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Die Helfer aus Europa kommen!

Über die Gefahr einer Ethnifizierung des Nachkriegsirak

Thomas Uwer/ Thomas von der Osten-Sacken


"In Iraq there is still – and I say this with a heart full of sorrow – no Iraqi people but unimagineable masses of human beings, devoid of any patriotic idea, imbued with religious traditions and absurdities, connected by no common tie, giving ear to evil, prone to anarchy, and perpetually ready to rise against any government whatever."

König Faisal


Die Geschichte des Irak beginnt mit eben diesen Sätzen. Eine schier unvorstellbare Menge an Menschen ohne jede Vorstellung von Patriotismus und verhaftet in ethnisch/konfessionellen Kollektiven, die sich der Zentralgewalt des Staates wo es nur geht durch traditionale und anarchische Widerständigkeit entziehen. Dies ist das Bild, das sich dem ersten Souverän des Irak, König Faisal, bot, dessen Blick gleichsam vom Balkon des Regierungspalastes auf die Straßen Bagdads fiel. Achtzig Jahre später wirft die Berliner tageszeitung einen Blick auf das Land: "Der Irak ist ein multiethnisches Land, hier leben Araber, Kurden, Turkmenen und andere Minderheiten. Hinzu kommen religiöse Spannungen, vor allem zwischen der schiitischen Bevölkerungsmehrheit und den politisch dominanten Sunniten. Die Folge: Es gibt keine allgemein akzeptierte Integrationsfigur, die Saddam Hussein ablösen könnte...".

In dieser Betrachtungsweise wird getan als habe sich nichts geändert, als hätten ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Modernisierung zwar die Flinte durch Giftgas ersetzt und die Bazarstraßen mit Automobilen gefüllt, die Gesellschaft im Kern jedoch unberührt gelassen. Über 70 Jahre nach der Erlangung nationaler Souveränität sieht man den Irak verharren in einem vornationalen Zustand und einzig dank der "Integrationsfigur" Saddam Hussein scheint die Rivalität zwischen Stämmen und Clans, Ethnien und Religionsgemeinschaften noch nicht in gegenseitiges Morden umgeschlagen zu sein.

Das zugrundeliegende Wahrnehmungsmuster ist nur allzu vertraut, das weder die Bevölkerung des Landes im republikanischen Sinne als Souverän des Nationalstaates wahr-, noch ihr Recht auf Freiheit gegenüber der Diktatur ernstzunehmen erlaubt, wo dieses nicht als Selbstbestimmungsrecht einer Volksgruppe daherkommt. Ethnische Kollektive, nationale Minderheiten und Volkstumsrechte waren erfolgreiche Waffen im Kampf gegen die Nationalstaaten und Staatsbürgernationen des ehemaligen Ostblocks und in Deutschland stets noch ein bißchen mehr als nur Mittel zum Zweck. Die Übersetzung von Menschen- in Kollektivrechte, die mit der Erfindung serbischer KZ einherging, stellte immer auch eine Umkehrung der Verbrechen der Völkischen in die Unterdrückung von Völkern dar. Foreign Policy wäre ins Deutsche am sinnfälligsten nicht mit Außenpolitik, sondern mit Volkskunde zu übersetzen. Dies vermag das Festhalten der Bundesregierung und ihrer Presse an Saddam Hussein alleine nicht zu erklären, wohl aber die in Deutschland weitverbreitete Weigerung, sich einen Irak ohne ihn anders vorzustellen als Kampf aller gegen alle.

Dieses Verständnis von foreign policy findet im Falle des Irak unter umgekehrten Vorzeichen seine Fortsetzung, indem selbst eine Organisation wie Medico International, die jahrelang in Irakisch Kurdistan tätig war und es besser wissen müsste, nunmehr den antizipierten Krieg der Minderheiten und nicht den mit Massenvernichtungswaffen hochgerüsteten Diktator als abzuwendende Gefahr kennzeichnet. Thomas Gebauer, Geschäftsführer des entwicklungspolitischen Vereins, erklärt die ablehnende Haltung seiner Organisation gegenüber jedem militärischen Eingriff damit, daß "der Irak ein Land mit großen sozialen Gegensätzen (ist). Wer unter solchen Umständen zum Instrument des Kriegs greift, verkennt auf fatale Weise die fragile politische und soziale Struktur des Landes. Eine militärische Intervention wird die Gegensätze zwischen den Kurden, Turkmenen, Assyrern und den ihrerseits in Schiiten und Sunniten gespaltenen Arabern nicht mildern, sondern eher noch verschärfen." Im Kern ist darin die Erkenntnis noch enthalten, daß wo immer im vergangenen Jahrzehnt im Namen der Völker auf Seite der Ethnien eingegriffen wurde, diesen mit Gewalt erst dazu verholfen wurde, als geschichtsmächtige Kollektive einen exklusiven Anspruch gegenüber dem staatlichen Gemeinwesen zu erheben, der auf dessen Auflösung herausläuft. Die Dynamik dieser Politik richtet sich gegen das Bestehende, ohne Neues errichten zu können. Zehn Jahre nach dem Beginn der Zerlegung Jugoslawiens in ethnisch homogene Teile stehen sich die Volksgruppen in unversöhnlicher Feindseligkeit gegenüber.

