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Gewisse Lücke

Der UN-Entwicklungsbericht über die arabischen Staaten ist auch nicht mehr das, was er mal war.

von Thomas Uwer

http://www.jungle-world.com/

Wer wissen möchte, wie es um das pan-arabische Projekt dieser Tage bestellt ist, der verfolge nur die Auseinandersetzungen zwischen Hoda Abdel Nasser und Ruqaya Sadat. Die beiden Damen sind die Töchter der ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Anwar Sadat und legitime Erben wenigstens des ideellen Reichtums, den die verstorbenen Führer der sogenannten arabischen Welt hinterlassen haben. Weil Frau Nasser behauptet, der Vater der anderen habe ihren Vater dereinst ermorden lassen und sich dazu der Hilfe der CIA bedient, hatte Frau Sadat Klage eingereicht und vor Gericht 150.000 ägyptische Pfund Entschädigung erwirkt, die wiederum nur gegen den erbitterten Widerstand Frau Nassers und unter Zuhilfenahme unmittelbarer Polizeigewalt in Form gepfändeter Möbelstücke aus dem Nasserschen Appartement realisiert werden konnten.

Daß die Geschichte sich wiederhole, beim zweiten mal aber als Farce, kommentierte Hazem Sagieh, Mitherausgeber der in London erscheinenden Tageszeitung Al-Hayat die Ereignisse und stimmte das bekannte Klagelied über den Zustand arabischer Staaten an. Wenigstens in einem Punkt irrte er damit gewaltig: Eine Farce war der arabische Nationalismus seit je. Bereits ihre historischen Führer warfen sich gegenseitig vor, von der C.I.A. gekauft oder von Zions Weisen ferngesteuert zu sein, den Ägyptern legte man zur Last, keine echten Araber zu sein, die Iraker zieh man der Nähe zu den Persern. Was einzig die Töchter von den Vätern scheidet, ist der Zugang zu den materiellen Machtmitteln, die diese so sehr liebten, zu den Armeen, Geheimdiensten und Superkanonen. Was bleibt ist ein arabischer Nationalismus ohne materielle Realität, bzw., wie der amerikanisch-libanesische Autor Fouad Ajami einst schrieb, ein »kultureller« Arabismus als die schier unüberwindliche Hürde vor der überfälligen gesellschaftlichen Entwicklung der Region.

Wie es um diese Region in Wirklichkeit bestellt ist, davon zeugte in den vergangenen Jahren der von der UN-Entwicklungsorganisation UNDP seit 2002 veröffentlichte »Arab Human Development Report«. Nicht hoch genug kann geschätzt werden, was der Bericht einst leisten wollte, erstmals nämlich umfassend statistisches Material zur sozialen und ökonomischen Realität in einer Region vorzulegen, die reich an politischer Deutung aber arm an Fakten ist. Einigermaßen vertrauensvolles empirisches Material ist schwer zu finden, wo die Erhebung statistischer Daten unabhängig von Regierungsstellen in den meisten Fällen nicht möglich ist. Bis heute stellt sich das Problem der Ermittlung von Tatsachen nicht nur in Diktaturen wie Syrien, sondern auch in allen anderen Staaten, die eine Kontrolle über empirische Forschung wenigstens insofern behaupten, als sie bestimmen, was erfragt werden darf und was nicht. Wenn es keine empirischen Daten gibt, können auch keine empirisch gefestigten Aussagen getroffen werden. Daher rührt bspw. der Irrtum, daß weibliche Genitalverstümmelung als im Vorderen Orient nicht verbreitet angenommen wird, während vielfältige Einzelberichte vom Gegenteil zeugen. Wo alles als Angelegenheit des Staates und jeder andere Staat als potentiell feindlich gilt, wird selbst der Wetterbericht auf seine mögliche strategische Bedeutung hin interpretiert.

So konnten die Ergebnisse der ersten Entwicklungsberichte über die »arabische Welt« auch niemanden ernsthaft wundern - entweder man hatte es bereits geahnt oder man wollte auch weiter nicht wahrnehmen, und tat daher als westliche Propaganda ab, daß die arabischen Staaten in allen wesentlichen Bereichen gesellschaftlicher Modernisierung versagt haben. Bildung und Ausbildung sind mit der Ausnahme einer verschwindend kleinen Elite auf einem Niveau, das unter dem der chronischen Hungerstaaten der Subsahara liegt, in kaum einem der untersuchten Staaten existieren funktionsfähige rechtsstaatliche Strukturen, die in der Lage wären, die Bürger vor den in den seltensten Fällen demokratisch legitimierten Regierungen und ihrer korrupten Apparate zu schützen, Frauen und religiöse Minderheiten sind weitgehend entrechtet und die Mehrzahl der Jugendlichen auch in absehbarer Zukunft ohne jede Chance auf einen Job. Der Bericht stellte den arabischen Regierungen das schlechteste nur mögliche Zeugnis aus, das umso wirksamer war, als er nicht leichthin als Ergebnis neoliberaler Bösartigkeit oder zionistischer Ränke abgetan werden konnte. Im Gegenteil: Der »Arab Human Development Report« übernahm unhinterfragt die wichtigste Prämisse des Arabismus, daß es so etwas wie eine »arabische Welt« überhaupt gibt und geben sollte und gab damit zugleich den arabischen Kritikern dieser Regime ein wirksames Werkzeug zur Hand.

