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Wie Feuer und Benzin?

Irakische Frauen und Jugendliche on Air

Von Mary Kreutzer und Sandra Strobel

Nach dem Sturz einer der schrecklichsten Diktaturen der Geschichte des Nahen Osten, des Ba’th-Regimes, entstand für Frauen und Männer im Irak ein Freiraum, der trotz des anhaltenden Terrors und der traditionell patriachal geprägten Gesellschaftsstrukturen in einigen Gebieten des Landes von der Zivilbevoelkerung genutzt wird. Zum Beispiel von jenen Jugendlichen im nordirakischen Gebiet von Sharasur, Halabja und Hauraman, die mit dem Sender „Dengue Nué“ (Neue Stimme) ein einzigartiges Projekt umsetzten: sie gründeten ein parteiunabhängiges Community Radio, das nach acht Monaten Vorbereitung und Probephase ab September 2005 live on air geht.

Ein Radio-Pionierprojekt für den Irak

Die Regionalregierung, religiöse Führer und diverse Parteien sind aus den inhaltlichen, personellen und strukturellen Entscheidungen des Radios ausgeschlossen. Die irakisch-deutsch-österreichische Hilfsorganisation Wadi unterstuetzt das Radioteam sowohl technisch als auch finanziell. Thematisch beschäftigt sich der Sender mit den Problemen von Frauen und Jugendlichen. Die Radiocrew will dadurch ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Frauenrechten und Verständnis für die Jugend schaffen und Frauen ein öffentliches Forum bieten. Das Radio bietet seinen Hoerern eine Mischung aus Nachrichten, Aufklaerung, Information und Unterhaltung an.

Der Sender besteht aus 7 Mitarbeiterinnen und 4 Mitarbeitern im Alter von 19 bis 28 Jahren. Sie sind allesamt Überlebende des Giftgasangriffs Saddams Husseins auf Halabja und teilen das Trauma von Tod und Vertreibung, Flucht und Exil, Rückkehr und Internierung in Collective Towns. Im März 1988 waren die BewohnerInnen Halabjas mit einem Giftgasgemisch eingenebelt worden, das für Tausende sofort tödlich war und die Überlebenden auf Lebenszeit vergiftete. Holländische und deutsche Firmen lieferten das Gas. Die Krebsrate und Infertilität ist nirgends in Kurdistan so erschreckend hoch wie hier. Das Gebiet wurde nach dem Gasangriff staatlich „geräumt“ und die Bewohner flüchteten meist in den Iran. Nach jahrzehntelanger Flucht leben die Menschen heute wieder an genau dem Ort, an dem sie den Giftgasangriff erlebten. Mit unglaublicher Energie haben sie ihre Stadt wieder aufgebaut. Seit 1988 sind in jeder Familie überdurchschnittlich viele Menschen an Krebs gestorben, psychologische Betreuung ist bis heute schlichtweg inexistent, finanzielle Entschädigung gab es nur für direkte Verwandte der Todesopfer vom März 1988.

Auch die Freude über die partielle Befreiung des Nordiraks im Jahr 1991 konnten die BewohnerInnen Halabjas nur kurz genießen, denn bald etablierten islamistische Gruppen ein Terrorregime. Mit der Befreiung des Irak 2003 wurde ihrer Herrschaft ein Ende gesetzt. „Ich kann meine Gefühle darüber kaum in Worte fassen“, erzählt Zhihan vom Radioteam, „doch eines steht fest: in diesem Jahr hat sich alles in meinem Leben verändert.“ Im Jahr 2000 musste sie die Schule abbrechen, weil sie sich geweigert hatte, ihr Haar zu bedecken. Die Islamisten dominierten die Schulen und drangsalierten Mädchen, die das Kopftuch verweigerten oder dieses anders als „vorschriftsgemäß“ trugen. Aus ähnlichen Gründen hat auch sonst niemand im Radioteam einen Schulabschluss erreicht. Jahandin verließ die Schule, da er seinen Vater durch den Gasangriff verlor und somit für seine Familie verantwortlich war. Heresch brach die Grundschule ab, nachdem das Schulgebäude bombardiert wurde. Wie viele KurdInnen hatten die Eltern Angst, ihre Kinder täglich diesem Risiko auszusetzen.

Analphabetentum ist im Nordirak auch bei der heutigen Jugend weitverbreitet. Die Analphabetenrate variert von Ort zu Ort. Halabja ist auf Grund seiner Geschichte einer der vielen Orte der besonders viele AnalphabetInnen und verfrühte SchulabgängerInnen hat. Ein Radio ist daher das geeignete Medium, um den Menschen die Chance zu geben, ihr Recht auf Meinungsäußerung und Bildung in Anspruch zu nehmen. Auch die entlegensten Regionen können so erreicht werden. Im Jahr 2003 entstand innerhalb kurzer Zeit eine pluralistische Medienlandschaft, die im Nahen Osten ihresgleichen sucht.

