„Die Wahlen waren frei und fair“
Interview
Thomas von der Osten-Sacken ist freier Publizist und Mitarbeiter
der im Nahen und Mittleren Osten tätigen entwicklungspolitischen
Organisation WADI e.V.. In Deutschland gilt er als einer der führenden
Experten zum Thema Irak und Menschenrechte. 1991 verbrachte er erstmals
acht Monate im Irak, um im Süden des Landes humanitäre Hilfe
zu leisten. Saddam Husseins Armee hatte damals nach einem schiitischen
Aufstand über 60.000 Menschen ermordet. Im Winter 1991 war er Mitbegründer
der Hilfsorganisation WADI e.V., die sich insbesondere im kurdischen
Teil des Irak, in Jordanien, in Israel und Palästina für Frauen
in Notsituationen und Opfer sexueller Gewalt einsetzt sowie die Regionalregierung
Irakisch Kurdistans bei der Reform des Gefängnissystems berät.
In Deutschland arbeitet seine Organisation eng mit der „Koalition
für einen demokratischen Irak“ zusammen. Von der Osten-Sacken
publiziert nicht nur in KONKRET und jungle world, sondern seit 2004
auch in der WELT. Gemeinsam mit Thomas Uwer und Aras Fatah veröffentlichte
er 2001 das Buch „Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg
in den 3. Golfkrieg“, sowie gemeinsam mit Thomas Uwer und Andrea
Woeldike im Jahr 2003 „Amerika, der 'War on Terror' und der Aufstand
der Alten Welt“.
Bei den ersten freien Wahlen im Irak war er als offizieller Wahlbeobachter
unterwegs.
Herr von der Osten-Sacken, Sie befinden sich im Moment als offizieller Wahlbeobachter der Hilfsorganisation WADI e.V. im Irak. Wie sicher ist die Lage in Ihrer Region? Können Sie Ihrer Aufgabe ohne größere Behinderungen nachgehen?
Hier im kurdischen Nordirak, wo ich mich aufhalte und sich unsere Büros befinden, ist die Sicherheitslage gut. Die Kurden konnten sich schließlich schon 1991 von der Diktatur Saddam Husseins befreien und haben, trotz zwischenzeitlicher interner Parteienkriege, einen recht effektiven Sicherheitsdienst aufgebaut. Auch ist die Bevölkerung wachsam. Zwar versuchen Terroristen immer wieder auch hier Anschläge durchzuführen, diese können aber in der Regel vereitelt werden. Insofern habe ich keinerlei Probleme, mich hier frei zu bewegen. Wir arbeiten seit 1993 in der Region und kennen uns inzwischen doch recht gut aus. Zudem können wir uns in Fragen der Sicherheit völlig auf unsere lokalen Mitarbeiter verlassen.
In den europäischen Medien wird der Eindruck erweckt, der Irak versinke in Chaos und Bürgerkrieg, die Lage sei heute viel schlechter als unter Saddam Hussein. Wie sieht die Realität aus? Sind die Wahlen vielleicht verfrüht?
Nun, die Berichterstattung der meisten europäischen Medien ist
von Ressentiment und Sensationslust geprägt. Die überwältigende
Mehrheit der Menschen im Irak, und das sind jene, die vergangenen Sonntag
auch Wählen gegangen sind, hat den Sturz Saddam Husseins begrüßt
und unterstützt den Neuaufbau des Irak. Zweifelssohne ist heute
die Sicherheitslage in vielen Teilen des Irak schlechter als zuvor und
Menschen fürchten sich, auf die Straße zu gehen. Schließlich
bestehen große Teile des sogenannten Widerstandes aus ehemaligen
Baathisten und Mitgliedern der alten irakischen Sicherheitsdienste.
Der Terror, der heute offen stattfindet, wurde von den gleichen Typen
früher hinter den Mauern von Gefängnissen und Verhörzentren
durchgeführt. Nur im Zentrum des Irak, im sogenannten „sunnitischen
Dreieck“ haben die Terroristen eine gewisse Unterstützung
in der Bevölkerung, denn Städte wie Falluja, Samarrah oder
Ramadi haben überdurchschnittlich von Saddam Hussein profitiert.
Aus dieser Region wurden die meisten hohen Baathisten, Geheimdienstler
etc. rekrutiert und hier hat man am meisten zu verlieren.