Daß Gebauer nun im Umkehrschluß den irakischen Ba’th-Staat in eine "fragile politische und soziale Struktur" umbenennt, an dessen "soziale Widersprüche" man besser nicht rührt, zeigt, wie weitgehend die Prämisse einer Welt als in Ethnien und Völker geteilte die Wahrnehmung präformiert. Die Möglichkeit, daß es den Menschen des Irak in erster Linie darum gehen könnte, nicht als Mitglieder von Völkern oder Ethnien, sondern als Individuen, die der Gewalt eines sich arabisch definierenden Staates unabhängig von Herkunft und Glaubensbekenntnis gleichermaßen ausgesetzt sind, sich von einem diktatorischen Herrschaftssystem zu befreien, ist ihm derart fremd, daß er sie gar nicht in Erwägung zieht. Unter dieser Prämisse wird das Verrückte zur Normalität, gilt als selbstverständlich, daß Menschen sich unentwegt gegen ihre individuellen Eigeninteressen handelnd Kollektiven aufopfern.

Bislang jedoch versteht sich der organisierte irakische Widerstand als nationale Opposition und ist daher suspekt. Weder haben die Parteien und Gruppen angekündigt, den irakischen Staat in ethnisch homogene Teile zerlegen zu wollen, noch verläuft die Konfliktlinie zwischen Kurden und Arabern, Turkmenen und Assyrern oder Schiiten und Sunniten. Der zukünftige irakische Staat, sollte er denn so gestaltet sein, wie es sich die vergangenes Jahr in London zusammengekommene Opposition vorstellt, soll ein föderaler Nationalstaat sein, Recht soll jedem Staatsbürger unabhängig von Geschlecht, Religion oder ethnischer Zuschreibung zukommen, übergangsweise übernimmt eine qua Bevölkerungs-Proporz gebildete Regierung aus den verschiedenen Oppositionsgruppen die Gewalt, bis diese durch freie Wahlen abgesetzt wird. Auf Unterstützung aus Europa für dies Vorhaben hofft das Oppositionsbündnis jedoch vergeblich. Die jüngst von der Bundesregierung vorgelegten Vorschläge UN-Blauhelme in den Irak zu entsenden, verdeutlichten vielmehr die Kontinuität deutscher Außenpolitik. So wie die UN im Balkan zum Hilfsmittel wurde, um unliebsame Staaten zu zerlegen – die FAZ nannte Jugoslawien ein "Völkergefängnis" - , soll die UN nun den irakischen Staat, in hiesiger Lesart also Saddam Husseins Regierung, vor dem halluzinierten Zerfall des Landes schützen. Nichts anderes auch meint Außenminister Josef Fischer, wenn er monoton vor einem drohenden "Flächenbrand" im Nahen Osten warnt, der ausbräche, sollte das irakische Regime gestürzt werden.

Während die Bundesregierung sich auch konsequenterweise weigert, mit dem in London gewählten Übergangskomitee überhaupt ins Gespräch zu kommen, hintertreibt die französische Regierung bereits die Einigungsbestrebungen der Iraker. So wurden im November ausschließlich die Vertreter der kurdischen Parteien nach Paris geladen, um separate Gespräche über die Zukunft des Irak zu führen. Hinter den Kulissen wurde auch schon der berüchtigte Bernhard Kouchner als Koordinator für den Wiederaufbau des Irak vorgeschlagen, dessen Engagement im Kosovo ihn als gesamtideelen Vertreter einer ethnisierenden Hilfspolitik hinlänglich qualifiziert hat. Einsprüche seitens der irakischen Opposition und aus den USA konnten dieses Vorhaben bislang stoppen. Die Haltung Deutschlands und Frankreichs werfen ein denkbar schlechtes Licht auch auf die Überlebenschancen einer künftigen irakischen Regierung, die auf europäische Unterstützung beim Wiederaufbau des Landes angewiesen sein wird.

