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„Europa will nicht wahrhaben, dass der Islamismus mittlerweile auch ein europäisches Problem ist“

 

Thomas Schmidinger ist Politikwissenschafter und hält als Lehrbeauftragter an der Universität Wien seit 2004 Lehrveranstaltungen zu den Themen Politischer Islam und zum Irak-Konflikt. Er ist Gründer und Obmann der österreichischen Sektion der im Irak tätigen Hilfsorganisation Wadi und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für kritische Antisemitismusforschung, des österreichisch-irakischen Freundschaftsvereins Iraquna und der Österreichisch-Kurdischen Gesellschaft. Mit ihm führte Corinna Milborn, Journalistin und Autorin des Buches „Gestürmte Festung Europa. Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto“, folgendes Interview über den Islamismus in Europa.

Wie würden Sie die verschiedenen Strömungen des politischen Islam in Europa charakterisieren?

Die europäischen Strömungen des politischen Islams orientieren sich Großteils an den international vorhandenen Bewegungen. Deshalb muss ich wohl erst mit einer groben Skizzierung der international vorhandenen Strömungen des politischen Islams beginnen.

Zuerst muss hier einmal die Moslembruderschaft erwähnt werden, die eine der wesentlichen Strömungen des sunnitischen Islamismus repräsentiert. Sie hat ihren Ursprung in Ägypten wo sie von Hassan al-Banna gegründet wurde. Sie ist eine der größten sunnitisch-islamistischen Organisationen weltweit, mit Sektionen in fast allen islamischen Ländern und fast allen anderen Ländern, wo Muslime leben. Daraus entwickelten sich später eine Reihe von militanten Abspaltungen. Der Mainstream der Moslembruderschaft versucht jedoch heute in den meisten Ländern legal politisch zu arbeiten und so etwas wie eine durchaus militante – aber nicht militärische – islamistische Massenbewegung zu werden. In einigen Staaten versucht sie sich teilweise auch sich als Partei zu konstituieren. Letzteres gelingt nicht immer. In Ägypten nehmen sie zwar an Wahlen teil, jedoch nicht als zugelassene Partei, sondern mit einzelnen Kandidaten, die entweder „unabhängig“ sind, oder in den Reihen der „Arbeiterpartei“ kandidieren. In Europa ist die Strategie ähnlich: man tritt selten als Moslembruderschaft auf, sondern verschleiert dies eher, und versucht im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten oder vorhandener Parteien islamische Politik zu machen. Beispiele dafür sind etwas Tariq Ramadan oder in Wien Omar al-Rawi und Tarafa Baghajati. Die Vertreter dieser Strömung haben durchaus politische Ambitionen, versuchen diese aber in einem institutionellen Rahmen durchzusetzen. Mit Terror – woran die meisten gleich denken wenn wir vom politischen Islam sprechen – haben sie nichts zu tun. In den meisten Staaten Europas treten sie aber eben nicht einmal als Moslembruderschaft auf. Auch die von mir oben erwähnten Personen vermeiden das, in den islamisch-arabischen Communities ist ihre ideologische Zugehörigkeit aber ein offenes Geheimnis. In Deutschland, wo der Verfassungsschutz die Anhängerschaft der MB auf etwa 1.300 schätzt, sind sie mit der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) verbunden.

Mit Terror haben sie aber nichts zu tun?

Nein, die heutigen Moslembrüder haben eine völlig andere Strategie. Allerdings sind aus der Moslembruderschaft sehr wohl auch militante Gruppen hervorgegangen. Es gibt in Ägypten eine Verbindung zur Gama Islamiya, auch zum Ghihad Islami. Und einzelne nationale Organisationen sind aufgrund einer spezifischen Situation auch eigene Wege gegangen, wie etwa die palästinensische Hamas, die ja als Frontorganisation der Moslembruderschaft gegründet worden ist, Selbstmordanschläge durchführt und eine der radikalsten antisemitischen Terrororganisation innerhalb der palästinensischen Bewegungen sind. Ihr Ziel wird auch in ihrer Charta offiziell als die Vernichtung Israels formuliert. Die Hamas ist jedoch in der weltweiten Bewegung der Moslembruderschaft eher ein Ausnahmefall, da sie eine Kombination aus Terrororganisation und Massenbewegung darstellt, also trotz des Terrors gewisse Rücksichten zumindest auf die eigene palästinensische Basis nehmen muss. Die meisten anderen nationalen Organisationen der Moslembruderschaft sind entweder auf dem Weg zur legalen politischen Betätigung oder sind völlig isolierte Kleingruppen im Untergrund. Oder es existieren neben der offiziellen Moslembruderschaft, die den Weg der Legalisierung ihrer politischen Arbeit eingeschlagen hat, extremistischere Abspaltungen, die in den bewaffneten Untergrund gegangen sind, dort aber ohne Massenbasis agieren, bzw. diese auch wieder verlieren, wenn sich die Gewalt – wie etwa in Ägypten während der 1990er-Jahre – auch gegen die eigene Bevölkerung richtet.