Als Zeichen, daß die Iraker und mit ihnen die Menschen im Nahen
Osten sehr wohl willens und in der Lage sind in freien Wahlen ihre Regierung
zu bestimmen, war dieser Urnengang keineswegs verfrüht. Allerdings
hätte meiner Ansicht nach die Übergangsregierung etwas länger
an der Macht bleiben sollen, damit mehr Zeit bleibt Strukturen und Institutionen
aufzubauen, also das, was man in Europa so gerne Zivilgesellschaft nennt,
auf denen Demokratie letztendlich fußt.
Der Baathismus hat dieses Land und alle gesellschaftlichen Strukturen
vollkommen verwüstet und Kurdistan ist nur ein Beispiel, wie lange
es braucht, bis sich einigermaßen tragfähige Institutionen,
Verwaltungsstrukturen und Organisationen bilden, die nicht nur der verlängerte
Arm eines diktatorischen Einparteienstaates sind.
Diese Wahl hat eine Doppelfunktion: einerseits zeigt sie der Welt, daß
die Mehrheit der Iraker in keinster Weise hinter den Killern steht,
die in deutschen Medien gerne als Aufständische oder Widerstand
bezeichnet werden, andererseits ist sie ein wichtiger Schritt im vorgegeben
Fahrplan zur Demokratisierung des Irak. In einem Jahr werden ja schon
wieder Wahlen stattfinden, die dann die endgültige irakische Regierung,
bzw. Zusammensetzung der Nationalversammlung bestimmen.
Sind nach Ihrer Ansicht freie und faire Wahlen zu Stande gekommen?
Ich war extrem positiv überrascht über Vorbereitung und Durchführung der Wahl. Hier im Suleymaniah Gouvernorate haben wir in verschiedenen Orten 15 Wahllokale ohne Vorankündigung besucht, das Prozedere beobachtet und mit vielen Wählern, vor allem auch Frauen gesprochen. Es gab sicher einige Unzulänglichkeiten, in einem Wahllokal etwa hatte man die Kabine falsch aufgestellt, sicher haben einige Leute doppelt gewählt, aber insgesamt hatten wir, sowohl die Internationalen als auch die Irakis in unserem Team, den Eindruck, daß diese Wahl frei und fair war.
War das Engagement der Vereinten Nationen zur Sicherstellung fairer Wahlen ausreichend?
Die UN haben im Irak auf ganzer Linie versagt. Sei es die Haltung
Kofi Annans zum Krieg, der unglaubliche Öl-für-Nahrungsmittel
Skandal oder die Tatsache, daß der Wiederaufbau des Irak de facto
ohne UN stattfindet. Gerade hier im Nordirak haben die UN einen extrem
schlechten Ruf. Diese Wahl ist von Irakern für Iraker vorbereitet
und durchgeführt worden. Noch vor Wochen hätte Kofi Annan
sie am liebsten abgeblasen.
Es waren die irakische Regierung und die Koalition, die auf diesen Wahlen
bestanden haben und sie letztlich ermöglicht haben, nicht die UN.
Wenn es nach der UN ginge, säße noch heute Saddam Hussein
in Bagdad.
Führende sunnitische Parteien riefen im Vorfeld zum Wahlboykott auf. Wie groß ist die Gefahr einer Spaltung des Landes entlang der ethnischen Grenzen?
Der Irak ist nicht Jugoslawien. Der blutige Konflikt hier ist weit
mehr ein politischer als ein ethnischer oder konfessioneller. Im Irak
herrscht Krieg zwischen denen, die einen neuen demokratischeren Staat
wollen und denen, die entweder das Rad der Geschichte zurückzudrehen
wünschen, wie den alten Baathisten oder den islamistischen Terroristen,
die hier einen Gottesstaat errichten wollen.
Ich war als Wahlbeobachter auch in dem Städtchen Biara, das an
der iranischen Grenze liegt. Bis die USA zusammen mit kurdischen Truppen
sie vertrieben, war dies das Hauptquartier von Musab al-Zarakawi und
seiner Terrortruppe Ansar al-Islam, die dort ein Taliban-ähnliches
Regime errichtet hatten. Um 14 Uhr am Sonntag hatten 87% der Menschen
in Biara schon gewählt. Man kann sich kaum vorstellen, welche Begeisterung
dort – und in vielen anderen Orten ebenfalls – herrschte.
Diese Wahl war eben auch eine klare Absage gegen den Terrorismus.
Es ist kein Zufall, daß Zarkawi im Vorfeld der Wahlen der „Demokratie
den Krieg“ erklärt hat. Ginge es im Irak vornehmlich um einen
ethnischen oder konfessionellen Konflikt hätten Schiiten und Kurden,
die Hauptopfer nicht nur der Baathdiktatur, sondern auch des Terrors,
längst zurückgeschlagen. Sie haben es aber nicht getan, sondern
extreme Zurückhaltung geübt.