Wer nun ernsthaft glaubte, das würde dauerhaft durchgehen, der kennt die Vereinten Nationen schlecht. Die Gelegenheit zur Revision des Berichts kam mit US-Präsident Barak Obama, der in seiner Grundsatzrede an die »islamische Welt« die Doktrin »kollektiver Verantwortung« für die Entwicklung des Vorderen Orients ausgegeben hat, die von der konkreten Verantwortung islamischer und arabischer Regimes für das Elend ihrer Bevölkerungen absieht und dafür Israel wieder in das Zentrum einer »globalen« Nahost-Politik rückt. Schnell legte UNDP nach und veröffentlichte einen vollständig überarbeiteten arabischen Entwicklungsbericht. Nicht mehr die Sammlung statistischen Materials zur ökonomischen und sozialen Situation in den arabischen Staaten steht im Zentrum des Berichts, sondern die Herstellung »menschlicher Sicherheit« (i.O. human security) als »globaler Herausforderung«, die, mehr als dies nackte Daten könnten, die gesamte »Lebenswirklichkeit« der Betroffenen umfasse. Viel ist von umfassenden »Herausforderungen« an die Menschheit und »an die Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges« die Rede, viel von der »subjektiven menschlichen Sicherheit«, von globaler Erwärmung und Identität - und, wie die US-Administration es vorgemacht hat, von der israelischen »Besatzung«. Über die Lebensrealität in den arabischen Staaten erfährt man indes nur noch wenig.

So kommt es, daß auf den fast 300 Seiten des aktuellen Berichts keine Daten zur Bildungssituation dokumentiert sind, nichts zur unterdrückten Pressefreiheit, zu Zensur und der Verfolgung von Journalisten und Internet-Bloggern gesagt wird, kein Wort zu den vielfältigen Assoziationsverboten (Gewerkschaften), nichts zur (oft rechtlich fundierten) religiösen und ethnischen Diskriminierung oder der Unterdrückung sexueller Minderheiten. Zur endemischen Gewalt gegen Frauen in arabischen Staaten heißt es lapidar, dies sei »ein weltweites Phänomen und nicht auf arabische Staaten begrenzt«. Dafür ist der Bericht reich an soziologischer Poesie. Als wäre Ulrich Beck am Werke gewesen schreiben die Autoren, der »Civil State« sei die »beste Voraussetzung für menschliche Sicherheit«, versäumen aber zu erklären was ein »civil state« angesichts der arabischen Diktaturen denn wohl sein könnte. Eine gewisse »Lücke«, heißt es an anderer Stelle, »besteht zwischen den Erwartungen arabischer Bürger und dem, was sie am Ende dann erhalten«, als handele es sich um Qualitäts- und Lieferprobleme von Kühlschränken.

Im Zentrum des Berichts steht die »Besatzung durch fremde Truppen«, die, noch vor dem Problem der Flüchtlinge, also der Palästinenser, dem der Erderwärmung und dem Schwund natürlicher Ressourcen, als Kernproblem erkannt wird. »Die wichtigste Herausforderung ist der arabisch-israelische Konflikt«, heißt es in der Conclusio, dessen Lösung nur darin bestehen kann, daß Israel von der Landkarte verschwindet. Letzteres steht so natürlich nicht da. Dort steht nur, daß die israelische »Besatzung seit mehr als 40 Jahren« illegal ist, an allem Elend der sogenannten arabischen Welt die Schuld trägt und einige Millionen »Flüchtlinge« von 1948 zurückkehren müssen, darunter auch die etwa zwei Millionen »Flüchtlinge«, die seit drei oder vier Generationen jordanische Staatsbürger sind.

Am Ende ist der Bericht über die arabische Welt also eine ähnliche Farce geworden wie die »arabische Welt« selbst. Ohne die Macht, die wirkliche Welt nach ihrem Gusto zu gestalten, bleibt den Arabisten nur die kleine Parallelwelt der Vereinten Nationen, in der sie die Geschichte umschreiben, Strategien entwerfen und Millenniumspläne schmieden dürfen. Sie unterscheidet sich von derjenigen der Damen Nasser und Sadat nur mehr in ihrem Unterhaltungswert.

Artikel erschienen in Konkret, Heft 12, 2009


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