Heute erscheinen hunderte von Tageszeitungen, etliche neue TV- und Radiostationen nahmen den Betrieb auf. Doch die meisten dieser Medien sind parteiabhängig. So entstand im Halabja Women Center die Idee, einen parteiunabhaengigen Radiosender zu gründen. Mit einer Starthilfe von Wadi, der US-amerikanischen Organisation ACDI-Voca und dem spanischen Radio Gladys Palmera wurde die Radiostation aufgebaut. Alle internen Entscheidungen über das Radio werden seitdem ausschließlich vom MitarbeiterInnenteam getroffen. Nach außen repräsentiert ein rotierendes Gremium von drei Dengue Nué-Mitgliedern das Radio.

Dengue Nué als Symbol einer neuen Generation

Die MitarbeiterInnen des Radioteams bewarben sich, als sie erfuhren, dass dieses Radio kein weiterer Parteisender ist. „So etwas hat es hier noch nie gegeben“, meint Queisar, „einen unabhängigen Sender, der zivilgesellschaftliche Strukturen schafft und unterstützt!“ Unter dem Ba’th-Regime und später unter den Islamisten waren unabhängige Radioprojekte nicht erlaubt. „Das Radio soll helfen, diese Verspätung, all die verlorene Zeit wieder aufzuholen“, erklärt Queisar. „Es soll zum Symbol einer neuen Generation werden.“ Der Schwerpunkt liegt daher auf Themen wie Umgang mit Behinderungen, Gewalt an Frauen, Gesundheit, Sexualität, der rechtliche Status der Frauen und Kampf gegen Vorurteile. 60 % der irakischen Bevölkerung sind Jugendliche. Daher ist es zur Sicherung einer friedlichen Zukunft entscheidend, gerade bei ihnen das Verständnis für demokratische Institutionen und Vernetzung durch Eigeninitiative zu schaffen. Erfan möchte Toleranz und Verantwortungsbewusstsein fördern. Das Radio soll Frauen helfen, aus dem gesellschaftlichen Gefängnis zu entfliehen.

„Das Radio ist für viele Frauen die einzige Bildungsmöglichkeit“, erklärt Hero. Auch viele Männer empfinden die traditionelle Gesellschaft als ein Gefängnis. „Wir Jugendliche haben noch viel zu tun“, sagt Heresch. Das Radio soll der Gesellschaft die Bedürfnisse und Träume kurdischer Jugendlicher zu Ohren bringen. Es sendet einen Mix aus moderner kurdischer, arabischer, persischer und englischer Musik.

Auf Ablehnung seitens der Parteien und v.a. aus den Reihen traditioneller Bevölkerungsschichten ist das Radioteam gefasst. Ein weiteres Problem ist die Meinung traditioneller Bevölkerungsschichten: Zhihan berichtet: „Ein gemischter Arbeitsplatz wird hier als ‚schlechter Ort’, und Frauen, die sich dort aufhalten als `schlechte Mädchen’, bezeichnet.“. Doch die MitarbeiterInnen wollen sich nicht einschüchtern lassen. „Ich tue alles für das Radio, denn ich tue hier etwas fuer meine Stadt!“ sagt Heresch. Insgesamt hat das Radio bis jetzt viel positives Feedback bekommen.

Zor bascha. Die Jungs helfen uns!

Auf die Frage, wie es denn nun ist, im gemischten Team zu arbeiten, antworten die Mädchen „Zor bascha. (Sehr gut). Die Jungs helfen uns!“ Jahandin erklärt: „Wir sind ein Modell dafür, dass Männer und Frauen zusammenarbeiten können. Männer und Frauen sind nicht `wie Feuer und Benzin’, wie die lokale Tradition behauptet.“ Und wie wünschen sich die jungen Männer die Zukunft der Frauen? „Ich sehe keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Frauen sollen tun können, was Männer tun, denn Frauen sind die Hälfte unserer Gesellschaft.“ Wegen dieser Einstellung wird er von manchen als Verrückter bezeichnet.

Erfan wünscht sich, mit seinen Kolleginnen abends spazieren zu können. „Bei uns liegt alles in der Hand der Männer. Das muss sich ändern. Ich bin gegen Zwangsheirat. Auch Männer fühlen sich wie im Gefängnis. Die Religion erlaubt Liebesheirat, aber die Leute missbrauchen Traditionen.“ Queisar erklärt: „Männer und Frauen ergänzen sich, aber die Gesellschaft versteht uns bisher nicht.“ Vertreter dieser Ansicht gehören im Irak zu einer Minderheit. „Das Problem unserer Gesellschaft ist, dass Männer und Frauen sich überhaupt nicht kennen. Die Gesellschaft kennt sich nicht.“


Mary Kreutzer ist Redakteurin des Multimediaprojekts Context XXI und Mitarbeiterin von Wadi. Im Frühjahr 2005 leitete sie im Irak ein Workshop für die MitarbeiterInnen von Radio Dengue Nué. Zuletzt recherchierte sie für die spanische Ausgabe von Waris Diries „Schmerzenskinder“ über FGM in Spanien.

Sandra Strobel studierte Geschichte, Französisch und Spanisch und ist Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Wadi. Zur Zeit befindet sie sich im Nordirak


erschien in: Frauensolidarität 3/2005, Schwerpunkt: Junge Frauen und Medien


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