Das alles heißt nicht, daß dieser Konflikt nicht ethnisiert
werden kann, wenn es entsprechend finanzkräftige Staaten oder Gruppen
gibt, die eine solche Ethnisierung, wie etwa im ehemaligen Jugoslawien,
vorantreiben.
Haben nach Ihren Informationen viele Sunniten dennoch gewählt? Wie hoch war die Akzeptanz für die säkularen Parteien oder für schiitische und kurdische Parteien unter den Sunniten?
Die Wahlbeteiligung war offenbar höher als erwartet aber immer
noch zu gering. Nur: die Sunniten gibt es nicht. Es ist keineswegs eine
homogene Gruppe und die Frage ist ja, wieviele Menschen bewußt
diese Wahl boykottiert haben und wieviele aus Angst um ihr Leben den
Urnen ferngeblieben sind. In Baqubah, einer Stadt im sunnitischen Dreieck,
tanzten einerseits Menschen vor Freude auf der Straße andererseits
schossen Terroristen gezielt Menschen, die gewählt hatten, den
mit blauer Tinte gefärbten Finger ab. Hätten alle Sunniten
aus Überzeugung die Wahl boykottiert, dann hätte man sich
all die martialischen Todesdrohungen sparen können. Auf diesen
Punkt wies kürzlich zu recht ein irakischer Politiker in einem
arabischen Fernsehsender hin. Mitglieder des ANC in Südafrika etwa
waren von ihrem Tun überzeugt, man mußte sie kaum mit dem
Tod bedrohen, um das Apartheidsregime zu boykottieren.
Noch ist es zu früh, Aussagen über den Wahlausgang zu machen,
die endgültigen Ergebnisse werden erst in ca. einer Woche vorliegen.
Verhindert die Splittung der schiitischen Stimmen auf drei schiitische Parteien ausreichend eine zu starke Ausrichtung der Schiiten in Richtung Iran?
Ich bin kein Freund religiöser Parteien und betrachte die Entwicklung
im Süden des Irak sehr kritisch. Nur eines scheint mir sehr unwahrscheinlich,
daß sich hier ein Gottesstaat nach iranischem Vorbild entwickeln
wird. Die irakische Schia hat einerseits eine völlig andere Geschichte,
andererseits verstrahlt der Iran längst nicht mehr den Vorbildcharakter
der „islamische dritte Weg“ zu sein, wie vor zwanzig Jahren.
Viele irakische Schiiten sind reaktionär, ihre Auffassungen über
Frauenrechte etwa katastrophal, aber bislang insistieren sie darauf,
daß keine Kleriker die politische Macht übernehmen sollen.
Ich denke, dies ist sehr ernst gemeint und fußt auf einer spezifischen
schiitischen Tradition.
Für den Iran ist die Wahl im Irak weit bedrohlicher, als der Iran
für die Zukunft des Irak bedrohlich ist, auch wenn er, wie Syrien
und Saudi Arabien, alles unternimmt diesen Prozeß zu verhindern.
Konnten radikale Gruppen im Demokratisierungsprozeß bisher in signifikantem Maße Fuß fassen?
Man müßte erst einmal definieren, wer im Irak radikal ist.
Noch immer gibt es viele Baathisten, die in hohen Ämtern sind,
auch die Entwicklung der schiitischen Parteien, selbst wenn sie keineswegs
so radikal sind, wie etwa die Hizbollah im Libanon, ist genau zu beobachten.
Als radikal würde ich im Irak Parteien bezeichnen, die für
Säkularisierung, weitegehende Debaathisierung, Rechte der Frauen
und ähnliches eintreten. Diese Parteien haben meine volle Unterstützung.
Lassen Sie mich den Punkt noch klarer machen: Radikal ist es im Nahen
Osten liberal zu sein, gegen diesen ganzen antisemitischen und antiamerikanischen
Konsens anzukämpfen und sich für, sagen wir einigermaßen
bürgerliche Gesellschaften einzusetzen. Radikal ist es, nicht Israel
die Schuld an der eigenen Misere zu geben, radikal ist es die Schuld
für die miserabel Lage im Nahen Osten nicht dem Imperialismus,
den USA oder wem immer alleine zu geben, sondern die Grundlagen dieser
Systeme hier zu hinterfragen. Dies ist Radikalität in bester Tradition
und diese Art der Radikalität versuchen wir auch zu unterstützen.
Lassen Sie uns einen Ausblick auf die Zukunft des Irak wagen. Wie lange werden noch US-Truppen benötigt, wann kann eine jetzt demokratisch legitimierte Regierung die Lage aus eigener Kraft stabilisieren und für Sicherheit sorgen?