Welche islamistischen Gruppen sind neben den Moslembrüdern noch in Europa vertreten?

Neben den Moslembrüdern wären sicher die Wahabiten in Saudiarabien und die eng damit verbundenen Salafiten als wichtigste Strömung zu nennen. Der Wahabismus ist in Saudiarabien Staatsreligion. Durch den Ölreichtum hat das Land eine ökonomisch wichtige Funktion für Islamisten, va. was die Finanzierung wahabitisch-islamistischer Propaganda weltweit betrifft. Aus dieser Tradition stammen die militärisch stärksten militanten Islamistengruppen wie etwa al-Qaida. Wahabiten sind auch in Europa vertreten – nicht nur in Form der kleinen Terrorzellen – sondern va. über Finanztransaktionen: Errichtung von Moschen, Finanzierung von islamischen Verlagen, Zeitungen, usw. Eine Verbindung zu den Moslembrüdern ist dadurch entstanden, dass zur Zeit von Gamal Abdel Nasser in Ägypten die Moslembrüder sehr stark verfolgt wurden und viele von Ägypten nach Saudiarabien ins Exil gingen, dort auf Universitäten unterrichteten und somit eine Diskursfeld zwischen Wahabiten und Moslembrüder entstand. Dies bewirkte eine wechselseitige Befruchtung und Radikalisierung.

Dann wäre da als einzelne Gruppierung noch die Hizb al-Tahrir, eine 1953 gegründete sunnitische Gruppierung die weltweit als elitäre Kaderpartei organisiert ist und als eine der wenigen großen sunnitisch-islamistischen Bewegungen offen die Errichtung eines Khalifats anstrebt. Die Partei tritt nicht als Massenbewegung in Erscheinung, sondern versucht gezielt intellektuelle Kader zu gewinnen und über diese langfristig eine kulturelle Hegemonie herzustellen.

Als vierte Strömung könnte man die indisch-pakistanischen Islamisten sehen, obwohl es sich dabei eigentlich um mehrere unterschiedliche Gruppen, wie die Deobandi-Sekte oder die Anhänger Mawdudis handelt. Diese Strömungen entstanden im Wesentlichen aus dem Problem heraus, dass sich in Indien während der britischen Kolonialherrschaft sehr viele Muslime fragten, wie sie als Muslime in einer mehrheitlich nicht islamischen Gesellschaft und nicht unter islamischer Herrschaft leben können. Diese Situation ist insofern interessant, weil sie eine ähnliche darstellt wie in Europa. In beiden Fällen haben wir eine Disapora-Situation von Muslimen unter nichtmuslimischer Herrschaft, was für eine Religion, in der die öffentliche Religionsausübung und die Organisation der Gesellschaft nach islamischen Prinzipien von großer Bedeutung ist, natürlich gewissermaßen eine Herausforderung darstellt. Unter den Moghulen hatte es in Indien ja eine mehrere Jahrhunderte dauernde islamische Herrschaft gegeben. Nachdem die Briten Indien in ihr Kolonialreich integriert hatten, war plötzlich diese islamische Herrschaft weg und die Muslime waren zwar in manchen Regionen die Mehrheit aber insgesamt waren sie die deutliche Minderheit und diese Minderheit stand nun nicht mehr unter islamischer Herrschaft. Es gab spezifische Diasporaorganisationen in Indien, die dann - wie die Deobandi-Sekte - teilweise den Islam modernisierten und gleichzeitig eine zunehmend politische Interpretation des Islam ermöglichten. Aus diesem Strang nährt sich auch die zeitgenössische Taliban-Bewegung in Afghanistan, wobei es hier wiederum eine Verbindung zu den Wahabiten gibt, die sich als Dhijadisten in den Afganistan-Krieg involvierten und dort Stützpunkte des Al Quaida-Netzwerkes gründeten. Das wäre einer der Verbindungsknoten zwischen dem indisch-pakistanischen Strang des Islamismus und dem saudischen Wahabismus bzw. Salafismus.

