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Handschellen für den Minister

Die Kämpfe im Irak eskalieren. Unter einem neuen US-Kommandanten beginnt die Offensive gegen Terrorgruppen und Milizen in Bagdad.

von Thomas Schmidinger

http://www.jungle-world.com/

»Die Ziele sind erreichbar«, glaubt David Petraeus. Der 54jährige US-General, der am Samstag die Befehlsgewalt über die internationalen Truppenverbände übernahm, hält die Lage im Irak für »nicht hoffnungslos«. Er ist Experte für Aufstandsbekämpfung, seine erste Aufgabe wird die Führung einer Großoffensive in Bagdad sein, und er drängt darauf, dass die ihm zugesagten 21.500 zusätzlichen US-Soldaten so bald wie möglich stationiert werden.

Der Führungswechsel ist eine Art regime change im Militärapparat. Petraeus gehört zu den Autoren des Field Manual 3-24, der neuen Aufstandsbekämpfungsdoktrin der US-Armee. Das Handbuch enthält implizit eine Generalkritik an der Strategie des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, der im November vergangenen Jahres zurücktrat. Petraeus und seine Mitautoren fordern unter anderem größere Anstrengungen beim Wiederaufbau und einen besseren Schutz der Zivilbevölkerung vor Terroranschlägen, auch wenn dies die US-Truppen größeren Risiken aussetzt.

Nun muss Petraeus beweisen, dass diese Strategie auch praktikabel ist. Viele Militärexperten sind der Ansicht, dass die mit den zugesagten Verstärkungen mehr als 150.000 Soldaten zählende Truppe zu schwach ist, um etwa nach der geplanten systematischen Durchsuchung der einzelnen Stadtviertel Bagdads nach Waffen und Sprengstoff eine Rückkehr der Terroristen und Milizionäre zu verhindern. Bereits die Entsendung von 21.500 zusätzlichen Soldaten brachte George W. Bush beträchtliche innenpolitische Probleme, und der Präsident wird seinen neuen Kommandanten auf Dauer wohl nur unterstützen, wenn dessen in den USA unpopuläre Strategie schnelle Erfolge bringt.

Manche Kritiker glauben auch, die neue Initiative komme zu spät. Denn längst geht es im Irak nicht mehr nur um Terror- oder Aufstandsbekämpfung, sondern um die Beendigung eines ethnisierten Bürgerkriegs. Drei Jahre lang hatten Schiiten und Kurden auf die Angriffe sunnitischer Jihadisten und ba’athistischer Terrorgruppen nicht mit Angriffen auf Zivilisten reagiert, doch im Frühjahr 2006 eskalierte die Situation. Die Mahdi-Miliz des extremistischen schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr sowie eine Reihe überwiegend auf lokaler Ebene tätiger schiitischer Warlords begannen nach den Anschlägen auf die goldene Moschee in Samarra mit Racheakten an Sunniten.

Relativ selten kämpfen die Milizen gegeneinander, meist wird die Zivilbevölkerung terrorisiert. Die alltägliche Gewalt zwingt die Menschen, bei einer Miliz »Schutz« zu suchen. Im Konkurrenzkampf vor Ort setzen sich meist die brutalsten und fanatischsten Kräfte durch, da ihnen am ehesten das Potenzial zugetraut wird, sich gegen Rivalen aus den eigenen Reihen behaupten zu können.

Äußere Faktoren haben zur Eskalation beigetragen. Saudi-Arabien und Syrien unterstützen sunnitische Gruppierungen, der Iran hilft schiitischen Milizen. Die Bündnispolitik der US-Truppen war wechselhaft, in den vergangenen Monaten haben sie sich wieder verstärkt auf die Seite sunnitischer Gruppen gegen die schiitischen Milizen gestellt. Zudem haben sunnitische Terrorgruppen die irakischen Sicherheitskräfte infiltriert, während es den schiitischen Regierungsparteien gelungen ist, ganze Einheiten ihrer Milizen in die Polizei und die Armee einzuschleusen.

