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"Ernüchterung hat sich breit gemacht"

Leben im Nordirak

Interview mit Sandra Strobel, WADI e.V.

Sandra Strobel ist Mitarbeiterin der Hilfsorganisation WADI, die sich vor allem im kurdischen Norden des Irak engagiert. "Die Situation der Menschen dort hat sich seit 2003 verbessert", sagt sie. Trotzdem hat sich Ernüchterung breit gemacht, denn die Folgen von Verfolgung und Vertreibung sind immer noch spürbar.

Frau Strobel, Sie waren im Dezember 2005 im Irak das letzte Mal im Irak. Wie geht es den Menschen heute?

Sandra Strobel: Die Menschen im Nordirak haben mehr als 40 Jahre Krieg, Mord und Vertreibung hinter sich. Deshalb sind sie über den Sturz Saddam Husseins natürlich glücklich. Ihr Lage allerdings ist immer noch schwierig: Die Strom- und Wasserversorgung ist sehr schlecht. Selbst in Suleymaniah, der modernsten Stadt Nordirak, haben die Menschen nur unregelmäßig Strom, oft nicht mehr als drei Stunden am Tag. Es gibt außer in den großen Städten kaum Krankenhäuser und wenig Schulen. Dazu kommt: Noch liegen über zwölf Millionen Minen allein im Nordirak. In manchen Dörfern fehlen zwei Dritteln der Bevölkerung irgendwelche Körperteile, weil sie sich an einer Mine verletzt haben. Die Minenräumung ist von den Vereinten Nationen begonnen worden – aber inzwischen hat die Zentralregierung diese Aufgabe übernommen. Und die hat einfach zu viel zu tun, um sich darum zu kümmern.

Können die Menschen ausreichend versorgt werden?

Verglichen mit der Situation vor der Befreiung hat sich die Lage für die Kurden im Nordirak eindeutig verbessert. Es gibt endlich wieder genügend Lebensmittel, denn die Bevölkerung hat ja jahrelang unter dem Embargo gelitten. Trotzdem gibt es große Unterschiede zwischen Stadt und Land: Auf dem Land ist vor allem die medizinische Versorgung sehr schlecht. Deshalb sterben die Menschen an ganz einfachen Krankheiten, z.B. an Infektionen, Durchfallerkrankungen oder Schlangenbissen. Viele Frauen und Säuglinge überleben die Geburt nicht – nur, weil das nächste Krankenhaus oder der nächste Arzt zwei oder drei Stunden entfernt sind. Und selbst im Krankenhaus kann vielen nicht geholfen werden – weil Ärzte. Apparate und Medikamente fehlen. Dazu kommt eine sehr hohe Arbeitslosenquote, die dazu führt, dass die Familien kein Geld haben, ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Wie ist die Sicherheitslage?

Für die Kurden ist die Lage im Nordirak heute zumindest wesentlich besser als unter der Saddam Husseins. In Suleymaniah, wo wir viel arbeiten, ist es relativ ruhig – für irakische Verhältnisse. Es gab im Oktober terroristische Attentate auf die Zivilbevölkerung und Politiker. Aber in Mossul, wo Saddam Hussein viele Anhänger hatte, ist es bis heute sehr gefährlich. Ich habe noch keinen Nordiraker getroffen, der nicht Angst hat, sich dort zu bewegen. Hier im Westen wird nicht wahrgenommen, dass sich die Attentate und die Bomben ja vor allem auch gegen die eigene Bevölkerung richten. Und die Kurden wünschen sich nichts so sehr wie endlich Frieden und ein normales Leben.

Wie gehen die Menschen damit um, im Alltag ständig mit diesen Gefahren konfrontiert zu sein?

Die Menschen in Kurdistan haben 40 Jahre Krieg, Flucht und Vertreibung erlebt. Die kurdischen Kinder haben nie etwas anderes kennen gelernt. Für die Menschen ist es Alltag – sie können nicht weg, müssen sich also damit arrangieren. Ein gewisser Fatalismus scheint da durch, nach dem Motto „Uns hilft ja eh’ keiner“. Natürlich passen die Menschen ständig auf – jeder, der unbekannt ist, wird registriert. Es gibt nach wie vor sehr viele Polizisten und Straßensperren, man ist quasi ständig auf der Hut.

Macht diese ständige Anspannung auf Dauer nicht krank?

Ich bin mir sicher, dass sie krank macht – auch wenn es momentan dazu noch keine Untersuchungen oder Studien gibt. Allerdings standen die Menschen auch bis zum Sturz Saddam Husseins unter dieser ständigen Anspannung. Erst jetzt können die Menschen beginnen, dies zu verarbeiten und erst jetzt besteht die Möglichkeit, dass sich lokale Organisationen herausbilden, die diese Themen in Angriff nehmen. Allerdings war ich schon schockiert, dass es zum Beispiel in Halabdja...