Für Österreich und Deutschland ist dann noch der türkische Islamismus von Bedeutung. Auch hier gibt es verschiedene Strömungen, die sich aber alle im wesentlichen aus der Abwehr der Säkularisierungsbestrebungen von Mustafa Kemal ableiten. Die Parteien des politischen Islam wurden in der Türkei immer wieder verboten. Während der verschiedenen Militärdiktaturen, aber auch während der demokratischen Phase, behielt das Militär einen stark säkularen-kemalistischen Einfluss. Die größte der Bewegungen in Europa ist zurzeit Milli Görüs. Zur Zeit ist der parteipolitisch organisierte politische Islam in der Türkei in zwei Parteien gespalten, die eher traditionalistisch-islamistische Saadet Partisi von Negmedin Erbakan und den eher liberaleren Flügel des politischen Islam, die AK-Parti des derzeitigen Ministerpräsidenten Tayeb Erdogan. Neben diesen legalen Strömungen des politischen Islam gibt es noch kleinere Untergrundgruppen, die teilweise auch für Anschläge verantwortlich sind, wie die Türkisch-islamische Befreiungsarmee (IKO), die Türkischen Scharia Rache Kommandos (TSIK), die türkische Hisbollah oder die Front der Soldaten des islamischen Großen Ostens (IBSA-C). Einige dieser Gruppen wurden in den Achziger- und frühen Neunzigerjahren auch von der türkischen Regierung selbst unterstützt, da sie als Konkurrenz gegen die kurdische PKK aufgebaut werden sollten.

Bisher haben wir nur über den sunnitischen Islamismus gesprochen. Dabei war der schiitische Iran der erste Staat, in dem Islamisten mit einer Revolution an die Macht kamen. Wie sieht es denn mit dem Einfluss schiitischer Islamisten aus?

Der schiitische Islamismus wäre dann noch ein weiterer Traditionsstrang, der sich aufgrund der „konfessionellen“ Spaltung des Islam notwendigerweise fast ausschließlich auf den schiitischen Islam beschränkt, wenn auch die schiitische Hizb Allah aufgrund ihres gemeinsamen Feindes, Israel, eine gewisse Ausstrahlung auf den sunnitischen palästinensischen Islamismus hatte. Der schiitische Islamismus bekam durch die islamische Revolution im Iran unter Ayatollah Khomeini eine gewisse Popularität in der islamischen Welt. Khomeini selbst sprach ja bewusst immer von einer „islamischen Revolution“ und betonte eher den gesamtislamischen als den schiitischen Charakter seines Regimes. Auch der schiitische Islamismus ist jedoch keine einheitliche Bewegung. Neben den Anhängern Khomeinis – zu denen auch die libanesische Hizb Allah zählt – gibt es noch den linksislamistischen Flügel der Mujahedin al-Halk, die allerdings aufgrund ihrer Kollaboration mit dem Irak unter Saddam Hussein, während des irakisch-iranischen Krieges, den Großteil ihrer Anhänger im Iran verloren haben. Im Irak gibt es neben dem eher auf iranischer Linie liegenden Hohen Rat der islamischen Revolution SCIRI auch noch den schiitischen Islamismus der Da´wa, der sich weniger an Khomeinis Konzept der „Herrschaft der Rechtsgelehrten“ orientierte, als am Konzept eines doktrinären Staats, der aber die Souveränität bei der Ummah, der Gemeinschaft der Gläubigen ließ, wie ihn Muhammad Baqr al-Sadr propagierte. In Europa ist der schiitische Islam vergleichsweise unterrepräsentiert. Zudem gingen eher säkulare und linke IranerInnen nach Europa ins Exil, während schiitisch-islamistische Iraker stärker ins iranische als ins europäische Exil gingen. Trotzdem leben in fast allen europäischen Staaten auch einzelne Mitglieder der irakischen schiitischen Parteien, wobei sich deren Aktivitäten fast ausschließlich auf den Irak beziehen. Auch die in Europa vorhandenen Gruppen von Mujahedin al-Halk aus dem Iran beziehen sich in ihren Aktivitäten überwiegend auf den Iran. In Europa politisch aktiv sind am ehesten noch die Anhänger der libanesischen Hizb Allah, die etwa in Deutschland jedes Jahr Aufmärsche zum al-Quds-Tag veranstalten und sich in ihren Propagandaaktivitäten in Europa überwiegend gegen Israel richten.