Die Truppen der Koalition werden noch Jahre hier bleiben. Das wünschen auch die schiitischen Parteien, von den Kurden oder Säkularen nicht zu reden. Ich denke aber, daß die Koalition bald mit einem Teilabzug beginnen kann. Jeder, der einen frühzeitigen Abzug fordert, läßt sich vor den Karren der Terroristen und der diktatorischen Nachbarregimes spannen, ob er will oder nicht. Der Irak hat unter einer 50jährigen Diktatur gelitten, eine Stabilisierung des Landes und eine Demokratisierung braucht vor allem eines: Zeit. Und es ist wichtig diese Zeit den Irakern zu geben. Schließlich hängt davon nicht nur die Zukunft des Irak, sondern die der ganzen Region ab.
Kann eine legitimierte Regierung mit größerem Rückhalt in der Bevölkerung rechnen, wenn sie gegen die Extremisten vorgeht?
Ja. Hier in Kurdistan etwa hat man die Aktionen der US-Armee und der neuen irakischen Armee in Falluja sehr begrüßt. Für die meisten Iraker sind diese Terroristen nicht irgendwelche Che Guevaras, sondern Killer und Kriminelle, die hinter Gitter gehören.
Mit Afghanistan und dem Irak widerlegen die USA das Vorurteil, Islam und Demokratie wären inkompatibel. Wie groß ist jetzt der Druck auf die Nachbarn, ebenfalls demokratische Reformen anzupacken?
Ich weiß nicht, ob Islam und Demokratie kompatibel sind und
halte die Frage für falsch gestellt. Demokratie, wie in den bürgerlichen
Revolutionen in Amerika und Europa, mußte auch gegen den Klerus
durchgesetzt werden. Ich glaube die Menschen hier wünschen, in
freieren Gesellschaften zu leben, mitzubestimmen, und ihre Lebensweise
ändern zu können. Der Islam muß sich reformieren und
seinen Totalitätsanspruch aufgeben. Es gibt Anzeichen für
eine solche Entwicklung und diese Entwicklung muß mit allen Mitteln
unterstützt und gefördert werden. Diese Debatten um Wesen
und Ausdeutung des Islam, wie sie so gerne in „kritischen Dialogen“
in Deutschland geführt werden, sind einfach nur reaktionär
und kulturalistisch. Sie glauben nicht, wie viele Menschen hier ebensowenig
in die Moschee gehen, wie ich in die Kirche gehe. Wir müssen endlich
aufhören Menschen aus dem Nahen Osten immer durch die grüne
Brille des Islam sehen. Der Anspruch bürgerlicher Revolutionen
war universalistisch und in Europa verabschiedet man sich zunehmend
von diesem revolutionärem Universalismus.
Die Nachbarländer fürchten die von den USA vorangetriebene
Demokratisierung wie der Teufel das Weihwasser. Aber es ist ein Prozeß
in Gang gesetzt, der so hoffe und glaube ich, irreversibel ist. Zum
ersten Mal seit über fünfzig Jahren gibt es eine wirkliche
Alternative zu den ganzen –ismen, die diese Region zerstört
haben: Panarabismus, Nasserismus, Islamismus und andere totalitäre
Ideologien.
Sie leisten mit Ihrem Verein WADI e.V. auch abseits der Wahlen großartige Basisarbeit vor Ort. Welche Projekte bezeichnen Sie als besonders erfolgreich und wo liegt der Schwerpunkt Ihres Engagements in der nächsten Zeit?
Nun alle Projekte, die auf Stärkung von Frauen abzielten. Wir haben das erste Frauenschutzhaus in der Region 1999 eröffnet, umfangreiche Alphabetisierungskampagnen durchgeführt und eine Anzahl größerer und kleiner Frauenzentren eröffnet. All diese Projekte sind sehr erfolgreich und es ist immer wieder erstaunlich, welche Fortschritte in kurzer Zeit gemacht werden. Im Augenblick sind wir dabei ein Frauen- und Jugendradio in Halabja zu eröffnen und wir bereiten eine Kampagne gegen Genitalverstümmelungen von Frauen, leider ein großes Problem hier, vor. Auch haben wir verschiedene Seminare zur Wahlvorbereitung organisiert, die sehr erfolgreich waren. Es ist hier nicht der Platz, Ihnen alle anderen Projekte von uns zu schildern, ich verweise auf unsere Internetseite www.wadinet.de. Ich persönlich halte unsere Arbeit mit Gefangenen für extrem wichtig.