Denn so willkürlich die Aufteilung von Ländern in Volksgruppen derzeit auch erscheinen mag, so wirkungsmächtig wird sie immer dort, wo ethnische Klientelstrukturen über den Zugang zu materiellen Mitteln verfügen, die ein reales Partikularinteresse gegenüber anderen erst erzeugen. Mehr als militärische Interventionen ist die humanitäre Hilfe dazu geeignet, Staaten zu zerlegen und Gemeinwesen in lokale Verteilungszirkel zu verwandeln. Wie dies funktioniert, haben deutsche und europäische Hilfsorganisationen im kurdischen Nordirak bewiesen, lange bevor sie an der Seite der UCK im Kosovo einrückten und die Region unter den Milizen aufteilten. 1991 lief im Nordirak eine großangelegte Hilfsaktion an, die den politischen Unwillen, die befreite Region anzuerkennen, durch humanitäre Maßnahmen kompensieren sollte. So notwendig die Versorgung der Bevölkerung in der weitgehend zerstörten Region objektiv war, so verheerend wirkte sich die Umsetzung der Programme auf die Entwicklung des kurdischen Nordirak aus. Während Hilfsorganisationen praktisch für alle relevanten Bereiche, von der Bereitstellung von Unterkünften und sauberem Trinkwasser, über die Verteilung von Nahrungsmitteln und die Gesundheitsversorgung, bis zum Wiederaufbau zerstörter Dörfer verantwortlich waren, sollte die 1992 gewählte kurdische Regionalregierung sich darauf beschränken, den ungehinderten Fluß der Hilfsgüter zu garantieren. "Lokale NGO wurden schnell zu mächtigen Instrumenten einer neuen Ökonomie", beschreibt Michiel Leezenberg, der die Wirtschaft des Irakisch-Kurdistans erforscht hat, die Entwicklung. "Sie arbeiteten üblicherweise für ihren eigenen Profit und wurden zu einer Art lokaler Vertragsnehmer, finanziert mit ausländischem Kapital, die die Verwaltungsstrukturen der Regierung zunehmend aushöhlten."

Die internationalen Organisationen setzten dabei auf eine Hilfsökonomie, die in erster Linie auf den Aufbau effektiver Verteilungszirkel zielte. Bedient wurden bestehende lokale und von Partei- und Milizverbänden geprägte Strukturen, die durch die Kontrolle der Hilfsgüterverteilung künstlich aufgewertet wurden. Weil der Zugang zu Mitteln der humanitären Hilfe die einzige Einkommensquelle darstellte, war die absolute Loyalität zu lokalen Eliten die beste Garantie zu überleben. Die Kontrolle der Hilfsprogramme wurde so zum zentralen Gegenstand eines Verteilungskampfs, der zunehmend ausgetragen wurde in den Kategorien von regionaler Zugehörigkeit und der Gewährung bzw. Verweigerung der damit verknüpften Rechte, an Hilfsprogrammen zu partizipieren. Selbst wenn lokale NGO es nicht wollten, mußten sie doch zu Kompagnons der Parteien werden, die über bewaffnete Verbände verfügten und ohne die eine sichere Verteilung nicht möglich gewesen wäre. Binnen weniger Jahre führte das System zum Kollaps der Region. Die Regierung zerbrach unter dem Einfluß konkurrierender Parteien, die sich mehr denn je regional organisierten. 1994 brach ein kurdischer Parteienkrieg aus, der erst 1998, in Folge der Einführung des Öl-für-Nahrungsmittel Programms der Vereinten Nationen und der damit einhergehenden zentralen Absicherung der Grundversorgung, beigelegt wurde.

Diese "Kurdistan-Experience", wie das zeitweilige Auseinanderbrechen des Nordirak unter dem Eindruck der internationalen Hilfsökonomie von der irakischen Opposition genannt wird, verweist auch auf die Gefahren, denen ein künftiger Irak ausgesetzt sein wird. Denn mit dem Einmarsch der humanitären Organisationen aus Deutschland und Europa im Windschatten der Militärs droht aus blindem Automatismus zugleich die bekannte Ökonomie der regionalen Verteilung alle Versuche einer nationalen Einigung zu unterminieren. Das Ende der Humanität wird mit der humanitären Intervention einsetzen, wenn die Grundstruktur einer auf die Verteilung von Hilfsgütern reduzierten Wirtschaft durch Partei- und Lokaleliten als Alternative zur staatlichen Ordnung eingeführt, Lebensmittel und Medikamente mit vorgehaltener Waffe verteilt und zurückerobert werden. Gefährlicher als deutsche Spürpanzer in der kuwaitischen Wüste sind die humanitären Organisationen, die wie Rupert Neudecks Cap Anamur mit Blick auf kommende Hilfsmillionen bereits auf gepackten Koffern sitzen, um den Irak nach erfolgtem Krieg zu zerlegen. Vor diesem Hintergrund hat die deutsche Weigerung, die Bildung eines demokratischen Irak zu unterstützen, einen realen Vorzug. Ein Wiederaufbau ohne Deutschland wäre der beste Garant für ein Gelingen.


Leicht gekürzt erschienen in konkret 3/03


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