Man darf sich was den politischen Islam in Europa betrifft aber nicht zu sehr auf migrantische Muslime fixieren, denn neben diesen aus islamischen Staaten stammenden Bewegungen bekommen in Europa Konvertiten eine zunehmende Bedeutung.

Nimmt diese zunehmende Bedeutung von Konvertitinnen und Konvertiten auch organisatorische Formen an?

Als wichtigste organisierte Gruppierung sind hier etwa die Murabitun zu nennen, die eine recht krude Mischung als Islamismus und rechtsgerichteten europäischen Ideologemen vertreten. Diese Murabitun, die von einem ehemaligen schottischen Schauspieler namens Ian Dallas, der sich jetzt Shaykh Abd al-Qadir al-Murabit nennt, geführt werden, verehren neben islamischen Denkern etwa auch Ernst Jünger oder Martin Heidegger. Die Murabitun haben vor kurzem in Spanien, in Granada, ein neues Zentrum errichtet und sind als Islamische Gemeinschaft in Deutschland und mit der von Andreas Abu Bakr Rieger – ebenfalls ein Konvertit - herausgegebenen „Islamischen Zeitung“ auch in Deutschland aktiv. Die Gruppe ist nicht nur sehr aktiv. Ihre Mitglieder beherrschen die europäischen Sprachen einwandfrei und wissen um den Umgang mit Medien bescheid. Zur Zeit sind das noch zahlenmäßig kleinere Gruppen, aber ich schätze, dass die Bedeutung von Konvertiten in Europa innerhalb der nächsten Jahrzehnte steigen wird. Von diesen sind bei weitem nicht alle diesen Murabitun zuzuordnen, ja nicht einmal alle Anhänger des politischen Islams, tendentiell ist der Anteil von Islamisten unter den Konvertiten aber eher höher als unter islamischen Immigrantinnen und Immigranten und ihren Nachkommen.

Von all diesen Strömungen greifen jedoch nur wenige zum terroristischen Mitteln?

Ja, die meisten davon halten sich in Europa bislang überwiegend an die Gesetze und unterstützen höchstens Gruppen, die im Irak oder etwa in Israel Anschläge durchführen. Nicht jeder Islamist ist auch gleich Terrorist. Zunächst will er ein politisches System das vom Islam – oder dem was er darunter versteht – in irgend einer Form geprägt ist. Mit welchen Methoden er darum kämpft kann sich je nach Person, Gruppierung und Zeit unterscheiden.

Trotzdem gab es auch bereits in Europa Anschläge durch europäische Islamisten. Wie reagiert Europa Ihrer Meinung auf diesen Terror?

Unterschiedlich. Einerseits gibt es die Strategie der Verharmlosung, was die Gefährlichkeit des Islam als politische Kraft betrifft. So funktioniert etwa die Taktik der Moslembrüder sehr gut, sich in z.B. antirassistische oder globalisierungkritische Zusammenhänge zu integrieren und auf der Welle des Multikulturalismus und Kulturrelativismus zu reiten. Kritik an ihnen wird dann relativ leicht als islamophob abgetan.
Auf der anderen Seite gibt es in Europa eine lange Tradition eines „ganz normalen Rassismus“ gegen alle die „anders“ sind, sondern auch eine besondere Angst vor dem Islam. Dies reicht vor die Türkenkriege zurück bis zur Reconquista in Spanien, wo ja die christlichen Spanier die ersten dezidiert rassistischen Gesetze gegen Juden und Muslime und ihre Nachkommen erlassen wurden.

Beiden Argumentationen ist ein gewisses Auslagern von des politische Islam gemeinsam, und eine Reduktion des Problems auf ein „Migrationsproblem“ oder ein „Integrationsproblem“. Es herrscht die Meinung vor, muslimische Jugendliche seien schlecht integriert und daher würden sie zu Islamisten. So einfach ist das jedoch nicht. Natürlich sehen sich MigrantInnen einer Reihe von Problemen konfrontiert, trotzdem ist es keine logische Reaktion auf Arbeitslosigkeit und Repression Islamist oder Islamistin zu werden. Genauso gut könnte man ja Kommunistin oder Kommunist werden. Im Gegenteil: die islamistischen Kader sind entweder die allerintegriertesten Teile der muslimischen Bevölkerung Europas. Sie beherrschen die europäischen Sprachen, haben ein hohes Bildungsniveau, einen Job, Aussicht auf Karriere oder es sind gar europäische Konvertiten. Wie vorher bereits erwähnt: Konvertiten spielen eine immer größere Rolle.