... der Stadt, in der Saddam Hussein 1988 bei einem Giftgasangriff 3.000 bis 5.000 Kurden tötete und 10.000 verletzte...

... keinerlei psychologische Hilfe für die Menschen gibt. Zwei Drittel der Stadt sind durch den Giftgasangriff unmittelbar oder als Folge ums Leben gekommen. Und trotzdem gibt es bis heute niemanden, der sie betreut.

Im Dezember 2005 ist das erste reguläre Parlament gewählt worden. Verbinden die Menschen damit Hoffnung auf eine bessere Zukunft?

Auf der einen Seite ja: Am Wahltag sind die Menschen voller Stolz und mit Freude in ihren besten Kleidern in die Wahllokale geströmt. Auf der anderen Seite kam auch schnell die Ernüchterung: Die Wahllisten, die aus Bagdad kamen, waren nicht vollständig, es gab viele Menschen, deren Namen sich dort nicht fand. Das hat zu Unmut geführt und zu dem Eindruck, dass die Menschen im Nordirak schon wieder betrogen werden sollen. Ingesamt hat sich nach den großen Hoffnungen, die es 2003 gab, die Ernüchterung breit gemacht, denn die Menschen haben sehr viel von dieser Demokratisierung erwartet.

Laut Verfassung müssen im Parlament auch 25 Prozent Frauen sitzen – das ist nicht nur für ein arabisches Land eine hohe Quote. Verändert das die Situation der Frauen?

Insgesamt ist die Situation der Frauen in Kurdistan nicht so extrem wie in anderen arabischen Ländern. Hier wird generell sehr viel Wert auf Bildung gelegt. Und hier fängt das Problem an: Die jahrelange Verfolgung, Flucht und Vertreibung hat nicht nur Bildung unmöglich gemacht, sie hat auch andere Konsequenzen: Aus Armut schicken Eltern – wenn überhaupt – nur noch ihre Söhne in die Schule. Mädchen werden so früh wie möglich verheiratet – möglichst an ältere Männer. Gleichzeitig haben wir ein neues Phänomen kennen gelernt: Den so genannten Frauentausch. Traditionell müssen Männer einen gewissen Wohlstand mitbringen, um heiraten zu können. Die meisten aber sind durch den Krieg arm, deshalb tauschen Freunde und Familien ihre Mädchen untereinander – auch gegen deren Willen. Die Analphabeten-Rate unter Frauen und Mädchen ist sehr hoch und es fehlen grundlegende Kenntnisse zum Beispiel was den eigenen Körper oder die Gesundheit angeht. In dieser Situation ist eine Diskussion über die Frauenquote einfach zu abstrakt.

Das heißt, die Verfassung ist der Realität voraus?

So könnte man das sagen. Die Frauen kommen schon mit zum Wählen – aber ihre Bedürfnisse fangen viel weiter unten an. Der reine Kampf ums Überleben hat so viel Energie in Anspruch genommen, dass keine Zeit da war, um über Frauenrechte, Zwangsheirat oder Beschneidung nachzudenken. Erst jetzt bilden sich langsam Gruppen und Organisationen heraus, die sich mit diesen Themen befassen und dann auch Ansprechpartner für Frauen werden.

Sie sind mit mobilen Einsatzteams vor Ort. Wie reagieren die Frauen auf Sie?

Die Besuche werden allgemein sehr positiv aufgenommen – was auch daran liegt, dass wir hauptsächlich mit lokalen Mitarbeitern arbeiten. Die mobilen Einsatzteams bestehen aus einer Ärztin, einer Krankenschwester und einer Sozialarbeiterin. Für viele Frauen – gerade in den ländlichen Gegenden – ist das zum Beispiel der erste Arzt, den sie in ihrem Leben sehen.
Insgesamt sind die Menschen im Nordirak dem Westen gegenüber sehr aufgeschlossen. Das Faszinierende ist: Die Mädchen und Frauen haben letzten Endes die selben Wünsche und Träume wie bei uns auch. Mir wurde letztens von jungen Mädchen gesagt, dass sie gerne ein Schwimmbad hätten und Sportunterricht

Und wie reagieren die Männer darauf, dass Sie die Frauen so unterstützen?

Es klingt komisch: Aber auch die sind oft dankbar über unsere Aufklärung, z.B. was die Beschneidung angeht. Denn es herrscht einfach ein eklatanter Mangel an Aufklärung. Ich finde es sehr interessant, dass sich extrem viele Männer in unserer NGO beim Thema Beschneidung engagieren. Und wie gesagt: Die Kurden sind insgesamt sehr bildungshungrig. Es gibt gerade in den Städten viele Väter, die ihre Töchter auf gute Schulen schicken, alle wollen Englisch lernen. Die Internetcafés schießen aus dem Boden und die Satelliten auf den Dächern zeigen auch nicht gerade nach Mekka.


Das Gespräch führte Susanne Amann


Das Interview ist auf arte tv am 14.März 2006 gesendet worden


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