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Europa sei Dank

Zur Entstehung und Entwicklung des arabischen Nationalismus

von Thomas Schmidinger

Der arabische Nationalismus ist als antikolonialer Befreiungsnationalismus entstanden, ein Phänomen, das es im Trikont oft gibt. Er übernahm das Nationenkonzept seiner Kolonialherren und wendete es gegen sie. Die heute bedeutendsten arabischen Staaten Ägypten, Syrien und der Irak gelangten vergleichsweise spät, mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches unter die direkte Herrschaft der Europäer.

Der wirtschaftliche, politische und kulturelle Einfluss Europas in der Region war jedoch schon früher vorhanden. So unterlagen die christlichen Minderheiten im späten 19. Jahrhundert bereits der Schutzherrschaft europäischer Mächte. Und Ägypten, das sich zum Beginn des 19. Jahrhunderts unter Muhammad Ali weitgehend selbstständig machte, geriet unter dessen Enkel Ismail nur wenige Jahrzehnte später unter britischen Einfluss.

Der nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg einsetzende europäische Kolonialismus übte in der arabischen Welt zuerst eine indirekte Herrschaft aus, indem er auf die traditionellen feudalen Eliten und lokalen Herrscher zurückgriff. Ein klassischer Siedlerkolonialismus, in dem die gesamte Elite durch europäische Zuwanderer ausgetauscht wurde, blieb auf Algerien beschränkt, das bereits im 19. Jahrhundert von Frankreich ins »Mutterland« integriert wurde.

Während sich die traditionellen Eliten mit den französischen und britischen Protektoraten weitgehend arrangierten, war es den jungen aufstrebenden Akademikern in den arabischen Städten vorbehalten, sich gegen die neuen Kolonialherren zu wenden. Die Idee einer arabischen Nation, die die alte Vorstellung der islamischen Umma als Gemeinschaft aller Muslime ablösen sollte, war besonders für religiöse Minderheiten attraktiv.

Waren Christen und Juden im traditionellen islamischen Recht nur als Schutzbefohlene (Dhimmis) geduldete Minderheiten, so konnten sich insbesondere arabische Christen in einer europäisch definierten arabischen Nation als gleichberechtigte Mitglieder wieder finden. Die arabischen Christen waren es auch, die in den vielen christlichen Schulen den leichtesten Zugang zu europäischen Sprachen und Ideologien fanden.

Es verwundert deshalb kaum, dass neben dem Gründer und führenden Theoretiker der Ba'ath-Partei, Michel Aflaq, auch eine Reihe anderer prominenter arabischer Nationalisten aus den christlichen Gemeinschaften des Nahen Ostens stammte. Der arabische Nationalismus war wie die linke Arbeiterbewegung und der frühe Islamismus in seiner Entstehung eine Antwort auf die Krise der arabischen Gesellschaften, die aus dem Zugriff der europäischen Kolonialmächte und einer damit verbundenen Umgestaltung der Ökonomien und Sozialstrukturen des Nahen Ostens resultierte.

Der frühe arabische Nationalismus orientierte sich noch überwiegend am französischen Konzept einer Staatsbürgernation. Erst mit dem Aufstieg des nationalsozialistischen Deutschland, das wegen seiner Gegnerschaft zu den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien als potenzieller Verbündeter betrachtet wurde, gelangten verstärkt völkische Konzepte in den arabischen Nationalismus, vermischten sich mit den bestehenden, verdrängten sie oder führten zur Entstehung der vom deutschen Nationalsozialismus beeinflussten faschistischen Gruppen wie der Misr al-Fatat in Ägypten, der al-Futuwwa im Irak oder der syrischen Sozial-Nationalistischen Partei.

Der Einfluss des Nationalsozialismus beschränkte sich nicht auf säkulare nationalistische Gruppen, sondern schlug sich auch in der in Ägypten von Hasan al-Banna gegründeten Muslimbruderschaft und in der vom Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, geleiteten palästinensischen Nationalbewegung nieder. Husseini kooperierte auch mit der erfolgreichsten profaschistischen Bewegung des Nahen Ostens, die mit dem Regime Rashid Alis im Irak an die Macht kam und von britischen Truppen gestürzt wurde. Diesem Sturz folgte ein von der antisemitischen Propaganda Alis angezetteltes Pogrom in der großen jüdischen Gemeinde Bagdads, bei dem 179 Menschen ermordet und 586 Geschäfte geplündert und verwüstet wurden.

Hier findet sich die ideologische Basis, auf die später die Ba'ath-Partei, die zu diesem Zeitpunkt erst am Anfang ihrer politischen Entwicklung stand, zurückgreifen konnte. Denn auch wenn die faschistischen Gruppierungen im Nahen Osten nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Europa rasch verschwinden sollten, so beeinflussten ihre ideologischen Prämissen gemeinsam mit Elementen antiimperialistischer Ideologie die späteren nationalistischen Bewegungen.

Die bedeutendsten dieser Bewegungen waren der Nasserismus, der 1952 mit einem unblutigen Militärputsch in Ägypten die Staatsführung übernehmen sollte, und die Ba'ath-Partei, die in den sechziger Jahren in Syrien und im Irak an die Macht kam. Der Nasserismus war mehr oder weniger von der Person des charismatischen Führers der »Freien Offiziere«, Gamal Abdel Nasser, abhängig. Schon unter dessen Nachfolger Anwar el-Sadat verlor er an Bedeutung.

Die Ba'ath-Partei hingegen konnte sich, wenn auch in zwei unterschiedlichen Varianten, bis heute in Syrien und im Irak an der Macht behaupten. Gemeinsam ist beiden Flügeln ein völkischer Nationalismus mit stark antisemitischen Tendenzen, allerdings hat die unterschiedliche soziale Basis auch unterschiedliche Herrschaftsmechanismen hervorgebracht.

Während die syrische Ba'ath-Partei weitgehend von den religiösen Minderheiten, insbesondere den Alewiten und Christen, getragen wird, verstand sich der irakische Flügel von Anfang an als die Partei der arabisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppe. Bereits vor ihrer endgültigen Machtübernahme im Jahr 1968 und lange vor den mörderischen Feldzügen gegen Schiiten und Kurden in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wandte sie sich gegen die religiösen und sprachlichen Minderheiten des Landes.

erschienen in: Jungle World 16 - 09. April 2003


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