Europa will nicht wahrhaben, dass der Islamismus mittlerweile auch ein europäisches Problem ist. Und dass es sich um ein politisches und ideologisches Problem handelt, und nicht um ein soziales oder Integrationsproblem, das man relativ einfach lösen könnte.

Eine der „Problemlösungen“ europäischer Regierungen besteht in der Abschiebung von Islamisten in islamische Staaten. Bei meinen Recherchen zur europäischen Migrationspolitik wurde unter anderem deutlich, dass rassistische Diskurse über Migrantinnen und Migranten oft mit Sicherheitsdiskursen über Islamisten verbunden werden. Das erleichtert dann die Abschiebung des Problems.

Das ist Teil der Exterritorialisierung. Wenn man das Problem nur als Migrationsproblem wahrnimmt, dann ist es naheliegend, dass die Lösung lautet, das Problem abzuschieben, und zwar dorthin, wo es vermeintlich herkam. Diese Strategie ist aber falsch und nicht zielführend. Der sogenannte „Khalif von Köln“ wurde ja von Deutschland in die Türkei abgeschoben. Seinen Sohn, der in die selben Fußstapfen zu treten scheint, kann man nicht mehr abschieben, denn er ist in Deutschland aufgewachsen und ist deutscher Staatsbürger. Wohin will man deutsche Staatsbürger abschieben? Oder soll man ihnen die Staatsbürgerschaft wieder wegnehmen? Das wäre eindeutig eine rassistische Staatsbürgerschaftspolitik und würde einen Bruch mit den Gleichheitsansprüchen der Französischen Revolution bedeuten. Einmal abgesehen von der Nicht-Administrierbarkeit eines solchen Vorgehens halte ich solche Strategien tatsächlich für rassistisch. Deutsche Nazis kann man ja auch nicht irgendwohin abschieben.

Gibt es dann nach den Anschlägen in London und Madrid überhaupt sinnvolle Strategien der EU im Kampf gegen den Terror?

Man kann das Problem ja nicht auf den Terror reduzieren. Wir haben es aber auch und überwiegend mit einem politischen Problem zu tun. Terror ist ja primär eine Strategie und noch keine Ideologie und diese Methode gab es ja leider auch schon in unterschiedlichen politischen Strömungen.

Dann sprechen wir über das politische Problem das den Terror hervorbringt. Wie kann mit diesem umgegangen werden?

Die säkularen, laizistischen Kräfte in Europa – die sind nicht identisch mit den „alteingesessenen Europäern“ sondern da gibt es auch zahlreiche unter den Migrantinnen und Migranten und sehr viele der „alteingesessenen Europäern stehen ja gerade nicht für diese Werte ein, sondern für totalitäre oder religiöse Ideologien ein - müssen sich ihrer eigenen Werte bewusst werden, diese formulieren und verteidigen. Gemeinsam, die die schon lange in Europa sind mit jenen, die in den letzten Jahrzehnten dazugekommen sind. Dazu bedarf es einer Stärkung säkularer, linker, liberaler, feministischer Migrantinnen und Migranten aus islamischen Ländern, die in Europa leben. Man darf sich nicht vor der Auseinandersetzung, vor dem Streit mit dem Islamismus fürchten. Man muss den zugeworfenen Fehdehandschuh aufnehmen und ihnen öffentlichen entgegentreten. Es ist fatal, die Lage zu verharmlosen und Islamisten in ihrem Refugium tun und walten lassen während sich Europa taub, stumm und blind stellt. Sicherheitstechnisch muss natürlich jeder Anschlag verhindert werden, aber primär ist der Islamismus als Ideologie, als Bewegung, kein polizeiliches Problem sondern ein politisches, dem man politisch entgegnen muss. Dazu muss man die Islamisten auch ernst nehmen, mit ihnen direkt ohne Angst aber auch ohne rassistische Überheblichkeit, streiten. Dringend vonnöten wäre eine Debatte über Staatlichkeit und Gesellschaft in Europa. Solange sich Europa dieser durch die islamistische Herausforderung aufgezwungene Debatte verweigert, wird damit säkulare Staatlichkeit untergraben.


Artikel erschienen in Israel-Nachrichten (Tel Aviv), 20. Oktober 2006


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