regierung? War dies eine Ente für die Presse?

TvdO: Die Bundsregierung hat vor allem eine schreckliche Angst, dass Deutsche im Irak umkommen könnten oder ihr der Vorwurf gemacht werden könnte, sie arbeite mit den "Besatzern" zusammen. Ich wurde, zwei Tage nachdem diese Erklärung herausgegeben wurde, per email von der Deutschen Botschaft in Bagdad aufgefordert den Irak zu verlassen. Das widersprach sich also deutlich. Und neben WADI sind noch zwei andere deutsche Organisationen seit langem im Nordirak aktiv. Ich glaube, es gibt kein großes Interesse, dass wir da sind. Wir haben die Irakpolitik der Bundesregierung immer ziemlich scharf kritisiert, die irakische Opposition gegen Saddam unterstützt und sind auch sonst keine Freunde deutscher Nahostpolitik. Ich glaube kaum, dass es ein großes Interesse an unserer Anwesenheit im Irak gibt, lieber hat man so Leute, die den Medien ständig erklären, wie schlimm der Krieg war, wie schlecht es den Irakis jetzt geht, wie sehr alle die USA hassen und Deutschland lieben, kurz all den Blödsinn, den man hier so in der Zeitung liest.

M.L.: Nun hat Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Schulterschluß mit US-Präsident George W. Bush und der Koalition der Willigen soweit zugebilligt, dass die finanzielle Hilfe für die Aufbauprogramme im Irak seitens der Bundesregierung bereitgestellt wurden. Wie verhält sich die Bundesregierung zur Zeit Ihnen gegenüber? Arbeitet Sie mit Ihnen Zusammen?

TvdO: Nein. Wir haben seit dem Sturz Saddams keinen Euro von der Regierung erhalten. Wir werden hauptsächlich aus den USA, Spanien, England, Österreich unterstützt und natürlich von Privatspendern und Stiftungen in Deutschland.

M.L.: Sind die Probleme mit der Regierung, ein Problem mit den regierenden Parteien? Könnten sie sich durch einen Wechsel an der Regierung in Luft auflösen?

TvdO: Nein. Vermutlich würde die CDU eine etwas weniger ideologische Politik betreiben. Aber die deutsche Haltung zum Irak wie zum restlichen Nahen Osten auch scheint mir ein weitgehend im Establishment ungeteilt herrschende Meinung zu sein.

M.L.: Vielen Dank für das Interview.


Erschienen in Israel-Nachrichten August 2004


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