Für Ihre Ansichten ergibt sich sicher eine größere Schnittmenge mit Frum und Krauthammer als mit Habermas und Ströbele. Haben Sie die Linke verraten oder hat die europäische Linke die Menschenrechte verraten?
Hannah Arendt hat in den Ursprüngen totaler Herrschaft das einzig
richtige über Menschenrechte geschrieben: solange sie nicht als
Bürgerrechte verbrieft sind, taugen sie nur zu weinerlichen Aufrufen.
Die Linke aber hatte nie ein positives Verhältnis zu diesen Bürgerrechten,
die ja nur Staaten garantieren können, deren Aufhebung das Ziel
des Kommunismus ursprünglich war und weiter sein sollte. Die Spannung,
etwas zu verteidigen, was man zugleich zu überwinden hofft, haben
viele Linke nicht ausgehalten. Ströbele ist, wie so viele andere
68er zudem ein Staatsfetischist, nicht die Rechte des Bürgers interessieren
ihn, sondern der gute eingreifende, regulierende Staat. Daher auch der
Haß gegen den Inbegriff bürgerlicher Vergesellschaftung,
die USA und das kosmopolitische Prinzip bürgerlicher Vergesellschaftung,
das in Europa und im Nahen Osten mit den Juden identifiziert wird. Habermas
wünscht das gute, starke, andere Europa als antiamerikanische Gegenmacht,
Ströbele demonstrierte mit der Hamas in Berlin gegen Israel. Ginge
es nach ihnen und ihren Ideen von Selbstbestimmung: Saddam wäre
weiter an der Macht, Israel, die einzige Demokratie im Nahen Osten noch
isolierter und den Angriffen der Islamisten ausgesetzt.
Deshalb lesen sich Artikel in der National Review, dem Weekly Standard
oder der Washington Post so oft wie eine Flaschenpost aus besseren Zeiten.
So wenig ich innenpolitisch den Wertekanon dieser Publikationen teile,
so richtig ist ihre außenpolitische Stoßrichtung. Es ist
der amerikanische Präsident, der von Freiheit und Demokratie spricht,
während die europäische und amerikanische Linke, ebenso wie
so viele Konservative in Europa völkisch, antidemokratisch und
kulturpessimistisch daherreden, von all den revisionistischen Untertönen
in Deutschland ganz zu schweigen. Wer ernsthaft meint, Bush mit Hitler
vergleichen zu müssen und gegen den neuen Nazi Scharon zu demonstrieren,
dem ist nicht mehr zu helfen, der steht ganz einfach auf der anderen
Seite. Ich habe viel von den Neocons gelernt und verfolge die amerikanische
Debatte mit großem Interesse. Und es ist zu hoffen, daß
sich in Washington die richtigen Leute durchsetzen und die USA nicht
wieder in diese fürchterliche Containment-Politik im Nahen Osten
verfallen, die so viel Unheil angerichtet hat.
Irving Kristol bezeichnete die Neocons als „Liberale, die von der Realität überzeugt wurden“. Sind Sie noch Marxist oder schon Neokonservativer?
Ich habe keine so große Sehnsucht nach dem identitären
Label, das man sich auf die Stirn klebt, um leichter einordbar zu sein.
Wenn man sich lange mit dem Irak beschäftigt hat, steht man nicht
vor so sehr neuen Entwicklungen. Dank der amerikanischen Intervention
1991 war es der Irakischen Kommunistischen Partei möglich, nach
Jahrzehnten des Verbots ihre Büros in Irakisch-Kurdistan wieder
zu eröffnen. Das klingt wie eine Ironie der Geschichte, ist es
aber nicht.
Der Marxismus zielte, bevor er in den Herrschaftsstrukturen des Ostens
erstarrte auf die Befreiung des Menschen von der Herrschaft von Staat
und Kapital. Ihm ging es um die Überwindung bürgerlicher Vergesellschaftung
nicht deren Bekämpfung. Im Kampf gegen Islamfaschismus und Baathismus
hätte, vermute ich, Marx weit eher die amerikanische Regierung
unterstützt, als daß er sich mit dem alten Europa solidarisiert
hätte.
Es ist durchaus von Interesse, Marx Schriften über Amerika als
das am weitesten entwickelten kapitalistischen Landes wieder zu lesen,
oder seinen Brief an die Nordstaaten, in dem er der Union die Unterstützung
der europäischen Arbeiterschaft im Kampf gegen die Sklaverei übersandte.
Herr von der Osten-Sacken, ich danke Ihnen für dieses Gespräch und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeit.
Das Interview führte Andreas Schneider, Februar 2005