Auch zwischen den schiitischen Parteien und Milizen gibt es Konflikte. Ende Januar wurden mehr als 250 Anhänger einer von dem schiitischen Prediger Sheikh Ahmed al-Hassani al-Sarkhi geführten apokalyptischen Sekte getötet. Die Umstände des Gefechts sind ungeklärt, offenbar musste die US-Luftwaffe die bedrängten irakischen Sicherheitskräfte retten. Die Besatzungstruppen stellen sich zunehmend gegen die extremistischen schiitischen Milizen, auch gegen jene, deren politische Führung im Parlament und in der Regierung vertreten ist.

Am Donnerstag der vergangenen Woche stürmten US-Soldaten in Begleitung irakischer Sicherheitskräfte das Gesundheitsministerium, das von einem Anhänger Muqtada al-Sadrs geleitet wird. Der stellvertretende Gesundheitsminister Hakim al-Zamili wurde in Handschellen abgeführt. Die Regionalpolitik der US-Regierung, die eine »sunnitische Front« arabischer Staaten aufbauen möchte, um den Iran zu isolieren, scheint sich auch auf den Irak auszuwirken.

Frühere Großoffensiven der US-Truppen richteten sich meist gegen Terrorgruppen und Milizen im »sunnitischen Dreieck«. Derzeit finden die Kämpfe und Massaker vor allem in Gebieten statt, in denen verschiedene Bevölkerungsgruppen wohnen. Bagdad und Kirkuk wurden in den vergangenen Monaten zu den Hauptschlachtfeldern der Milizen. In Bagdad werden immer mehr gemischt bevölkerte Stadtviertel zum Ziel von »Säuberungen«. Schiiten ziehen in schiitisch kontrollierte Viertel, Sunniten in Sunnitenviertel. Meist genügt die Einschüchterung der jeweiligen Minderheit, einige exemplarische Morde sorgen dafür, dass die ersten sich auf den Weg machen, bald folgen dann Verwandte und Freunde. Einer kürzlich veröffentlichten Studie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge haben 360.000 Menschen innerhalb des Irak in Gebieten ihrer »eigenen« Bevölkerungsgruppe Zuflucht gesucht.

Besonders gefährlich ist die Lage für die zahlreichen gemischten Familien und die Angehörigen kleinerer Minderheiten, die über kein von eigenen Milizen kontrolliertes Territorium verfügen. Mandäer, Christen oder Turkmenen versuchen deshalb häufig, aus dem Irak zu flüchten. Von den 30.000 irakischen Mandäern haben mittlerweile fast zwei Drittel das Land verlassen. Nur rund drei Prozent der Irakis sind Christen, doch Christen machen derzeit 40 Prozent der etwa 800.000 irakischen Flüchtlinge in Syrien aus. Aus Städten, die von besonders fanatischen Islamisten kontrolliert werden, sind die christlichen Gemeinden so gut wie verschwunden.

Für Unruhe unter den irakischen Christen sorgen auch fundamentalistische evangelikale Sekten, die im Gefolge der US-Armee ins Land gekommen sind. Louis Sako, der chaldäische Erzbischof von Kirkuk, kritisierte Anfang Februar, die Evangelikalen würden unter den irakischen Christen einen »aggressiven Proselytismus« betreiben. Während viele irakische Christen auf der Flucht sind, wurden allein in Bagdad über 30 neue evangelikale Kirchen aktiv. Und da die christlichen Fundamentalisten auch Muslime bekehren wollen, arbeiten sie der antichristlichen Propaganda der Islamisten in die Hände. Der turkmenischen Minderheit in Kirkuk wird vorgeworfen, sie lasse sich von der Türkei instrumentalisieren, was ihre prekäre Lage zwischen den arabischen Milizen und den neuen kurdischen Herren der Stadt weiter erschwert.

Insgesamt sind seit der Eskalation des Bürgerkriegs fast zwei Millionen Irakis ins Ausland geflüchtet, darunter insbesondere die Gebildeten, was bereits zu einem Mangel an Ärzten und anderen Akademikern geführt hat. Den überwiegenden Teil der irakischen Bevölkerung eint der Wunsch nach einem Ende der Gewalt, dennoch ist eine weitere Eskalation nicht ausgeschlossen. Und selbst wenn es gelingen sollte, in Bagdad und später in den anderen umkämpften Gebieten für Sicherheit zu sorgen, werden die Folgen des Terrors und der Massaker den Irak noch lange prägen.


Artikel erschienen in Jungle World 07 vom 14. Februar 2007


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